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Versuche zur Lebensgestaltung in Frankreich

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Es war nicht von ungefähr, daß sich auf den heurigen Salzburger Hochschulwochen ein besonderes Interesse Frankreich zuwandte. Die im Guten wie im Schlechten beispielgebende Funktion des Franzosen-tums für die geistige Gesundheit Europas fand eine ausgezeichnete Interpretation in zwei Vertretern der westlichen Bildung. Genauer gesagt, waren es zwei Männer aus dem alten burgundischen Zwischenland, aus der rheinischen Völkerbrücke, wo gallischer Esprit und germanisches Gemüt sich seit Jahrhunderten fruchtbar begegnen. Staatsminister a. D. Professor Dr. P. Frieden. Luxemburg, und Msgr. J. Fischer, Straßburg, sprachen über Aufstieg und Niedergang der christlichen Bildungsidee in Frankreich und über die neuen Wege der Christianisierung in diesem Lande, das einst den Titel der ältesten Tochter der Kirche mit seinem Namen verband.

Während sich der luxemburgische Kul-turpölitiker mehr den christlichen Erblinien zuwandte, wie sie auch im säkularisierten Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts fortleben, zeichnete der elsässi-sche Priester ein fesselndes Bild von der Missionierung in einer weithin heidnisch gewordenen Nation. — . In der Natur des Themas lag es, daß das aktuelle Anliegen bei Msgr. Fischer zum starken Ausdruck kam. Zwar mußte sich auch Fischer mit der Vergangenheit befassen. Es war die tiefgehende Selbsterkenntnis, die der zeitgenössische französ'sche Katholizismus durchmacht, eine Kritik, die nicht bloß eine gtistesgeschichtlichc und existenticll-christ-liche ist, sondern auch die Methoden der aktiven christlichen Volksbildung der bürgerlichen Zeit einbezieht. Dieser letztere pädagogische und pastorale Zuschnitt des Problems mündet in die Frage: Warum hat auch der neuzeitliche Katholizismus, der die Bedrohung durch eine g 1 a u b e n s f e i n d 1 i c h e Gesellschaft und eine kulturkämpferische Staatsraison voll erfaßte und zu parieren suchte, so wenig Erfolg gehabt? Die fast einhellige Auffassung der führenden Seelsorger in Frankreich lautet dahin, daß der sogenannte Vereinskatholizismus dem massiven antiklerikalen Angriff, wie er mehrere Jahrzehnte hindurch gegen die alte Kirche anstürmte, zwar die Spitze abgebrochen und die Schar der Getreuen nicht noch weiter ha* schrumpfen lassen, daß er aber keinen bleibenden oder gar schöpferischen Ertrag eingebracht habe. Die französische Kirche der Vorkriegszeit hat zwar die Einzelbeziehung zum Gläubigen noch pflegen können, aber die Lebensgebiete, besonders Wirtschaft, Staat, Erziehung, Kunst, nicht mehr mit ihrem Atem erfüllen können. Außerdem litt diese im Rahmen der liberalen Demokratie wirkende kulturelle Arbeit sn einer gewissen

Zweideutigkeit. So bot man der Jugend beispielsweise Sport, in Wirklichkeit aber wollte man ihr religiöses Bedürfnis wecken und pflegen. Auch zersplitterten sich Seelsorger und Volksbildner am Vielerlei der Vereine und Gruppen, die öfter bis zu 30 an die ohnedies so schwache Pfarreinheit angesellt waren. Heute hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß die Kirche auf dem Gebiet der weltlichen Kulturpflege von vornherein von der säkularisierten Konkurrenz geschlagen wird, abgesehen davon, daß diese ganze indirekte Seelsorge nur ein vordergründiges Ziel darstellt und das hintergründige, eigentliche Anliegen schon infolge der Überlastung des Priesters mit Nebenaufgaben zu kurz kommen läßt. Vor allem aber dringt die gläubige Erkenntnis durch, daß mit solchem Minimalchristentum, das nur als Annex weltlicher Kulturpflege aufscheint, für die Missionsaufgabe der Kirche wenig erreichbar ist. Auf solchem Boden wachsen keine Apostel.

Das missionarische Unvermögen wurde am stärksten unter der Arbeiterschaft empfunden. Von dort kam auch der erste Gegenstoß. Große Teile der französischen Industriebevölkerung stehen außerhalb des Christentums. Die christliche Verkündigung hat zu Millionen Menschen keinen Zugang mehr. Daneben besteht jener noch größere Bevölkerungsteil, der eine vorwiegend nur noch äußere Beziehung zur Kirche aus lückenhaften Traditionsresten hat. In vielen umfangreichen Pfarreien zählt man fünf bis sechs Prozent praktisch tätige Katholiken. Erst ein dritter, zahlenmäßig jedoch gerin-' ger Bevölkerungsanteil, lebt oder ringt zumindest aus der Kraft der christlichen Religion.

Die aus Belgien stammende und rasch nach Frankreich verpflanzte vielgenannte Jeunesse ouvriere chretienne ist die bedeutendste Gruppe unter den aktiven Missionskaders.

Die'Bewegung entbehrt nicht der Mystik. Die moralische Solidarität befreit den einzelnen Tatchristen im heidnisch gewordenen Industriearbeitsleben vom lähmenden Gefühl der Isolierung. Es werden Inseln gebildet, die sich Stück um Stück vereinigen. Die Bewegung ist kernchristlich, aber nicht spiritualistisch. Landjugend und studentische Jugend, um diese beiden herauszugreifen, sind in ähnlicher Weise organisiert, wenn sie auch zahlenmäßig hinter der Arbeiterjugend zurückstehen.

