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Vielzuviel Dämonen

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Man braucht nicht weit auszuziehen, um das Gruseln zu lernen wie der Mann im Märchen. Ein Gang durch die Bildergalerie moderner Romantitel genügt: „Die Nackten und die Toten“, „Tote auf Urlaub", „Eine Handvoll Staub", „Die Pest“, „Am Rande der Barbarei", „Griff in den Staub", „Die Haut“, „Verdammt in alle Ewigkeit“, „Unter dem Vulkan“, „Am Abgrund des Lebens“, „Die Sonne Satans". Wen am Ende solcher „Nachtwanderung" die Angst noch nicht am Genick hält, hat starke Nerven. Die haben wir im allgemeinen leider sowieso nicht mehr, und man fragt sich, ob nicht wenigstens die Literatur etwas tun 'könnte, um unsere Nerven ein bißchen aufzubessern und zu stärken. Die Möglichkeit bestünde doch, zumal mindestens die letzte oder vorletzte Generation noch an so etwas wie eine therapeutische Macht der Kunst geglaubt hat

„Seit Dante gibt es eine Hölle — seit Bernanos den Teufel." Ein solcher Ausspruch zeigt, wie viel näher uns das Böse, das Dämonische gerückt ist. Natürlich drängt in chaotischen Zeiten solche Problematik nach oben wie die Blasen einer unsichtbaren Fäulnis unter der Oberfläche eines Tümpels, aber nach so vielen Jahren müssen wir uns endlich fragen, ob das, was zuerst literarische Mode schien, nicht endlich zur psychologisch bedenklichen Manie geworden ist. Die Entdeckung des Unbewußten in der menschlichen Seele mag vielleicht die großartigste Entdeckung der ersten Jahrhunderthälfte sein: daß die Schriftsteller es so rasch mitentdeckt haben, war möglicherweise nicht gut für sie und noch weniger für uns. Die Folge ist, daß wir heute eine Dämoneninflation haben. Wer heute „dunkel" schreibt, hat Aussicht, als neuer Kafka gefeiert zu werden. Aber nicht alles, was dunkel ist, ist Kafka, „über der Kimme der Gegenwart kannst du das Verhängnis deines Vergehens zerbrechen", schrieb zitierter Rausch in seinen „Nachtwanderungen“,

Es scheint, mit Kafka sollte man doch ein bißchen sorglicher umgehen Es sei denn, wir wären mit Gewalt darauf aus, aus der Kunst ein Leichenhaus oder ein Narrenhaus zu machen. Das sind wir doch noch nicht? Oder sollte Kütemeyer recht haben, wenn er meint, wir hätten uns bereits idyllisch im Fürchterlichen eingerichtet?

Unsere Schriftsteller — haben sie nicht beinahe alle heute schon ihr Haus- und Privatgespenst? Von dem sie überdies meinen, es spuke auch bei jedem von uns. Wir gehen mit dem Leviathan schon auf du und du um. Haben wir so wenig Kraft mehr, uns zu wehren? Warum legt unsere Zeit das Böse, das sie zweifellos zu verdrängen hat, in Dämonenkapital für die Zukunft an? Eine miserable Kapitalsanlage, zumal sich die Dämonen allzu gerne selbständig machen. Fast zwanghaft vollzieht sich allerorten die Verdunkelung. Sollten wir besser nicht darauf denken, die „Dämonen", wenn wir schon glauben, sie zu erkennen, ein wenig der Sonne auszusetzen, damit wir erkennen, welcher Teil unseres schlechteren Selbst sich hinter der Larve versteckt? Goethe wußte doch auch, daß es Dämonen gab; warum machte er so wenig Aufhebens davon. Weil er wußte, daß man mit Dämonen fertig werden kann. Und wir, die wir psychologisch so trefflich geschult sind, wissen es doch auch; wir wissen, daß jeder Trieb nach zwei Seiten ausgelebt werden kann, nach der krankhaften und nach der gesunden im Sinne der Sublimierung, der Humanisierung und Sozialisierung. Man müßte also nur den Mut haben, den Mut zum großen Gefühl und zum überwinden der Dunkelheiten. Der Mut entzündet das Licht, vor dem die Dämonen weichen. Wenn die kranke Angst schwindet, die unsere Literatur leider allzu gut ernährt, kann das Leben heller werden Wenn die Kunst nicht mehr von der Lebensangst heilen kann, wohl nicht einmal mehr will, ist sie uns wenig wert.

