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Verwandlung zur Gerechtigkeit

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Er sei ein prähistorischer Landsmann, da er väterlicherseits aus Breslau stamme, erklärte mir mein junger Reisebegleiter aus Buenos Aires, Dr. med. Juan Montalva. In Santiago de Chile sind wir aufgestiegen. Angeblich haben wir jetzt vor uns den südamerikanischen Himalaja. Unsere herrliche Super-Constellation fliegt bereits fünftausend Meter hoch. Aber das „Matterhorn der Anden“, der 7000 Meter hohe Aconcagua, hat sich in Wolken versteckt. Nur der Kaffee in unserer Tasse verrät den grandiosen Sprung von der Küste des Pazifiks herauf. Wir politisieren, er spanisch, mit Hybriden-Deutsch vermischt, ich portugiesisch, schwäbisch veredelt. Wir sprechen von der jüngsten Erdbebenkatastrophe in Chile.

„Das verwüstete Gebiet beträgt ein Drittel des Landes“, sagt Signor Montalva, „die Küste konnte ich nicht wiedererkennen. Die Naturkatastrophe scheint mir noch gewaltigere Erdbeben anzukündigen.“ Dr. Juan war vor acht Jahren als gläubiger Stalinist auf der Leningrader Universität mit dem Ergebnis, daß er sich heute zum Titoismus bekennt. Doch was bedeutet die kleine goldene Madonna, die aus seinem offenen Hemd schaut? „Sie meinen den Kommunismus?“ i

„loh meine den Marxismus.“

Ich wies auf die Anstrengungen der westlichen Welt hin, den unterentwickelten Ländern zu helfen. „Wissen Sie, daß die Industrieländer, wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien, große Opfer bringen?“

„Opfer? Auch Adenauer?“ fragte er spöttisch.

Die deutschen Leistungen können sich wohl sehen lasssen. Die Bundesrepublik hat der Weltbank einen Betrag von insgesamt 3,5 Milliarden D-Mark zur Verfügung gestellt; sie ist nach den USA der größte Geldgeber der Weltbank.“

„Lassen wir die Zahlen, Dr. Frederico! Ich kenne auch die Zahlen der Militärhilfe der Amerikaner, welche die früheren und restlichen Diktatoren Lateinamerikas außerordentlich zu schätzen wissen. Unser Staatspräsident, Frondizi, ist nicht von meiner Farbe, er ist ein Jongleur, abetoWlKWte den^uf^Efs^iBo^ fnfeufordern, diese Waffenlieferungen einzustellen.“

Däf Thema war m^'rfichFneü; Alle WWrM unten weiß, daß Fidel Castro, als er in den Dschungeln von Kuba die Fahne der Revolution erhob, gegen einen Diktator kämpfte, der mit US-Waffen ausgerüstet war. „Und dann werden Sie sagen“, fuhr Montalva fort, „Amerika hat dieses Jahr eine Milliarde Dollar für die Interamerikanische Bank gestiftet.“

„Stimmt!“

„Lange genug haben die Lateinamerikaner auf allen Konferenzen sie gefordert.“

„ ... und endlich erhalten“, erwiderte ich.

„Aber niemand ist darüber zufrieden. Die Gelder sind alle mit militärischen Bedingungen gekoppelt. Wissen Sie, Dr. Frederico, daß die Weltbank, die Mutterorganisation jener Bank, rigorose finanzielle Sicherheiten forderte?“

„Hätten sie die Milliarde Dollar ohne Bedingungen und Verpflichtungen gewähren sollen, ja? Dann wären die Lateinamerikaner vielleicht Freunde der Amerikaner geworden? Aber sind die Marxisten nicht gegen Almosen, gegen Armenpflege?“ Wir zankten uns immer heftiger. Kaum eine Sekunde konnte ich mir dann und wann einen Blick durch das Fenster gönnen, wo im Sonnenglanz die endlose Weite der Pampa auftauchte mit den Riesenströmen Paranä und Uruguay.

„Wir Nachbarn des reichen Bruders haben selbst Dollargeschenken gegenüber kein Vertrauen. Das ist es. Kolonialmächten gegenüber nie. Sehen Sie doch, wie es die Russen machenl“

Ich fragte, ihn beim Arm nehmend: „Ganz umsonst? Antworten Sie!“ Er schwieg. Als ehemaliger Stalinist mußte er wissen, um welchen Preis. Der Weg ist noch nicht gefunden, wie den Entwicklungsländern am besten geholfen werden kann. Mancherlei Illusionen müssen zerstört werden. Auf der. anderen Seite soll zu prüfen nicht übersehen werden, ob ein Land auch der Hilfe würdig ist. Es gibt südlich des Rio Grande Staaten, die sehr stolz sind auf die Größe und den Reichtum ihres Landes, aber die Korruption und Verschwendungssucht ist noch größer. Hilfsgelder müßten vor allen Dingen vor Langfingern geschützt sein, auch wenn es Hände von Exzellenzen sind. Auch die feierlichsten Verträge, die stolzesten Unterschriften geben keine Sicherung. Und doch sind für die Verteilung in erster Linie diejenigen zuständig, die in den unterentwickelten Ländern leben und sich auskennen.