Zu den mouvements specialises tritt nun ein neuer Priestertyp ergänzend, hinzu. Infolge der deutschen Invasion gerieten auch Priester in die deutschen Arbeitslager. Nicht wenige gingen aber auch freiwillig mit, um ihren Landsleuten in der

Fremde beizustehen. Manche haben dort ihr Leben eingebüßt. Die Zurückgekehrten blieben teilweise auch im französischen Heimatland Arbeiter unter Arbeitern. Sie tragen die blaue Hose, den Arbeitskittel, die Holz-schuhe und gehören der Gewerkschaft an. Diese Priester leben wie jeder andere Arbeiter, manche von ihnen bekleideten vordem angesehene Stellungen auch im bürgerlichen Leben. So wirkt ein bekannter Dominikaner unter den Dockarbeitern von Marseille, der früher Advokat war. Es wiederholt sich das Bild der urchristlichen Gemeinde. Das Beispiel des Zcltwebers Paulus findet moderne Nachfolger. Die Arbeitskameraden wissen, daß ein Priester unter ihnen ist. Sie kommen zu ihm in seine Arbeiterwohnung, plaudern oder essen zusammen, und abends, nach Arbeitsschluß, wird dann die heilige Messe im Zimmer der Arbeiterwohnung gelesen. Die Ergebnisse sind verschieden. Manche Geistliche kehren nach einigen .fahren aus dieser ihrer Tätigkeit als Arbeiterpriester wieder zurück, aber die Bilanz ist bis heute positiv. Es gilt nichts Geringeres, als die Gegenwart Christi in einer heidnischgewordenen Umweh sichern. An manchen Stellen bildet sich ein reguläres Katechu-menat mit oft mehreren hundert Seelen. Ein heldenmütiger Missionsgeist wohnt in diesen wahren Hirten. Sie leisten Doppeltes, die körperliche und die priesterliche Arbeit. Besonders sei auch nicht übersehen, daß der Priester nicht bloß die standesgemäße Lebensweise um des Evangeliums willen verläßt, sondern auch die moralische Selbstsicherung freiwillig preisgibt, die schon alleifi mit dem geistlichen Gewand und mit der Herauslösung des Geistlichen aus dem Erwerbsleben gegeben ist. Es sind paulinische Seelen, diese Kohlenträger, Transportarbeiter, Mechaniker, Dreher, die in der kargen Behausung, am bescheiden beleuchteten Opfertisch, vor ihren Arbeitskameraden die Wandlungsworte Christi sprechen.

Auch eine neue Seminarbildung wächst auf. Eine Pflanzstätte für Priesternachwuchs der inneren Mission hat sich in Lisieux gebildet. Alle theologischen Fächer sind dort grundsätzlich pastoral durchwirkt, nach zwei Jahren geht jeder Alumnus in einen Fabriksbetrieb, vielleicht auch in ein kaufmännisches Geschäft. Die Methoden fm Seminar sind an keine festen Regeln gebunden. Die Erfahrung diktiert das Verfahren. Alles ist im Fluß. In wacher F.lasti-zität sollen sich die besten Methoden allmählich selbst herauskristallisieren. Die “Konkretisierung der Evangelisation steht obenan. L'incarnation chrcticnnc — „christlich Menschwerdung“ heißt das wichtigste Leitgesetz. Mit 30 Alumnen begann dieses Seminar der inneren Mission, inzwischen sind es sechzig geworden. Nach erteilter Weihe gehen die einzelnen, oft zu mehreren, in die entchristlichten Bevölkerungszentren und leben dort eine vita communis. Das neue Seminar will auch den einzelnen Diözesen helfen, den teilweise so empfindlichen Priestermangel auszugleichen.

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Dem Idealismus der Priester will der Enthusiasmus der Laien nicht nachstehen. Die aktivistischen Bewegungen unter der Jugend sind, wie oben angedeutet, ja wesentlich von Laien getragen. Der Priester ist in diesen mouvements specialis nur Priester, dies aber ganz. Das Vertrauen der Kirchenführung in die Laien ist groß. Den Laien werden sogar ausgesprochen seelsorgerische Aufgaben übertragen. So bilden sich neue Formen der Volksmission heraus, besonders im nordfranzösischen Industriegebiet. Dort werden Laien planmäßig geschult, um, wie einst die Diakone der Urkirche, das Wort Gottes dort zu verkünden, wo der Priester nicht oder nicht mehr gehört wird. Diese neuen Wege der Volksmission mit Laienpredigern zeigen gute Erfolge. Eine solche Volksmission gliedert sich von vornherein in zwei Richtungen, die Veranstaltungen für die Gläubigen finden in der Kirche statt, die parallelen Veranstaltungen für die Ungläubigen in Gasthäusern, Sälen, Betriebsräumen und gegebenenfalls auf freien Plätzen..

Das sind in wenigen Umrissen einige Hauptzüge des neuen Bildes der inneren Mission und christlichen Volksbildung in Frankreich. Das Stadium des Experiments ist überwunden, die neuen Praktiken haben sich bewährt, die aktiven Kolonnen gewinnen Stück, um Stück Boden; nichts ist endgültig, nichts wird vorzeitig verallgemeinert, die lebendige Begegnung entscheidet.

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