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Viennale 1969

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Nachdem Wiens Filmfestival „der Heiterkeit“, demonstriert durch zum Rathaus fahrende Straßenbahn-Sonderwagen mit den Festgästen, auch schon den Verantwortlichen etwas zu skurril-biedermeierlich geworden war und nicht zu übersehende „Zeichen der Zeit“ ihre drohenden Schatten über Wiens Kultur(amt) warfen, wurde die „Viennale“ in diesem Jahr „zeit-, gesellschafts- und sozialkritisch“ ausgerichtet. Auch das Vorführen von „Filmen, die uns nicht erreichten“, bot nicht Motto genug mehr, man mußte fortschrittlich denken (soweit sich dies bei uns vertreten läßt) und präsentierte daher unter dem Thema „Leben in dieser Zeit“ 16 Lang- und 13 Kurz- und Dokumentarfilme, deren örtliche Begrenzung vom sechsten westlichen bis zum dreiundzwanzigsten östlichen Meridian und südlich bis zum 38. Grad nördlicher Breite reichte...

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Nachdem Wiens Filmfestival „der Heiterkeit“, demonstriert durch zum Rathaus fahrende Straßenbahn-Sonderwagen mit den Festgästen, auch schon den Verantwortlichen etwas zu skurril-biedermeierlich geworden war und nicht zu übersehende „Zeichen der Zeit“ ihre drohenden Schatten über Wiens Kultur(amt) warfen, wurde die „Viennale“ in diesem Jahr „zeit-, gesellschafts- und sozialkritisch“ ausgerichtet. Auch das Vorführen von „Filmen, die uns nicht erreichten“, bot nicht Motto genug mehr, man mußte fortschrittlich denken (soweit sich dies bei uns vertreten läßt) und präsentierte daher unter dem Thema „Leben in dieser Zeit“ 16 Lang- und 13 Kurz- und Dokumentarfilme, deren örtliche Begrenzung vom sechsten westlichen bis zum dreiundzwanzigsten östlichen Meridian und südlich bis zum 38. Grad nördlicher Breite reichte...

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Daß ernsthafte Filme über Vietnam zum Beispiel bei uns wenig beliebt sind, ließe man sich ja noch gefallen — daß es aber keine kritischen Filme zum amerikanischen Negerproblem, über die Situation des Lebens in dieser Zeit in Afrika, China usw. gibt, dürfte selbst Filmfreunden nicht einzureden sein. Wie aktuell ist man doch, wenn man einen mittelmäßigen, thematisch schon ziemlich überholten deutschen Fernseh-Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“ aufführt, dazu das neueste Opus von Frau Mai Zetterling, „Flickorna“, eine verworrene Frauenrevolte, die in Kürze ebenso im normalen Verleihprogramm in unsere Kinos kommen wird wie der verspielt-harmlose, fast mit der linken Hand gedrehte Truffaut-Film „Geraubte Küsse“ oder Andre Cayettes „Verleumdung“ CLes risques du metier)... Sicher ist es ein Verdienst, Akira Kurosawas 1955 entstandenen Atombombenfilm „Ein Leben in Furcht“ überhaupt einmal in Österreich zu zeigen (obwohl man in Japan sich auch an diese Furcht mittlerweile schon etwas gewöhnt hat), zweifellos ist es eine verdienstvolle Tat, das revolutionäre brasilianische „Cinema novo“ durch Pe-reira dos Santos' 1963 entstandenen (aber 1941 spielenden!) Film „Vidas secas“ (Trockenes Leben) vorzustellen — der künstlerische Höhepunkt der Viennale übrigens! —, und unbedingt gehört Jan Nemecs politisch verschlüsselte tragische Satire „Uber ein Fest und seine Gäste“ in das Programm einer ernsthaften Filmfestwoche; doch rund um diese drei bedeutungsvollen Pilmwerke wurde wenig versammelt, das eine Festaufführung oder gar eine Besprechung lohnen würde. Die Eröffnungspremiere kennzeichnet den mißglückten Versuch deutlich: Jacques Tatis geniale Groteske „Play Time“, auf mehr als drei Stunden (mit notwendiger Pause), auf 70-mm-Riesenleinwand und vor allem Raumton (die Toneffekte besitzen in dem Film die gleiche bedeutsame Funktion wie der Bildgag!) konzipiert, präsentierte man in einer technisch miserablen und verstümmelten Arbeitskopie ... Die Verbeugung vor einem Wiener Filmklatsch-Kolumnisten, dessen Amateur-Kurzfilmchen „Ein anständiges Mädchen“ schon in Mannheim die einzig richtige Abfuhr erhielt, bedeutete den absoluten Tiefpunkt dieser Wiener Filmwoche... „Leben in dieser Zeit“ — wo sind die Filme des giovane cinema ita-liano, Marco Bellocchios „I pugni in tasca“, „La Cina e vicina“ oder Sal-vatore Samperis „Grazie, zia“? Wo ist der amerikanische Ostküsten-Film mit Shirley Clarke, David Loeb Weiss, Yves de Laurot oder nur John Cassavetes „Faces“? Wo ist der „neue spanische Film“, wieso gehören nicht „Loin du Vietnam“, Peter Brooks „Teil Me Lies“, Roland Klicks „Bübchen“ und Werner Herzogs „Lebenszeichen“ zu diesem Thema? Wenn schon die Courage zu einem echten Engagement fehlt, dann sollte wenigstens der Mut vorhanden sein, ein konservativ-künstlerisch ausgerichtetes Programm von „Filmen, die uns nicht erreichten“, zu bieten, wo Werke wie Welles' „The Magnificent Ambersons“ bis zu seinem hierorts noch unbekannten „Falstaff“, Loseys „The Damned“ bis zu Furies „The Leather Boys“, Kurosawas „Zwischen Himmel und Hölle“ und „Rotbart“ bis zu Kobayashis „Kwaidan“, Pasolinis „Edipo Re“, bis zu Fellini/Malle/Vadims „Tre passi nel delirio“ immerhin jede Diskussion über ihre filmische Bedeutung ausschließen würden? Mit diesen kritischen Betrachtungen soll weder die Bedeutung einer Wiener Filmfestwoche geschmälert noch den Bemühungen der Veranstalter wirkliches Wollen aberkannt werden — doch können die hierorts üblichen Gepflogenheiten der „halben Kompromisse“ nicht widerspruchslos hingenommen werden. Wenn schon tatsächlich die Absicht besteht, Wien als Konkurrenzort zu Festivals wie Venedig usw. gar nicht erst zu entrieren — eine ebenso lobenswerte wie vernünftige Bescheidung! —, dann müßte wenigstens für eine solche Festwoche für das Wiener Publikum eine würdig-einheitliche Auswahl getroffen werden, die künstlerisches Maß mit echter lokaler Bedeutung vereint. Eine leider nur von wenigen Kennern genügend beachtete, dafür aber wahrhaft international sensationelle Retrospektive wie die diesjährige, dem Gesamtwerk Luis Bunuels gewidmete (sie soll an dieser Stelle nächste Woche ausführlich gewürdigt wer-dene), ist zwar sehr viel, aber dennoch im Gesamtkonzept einer wirklichen „Viennale“ zuwenig. Den Veranstaltern bleibt ein Jahr Zeit, dies zu überlegen...

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