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Sepp Mall richtet in "Wundränder" seinen Blick auf das Südtirol der 1960er Jahre.

Südtirol in den 1960er Jahren - eine "schwierige" Zeit, wie es im Klappentext heißt; jedenfalls eine mit politischen Unruhen, Gewaltakten und Intrigen. Davon erzählt Sepp Malls neuer Roman jedoch nur am Rande. Er verwendet eine Art Kippfigureneffekt: Im Mittelpunkt stehen nicht die beiden in die Anschläge verwickelten Männer, sondern jene Personen, die mit den Folgen der Ereignisse ratlos und überfordert zurückbleiben.

Da ist der kleine Paul, dessen Vater sich eines Tages "in Luft aufgelöst" hat. Paul interessiert sich eigentlich nur für Fußball, ein bisschen noch für die dicke Stella, und versteht absolut nichts von den Dingen, die mit der Verhaftung des Vaters in die Familie einbrechen. Er steht den Ereignissen völlig fassungslos gegenüber: das Durcheinander nach der Hausdurchsuchung, die Gesprächsfetzen, die er in der Folge aufschnappt, der nicht zu stoppende Tränenregen der Mutter, schließlich der Umzug in das billigere Italienerviertel. Pauls ältere Schwester Maria versucht sich auf ihre Weise der Familienkatastrophe zu entziehen. Sie, deren Vater für die Autonomie Südtirols gegen die italienische Verwaltung kämpfte, zieht mit den italienischen Soldaten der nahen Kaserne herum. Doch der Vater wird davon nichts erfahren, auch nicht von den "Verräter"-Schmierereien an der Hauswand. Denn als er nach einem Jahr zurückkommt, ist er ein gebrochener Mann, der das Haus nicht mehr verlässt - bis zu dem Tag, an dem er sich zu Tode stürzt.

Blick des Jungen

Im Blick des kleinen Jungen, der die Welt allenfalls von seinem gleichaltrigen Freund Herbert erklärt bekommt, reduziert sich das politische Geschehen auf die Spuren und Einschnitte, die es im Familienalltag hinterlässt. Paul versucht krampfhaft, sich die Realität vom Leibe zu halten; zum Beispiel mit Fußballfantasien, die am Tag des väterlichen Begräbnisses in einen schweren Autounfall münden.

Verletzt und verstört trifft Paul im Krankenhaus auf die Protagonistin des zweiten Erzählstranges, die junge Krankenschwester Johanna. Sie hat ihren Bruder Alex verloren, mit dem sie eine symbiotische Beziehung verband. Von klein auf fühlt sie sich als Beschützerin ihres Bruders, der stotternd mit der Welt und vor allem mit den gewalttätigen und verständnislosen Eltern nicht zurecht kam. Sie nimmt ihn mit in die Stadt, wohnt mit ihm in einer kleinen Wohnung, bringt ihn als Elektrikerlehrling unter. Bis sie ihn dann, ohne das geringste zu ahnen, an die Attentäter verliert - zunächst nur in Form unregelmäßiger Absenzen. Eines Tages kommt er dann bei einem Sprengstoffanschlag selbst ums Leben.

Dass Johanna im Schlusstableau in Paul einen temporären Ersatzbruder findet, wirkt ein wenig konstruiert, und auch sonst ist das Buch nicht frei von Pathos. "Ja, sagt Alex, unser schönes Land. Einfach so, die Worte purzeln über seine Zunge und er lacht und seine Augen blitzen und mein Herz springt", so beschreibt Johanna den einzigen stotterfreien Satz, den wir von Alex zu hören bekommen. Die Szene spielt bei einem Sonntagsausflug, nachdem Paul Anschluss an die Verschwörer gefunden hat bzw. diese ihn, den geschickten Bastler, für ihre Zwecke instrumentalisieren. Bei seinen sozialen Defiziten war er zweifellos ein williges Opfer.

Mitunter verirrt sich der Autor im Dickicht der Sprachbilder, wenn er immer wieder den "Silbenbefreiungskampf" des jungen Alex metaphorisch mit den politischen Ereignissen verschränkt. Die Versuche des stotternden Kindes, "sich freizukämpfen ... von den Fesseln, die die Wörter abschnüren", werden mit solchen Formulierungen etwas zu stark an seinem tragischen Tod festgezurrt.

Was Sepp Mall gut gelingt, ist die Darstellung der Verstörung und der Schwierigkeit, den gewaltsamen Verlust eines nahen Menschen zu bewältigen, wenn damit auch das Leben des Verstorbenen unbegreiflich wird. Verpackt sind in den beiden Erzähl-ebenen auch zwei Fallstudien zum Geschwisterverhältnis - ein Thema, das den Autor schon in seinem ersten Prosaband "Brüder" (1996) beschäftigt hat.

Wundränder

Roman von Sepp Mall

Haymon Verlag, Innsbruck 2004

173 Seiten, geb.,e 17,90

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