Corruptio optimi pessima. Was wurde in dem Gran-Argentina Perons mit den Sozialgeldern Schiebungen gemacht! Mehr als 4000 Seiten füllen die Bände über die Korruption. Argentinien war eines der reichsten Länder der Erde, die Diktatur verwandelte es in ein armes Land. Von Brasilien bekennt General Tavora einmal, es sei eines der rückständigsten Länder der Erde, es habe sich bis jetzt unfähig erwiesen, seine ungeheuren Bodenschätze nutzbar zu machen. Die Leute, die sich auf der Stufenleiter zur Macht drängen, sollten nicht von der unersättlichen Begierde getrieben sein, sich auf Kosten derer zu bereichern, denen sie dienen sollen.

Die Opfer, die für die notleidenden Brüder gebracht werden, müssen diebessicher angelegt und verwendet werden. Vor gewissen Regierungen sollen aber die Spender geschützt werden.

Ein prächtiges Beispiel gab dafür der Bischof von Rio Grande do Norte, D. Eliseu Simones Mendes. Die „Seca“ war wieder einmal im Nordosten Brasiliens ausgebrochen. 16 Monate kein Regen. Hunderttausend Menschen befanden sich auf der Flucht. Die Bäume verloren ihre Blätter, die Mütter ihre Kinder. Die riesigen Viehherden zerstreuten sich in alle Winde. Das Ausland spendete Hilfsgelder, auch die deutsche Botschaft in Rio schickte eine namhafte Summe. Der Bischof von Rio Grande aber erhob seine Stimme: „Wir werden vor der Seca nicht kapitulieren. An die Arbeit, liebe Brüder! Gott hat uns dazu die Hände gegeben. Was uns allein Angst macht, das sind die korrupten Behörden. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Wir wollen kein Geld von ihnen. Wir kaufen Motorpumpen, Traktoren, wir brauchen Techniker. Die Familien brauchen nicht Haus und Hof verlassen.“ Die Zeitungen meldeten: „Der Bischof ist von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang an der Arbeit. Er fing an, bevor die Dürre ausbrach. Die Flüsse Acu und Apodi, ehemals ein wahres Bett von Geröll, sind heute fruchtbare Täler. Der Boden wurde mit Irrigationskanälen durchzogen. Er kaufte Saatgut, Insektenvertilgungsmittel, Obstbäume und Pflüge. Im ersten Jahr lieferte die Erde, auf der bis jetzt nichts wuchs, 40 Tonnen Mandioka, .3 Tonnen Reis, 20 Tonnen Tomaten, 4 Tonnen 'Bohnen, 3,6 Tonnen Mais, 350.000 Bananen und Orangen. Der Bischof verteilte 231 Motor-pumpen, ließ 123 tiefe Brunnen graben. Woher er das Geld hat, fragen die Leute.“ Der Artikel ist betitelt: „Was ein Mann vermag.“ Und wir betiteln ihn: Ein vorbildlicher Verwalter empfangener Spenden.

Inzwischen sind wir in Buenos Aires gelandet — zu kurzem Aufenthalt — wie auch mein Begleiter Dr. Montalva. Ich erzählte ihm vom Bischof von Rio Grande.

„Sie wissen so genau wie ich“, entgegnete er schroff, „daß solche Beispiele Ausnahmen sind. Bei uns war es doch so, die frommen Menschen, ob Priester oder Laien, wollten sich mit den Problemen dieser Welt nicht die Hände schmutzig machen. Die böse Welt — der liebe Gott bewahre uns davor! So wurden wir erzogen. Es war fast eine Sensation, als wir von der Kanzel hörten, es sei mit dem katholischen Leben unvereinbar, wenn ryan einen Trennungsstrich zwischen Religion und Leben, zwischen Welt und Kirche zöge. Ich wette, in Rio Grande do Norte war es früher wie bei uns: statt Brunnen zu graben, hat man Prozessionen abgehalten, zu allen möglichen Heiligen. Wehe mir, wenn ich zu Hause dagegen wetterte.“

Sein Gesicht erstarrte. Nach einer kurzen Pause fuhr mein Freund fort. „Sie müssen wissen, ich stamme aus einem streng katholischen Hause. Mein Vater ist Großgrundbesitzer, ein sehr gutherziger Sklavenhalter, ein sehr gebildeter Mann. Aber er ist außerstande, die neue Zeit mit ihren neuen Forderungen zu begreifen. Wenn er Eisenhower wäre, hätten die Marine-füseliere schon längst blanken Tisch auf Kuba gemacht. Er sieht darauf, daß seine Leute nicht gerade verhungern, daß sie fromm für den Himmel erzogen werden. Ihnen das Kreuz voraus tragend, denkt er nicht daran, daß er sie, genau so grausam wie es einst mit Christus geschah, an sein Kreuz nagelt. Nichts zu machen! Mein Herz schlägt immer noch katholisch, aber mein Verstand denkt marxistisch, solange die Kirche in Südamerika den Agitatoren aus Moskau das Spielfeld überläßt, wie es allzulang der Fall war.“

Ich unterbrach Dr. Juan, ich fragte ihn, was ihn bewogen habe, sich vom sowjetischen Kommunismus zu trennen. „Vor allem war es der Produktionsapparat, die herabwürdigende, papageienhafte Abrichtung. Unter ständiger Kontrolle. Diese Sektierer fordern unverhüllt totalen Kadavergehorsam. Alle sind für alle verantwortlieh, wie Dostojewskij sagt. Erst nach Leningrad bin ich ein richtiger Marxist geworden. Der Messianismus“ zog mich an, der Wille, die Welt zu verwandeln. Die Bibel war mir ein unbekanntes Buch bis jetzt. Jetzt lese ich sie. Ich bin überrascht, zu entdecken, daß auch den Christen die Verwandlung dieser Welt aufgetragen ist, die Verwandlung zur Gerechtigkeit. Christus hat uns ein Beispiel gegeben. Als ich die Szene von der Fußwaschung las, sind mir die Tränen gekommen. Das ist eine Szenel Dabei kam mir in den Kopf: Warum sieht man so wenig Priester im Urwald? Rom müßte etwas von der Gewalt des Kremls haben. Gehet hinaus und lehret die Völker — so befahl Christus!“

„Man kann nur solche hinausschicken, die vorhanden sind“, wandte ich ein. Ich hätte freilich hinzufügen müssen: In Europa gibt es genug überflüssige Priester. Muß denn in jedem Dorf, das einen kleinen Spaziergang vom nächsten liegt, ein Pfarrer residieren? Könnten nicht viele Stellen von Laien besetzt werden? Warum gibt es kein Diakonat der Helfer? Intellektuelle wie den Dr. med. Juan Montalva kenne ich in Südamerika genug. Die Mehrheit der Professoren, Ingenieure, Schriftsteller, Künstler führt die nämliche Sprache wie er, wenn sie sich nicht mit Haut und Haar dem Kommunismus verschrieben haben. Mit Milchpulver und Haferflocken wird diese Geisterschlacht, die den Erdball ergriffen hat, nicht entschieden. Westdeutschland hat begriffen, was die Stunde schlägt. In den lateinamerikanischen Ländern hat man mit Erstaunen von dem Opfergeist Kenntnis genommen, zugleich aber auch die Warnung ausgesprochen vor Vertrauensseligkeit in der Verteilung der Spenden. Der Herr hat die Völker auf die Wurfschaufel genommen, darum ist die Erde in Aufruhr. Der Haß der Unterdrückten, Ausgebeuteten schreit schon lange genug zum Himmel. Heroische Eingriffe in unsere Lebenshaltung und Gewohnheiten sind notwendig, uneigennützige Hilfe, frei von Politik und Business.

Welches Wunder! Der „Osservatore Romano“ kündigt soeben an, daß die katholischen Laien der ganzen Welt aufgerufen werden sollen, einen Beitrag zur Apostolatsarbeit in Südamerika zu leisten. Die Notrufe aus diesen Ländern waren also nicht umsonst. So hat nachträglich der Eucharistische Weltkongreß in Rio de Janeiro vor fünf Jahren zu den vielen Früchten noch einen Spätling gebracht, die päpstlichen Freiwilligen.

Das luso-tropische Reich, Portugal und Brasilien, 80 Millionen Menschen portugiesischer Sprache diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans, feierten im August dieses Jahres den fünfhundertjährigen Todestag des Infanten Dom Henrique. Er war es, der in Sagres, dem südportugiesischen Kap unweit von St. Vincente, dem Promomtorium Sacrum der Alten Welt, durch die Gründung einer Schule für nautische Forschung und Seefahrt den Grundstein der Großmacht •Portugals legte. Dieses Land der „Kreuzträger Christi“ hat größere Taten als alle anderen Nationen vollbracht, wenn man Umfang und Bevölkerungszahl in Rechnung einbezieht. Hier lichteten die Karavellen Christi die Anker und entdeckten Brasilien, das sie „terra da Santa Cruz“ tauften. Nach Moskaus Konzept soll Brasilien der Gegenspieler der Vereinigten Staaten werden. Die Sowjets und seit einem Jahr auch Rotchina haben dorthin ihre erfahrensten Agitatoren geschickt.

„Es geht ein Grauen um die Erde.“ Allzulang fand uns der Herr schlafend.

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