Konversionen und Reversionen von Gertrud von Le Fort und Sigrid Undset, der frühverstorbenen Reinhard Johannes Sorge und Hugo Ball, von Ghėon und Francis Jammes, Lothar Schreyer und Gabriel Marcel, von Bergengruen, Evelyn Waugh und Graham Greene, von Julien Green und der Langgässer, von Ruth Schaumann und Reinhold Schneider, van der Meersch, Alfred Döblin und Edzard Schaper. Und das sind nur einige der bekanntesten Namen. Einige stehen noch vor den Toren, und man weiß noch nicht, wohin es sie führt: Stefan Andres und vielleicht Ignazio Silone, etliche sind undurchschaubar geblieben, wie Joseph Roth, Max Jacob und der äußerst problematische Derleth. Und einige allerdings sind uns wieder verlorengegangen: James Joyce, Cocteau und Karl Kraus, in gewissem Sinn auch Hofmannsthal. Der Anteil der „Stammkatholiken" wird immer geringer, nicht der Zahl, aber der Bedeutung nach, er wirkt sich mehr aus in der Heimatliteratur, in der Provinzbelletristik, im zweiten und dritten Rang und nicht auf dem internationalen Parkett. Denn hier dominieren die Konvertiten und Revertiten, ein aggressiver, kühner und zäher Problematikertyp von erheblicher Durchschlagskraft, schwer zu lenken, eigenwillig und nicht selten ressentimentgeladen, witzig, geistvoll, philosophisch trainiert und ziemlich unbekümmert um den klerikalen Literaturdirigismus von einst und Anno dazumal. Er wagt Zusammenstöße und läuft hin und wieder Gefahr, indiziert zu werden. Eine seiner merkwürdigsten Leistungen ist die Überwindung jenes naiven Seinsoptimismus, der die katholische Literatur noch bis in die zwanziger Jahre beherrscht hat, von der Bauern- und Volksdichtung nicht loskam, in die Historie zurückfiel, in die Idylle auswich und an den Zeichen der Zeit vorbeisah. Er hat auch den modernen Typus des katholischen Essayisten inauguriert, der scharf, elegant, ein blendender Schreiber geworden ist. Unsere besten Köpfe tummeln sich in diesem Feld. Daneben schreiben sie oft Romane, aber keine von epischer Breite und Gemütlichkeit, sondern genau kalkulierte Problemgeschichten, knapp in der Diktion, novellistisch gestrafft, extrem in der Lösung, aufsprengend, zerreißend, gesellschaftskritisch, kulturpessimistisch. Mauriac ist repräsentativ für diesen Typus in Frankreich, Greene in England. Ihre Wirkung ist aufrüttelnd, aber oft auch Übelkeit erregend. Sie vertreten die „schwarze Literatur“ im katholischen Raum.

Und hier scheint mir die Bemerkung angebracht zu sein, daß diese moderne katholische Literatur extrem schizothym akzentuiert erscheint. Es ist bezeichnend, daß schon nach 1900 die typisch schizothymen Gattungen der Kritik, Polemik und Satire erobert wurden und durch Chesterton das heute so bedeutend gewordene Kriminalstück (das fast allen Romanen Greenes zugrunde liegt). Papini, Bloy und in ihrer Nachfolge Mauriac, Bernanos, Hugo Ball und Karl Kraus sind hier von weitreichendem Einfluß geworden, und immer wieder sind es die Konvertiten und Revertiten, die sich dieser scharfen Mittel bedienen, um das katholische Wort zur Geltung zu bringen, im Aphorismus, im Diarium, in Essay, Feuilleton, Kritik und Traktat, Haecker zum Beispiel, Sigismund von Radecki, Julien Green, Emmanuel Mou- nier, die Kreise um „Esprit" und „Tablet" und in jüngster Zeit in Österreich um „Wort und Wahrheit" und die „Furche".

Die Ghettostimmung ist vorbei, die Insuffizienzgefühle verebben. Katholische Literatur ist jetzt keine Angelegenheit des dritten Ranges mehr. Wir sind im Saft. Es wächst und blüht und unsere Wirkung ist sehr breit und intensiv, aber die Überalterung der überragenden Potenzen ist im Begriff, eine Gefahr zu werden. Und wir haben zu viele Tote zu beklagen. Wenn sich nicht vieles ändert, geraten wir in einem Jahrzehnt in ein Vakuum, denn unsere katholische Literatur, jene, die schon über die Grenzen hinauswirkt, ist eine Literatur der Jahrgänge vor 1910. Der Nachwuchs ist gut, aber spärlich, und er hat es nicht leicht. Wir sind auf dem Marsch, aber nicht über die Gefahren hinaus, das katholische Weltgespräch ist in Gang gekommen (wer hätte das vor dreißig Jahren schon für möglich gehalten?); aber es wird bei uns zu wenig mit der Form und zu sehr nur mit den Inhalten experimentiert, und die Avantgardisten sind noch immer auf der anderen Seite..

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