6701369-1963_31_12.jpg
Digital In Arbeit

Versuch einer Deutung

Werbung
Werbung
Werbung

GLÜCKLICHE TAGE UND ANDERE STÜCKE. Von Samuel Beckett. Bibliothek Suhrkamp, 98. Frankfurt am Main, 1963. 150 Seiten. Preis 4.80 DM.

Die schwere Aufgabe, Mensch zu sein, ist wohl in keiner Zeit so schwer zur Last und zum Problem geworden wie in der sogenannten Neuzeit. Denke wir zurück und betrachten wir die geistig-kulturelle Entwicklung der Selbstinterpretation des Menschen in unserer Tradition, so scheint auch hier, wie in vielen anderen, die große und gleichzeitig tragische Stärke des Menschen zu Anfang unserer Tradition, bei den Griechen, gelegen zu haben. Jedenfalls war nie die Angst und Unsicherheit vor sich selbst, die Kleinmütigkeit so stark und auch in den gebildeten Schichten so weit verbreitet wie heute. Nur von diesen Erwägungen aus ist es möglich. Samuel Beckett und seine Stücke zu interpretieren, denn das Stammtischepigonengeschwätz über die große Entdeckung des Absurden in der menschlichen Existenz ist wiederum nur eine Ausgeburt der Mutlosigkeit und Unfähigkeit einer bewußten Bestimmtheit unseres Tuns. Sie scheitert im wesentlichen an dem Gedanken des Todes.

Ganz bewußt ist dies der Ausgangspunkt aller Stücke Becketts: das Nahen des Todes. Gemessen an ihm und bezogen auf ihn ringt Beckett um eine wirkliche, ehrliche Beurteilung unseres menschlichen Daseins. Aber es ist nicht mehr der Heroismus und das tragische Aufsichnehmen des Todes nach einem sittlich erfüllten Leben, wie wir es bei den Griechen finden. Bei Beckett ist der Mensch unendlich viel kleiner, wurmartiger. Seine Personen sehnen sich zurück in die vormenschliche, tierische Existenz, sie wollen dem Menschsein entfliehen. Sie versuchen, die Grenze des Jenseits „von Gut und Böse“ zu überschreiten. Aber wie eine „Erbsünde“ lastet auf ihnen das Anderssein gegenüber der gesamten übrigen Schöpfung. Sie sind verdammt — Beckett kennt nur diesen Aspekt — Denkende zu sein, sie sind verdammt, von ihrem eigenen Tod zu wissen, und dieses ist es, was sie so unendlich einsam macht.

In einer großartigen Bildsprache steigert Samuel Beckett die ausweglose Situation bis an die Grenzen des Erträglichen. Es ist grausam, Menschen auf tierische Funktionen reduziert, sich bewegen zu sehen: sie kriechen über die Bühne oder sind gar wie Pflanzen in die Erde verwachsen. Aber das „Zurück zur Natur“, in die vormenschliche Existenz, ist nicht möglich. Und auch dieses zeigt Beckett in grausamer Offenheit: wir müssen denken, denken, denken ... Und als Denkende sind wir immer einzelne, sind so allein, daß nur noch unsere eigene Stimme, oder ist es nur der Gedanke, widerhallt: „Du wirst mit deiner Stimme ganz allein sein, es wird in der Welt keine andere Stimme geben als dejnej“ Niemals gibt es ein anderes Entkommen aus unserem Menschsein als durch den Tod, aber auch da ist es fraglich, ob es sich um ein Entkommen handelt.

Wenn man persönlich auch glauben mag, daß solche Darstellungen von Reduktionismen, selbst wenn sie großartig künstlerisch gestaltet werden, weit hinter dem der Kunst Möglichen zurückbleiben, so muß man doch zugestehen, daß die Radikalität der geschilderten Situationen, selbst noch in der Monotonie der immer gleichen Thematik bei Beckett, fasziniert. Und vielleicht ist es für uns heute nötig, das Totalexperiment des menschlichen Lebens durch eine völlige, absolute Verneinung unserer selbst als Menschen zu versuchen, um im Scheitern für eine Selbstbestimmung wieder neuen Mut zu schöpfen. Vielleicht finden wir über diese Negation, die letztlich undurchführbar bleiben muß, wieder zurück zu der Würde und Wärme menschlichen Lebens, was aber nicht nur künstlerisch betrachtet, sondern gelebt sein will.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung