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Vier Schwurfinger in Lainz

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Zwei Krankenschwestern früh am Morgen im Triebwagen der Straßenbahnlinie 62. Beschlagene Fensterscheiben. Draußen Nebel und Regen.

Die Erste: „Seit vierzehn Tagen warten wir schon darauf. Die“ Aerzte waren sicher. Wir haben die Leute bei der Frau daheim verstän-. digt. Gekommen ist ohnehin niemand. Glaubst du, die Frau stirbt? Nein!“

Die Zweite: „Sie hat gesagt, daß sie nach Hause will. Da hat sie ihre Enkel, soviel ich weiß.“

Die Erste: „Nach Hause? Nur zum Sterben?“

Diese unbekannte Frau, auf deren Tod man sozusagen wartet in einer Welt, die ihr einst teuer, vertraut und liebwert gewesen: diese Unbekannte ist der mahnende Geist unseres Jahrhunderts, das man vor fünfzig Jahren vorschnell das Jahrhundert des Kindes genannt — und das nun zum Jahrhundert des Alters wurde. Noch um 1500 rechnete man mit einem durchschnittlichen Lebensalter von weniger als 20 Jahren. Um 1900 lag diese Ziffer bereits bei 48 Jahren und heute können wir 68 bis 70 Jahre ansetzen. Jedes Jahr, das eine medizinische 'Errungenschaft bringt, vergrößert zugleich das Problem der Ueberalterung. Mit Ablauf des Jahres 1954 — die letzten abgeschlossenen Ziffern der Statistik — schätzte man amtlich bei 6,968.500 Menschen der Wohnbevölkerung den Altersblock zwischen 5 5 und 70 Jahren auf 1,107.300 und den Block von 70 Jahren aufwärts auf 472.900 Von Jahr zu Jahr müssen sich angesichts der geringen Geburtenrate die Elockziffern erhöhen.

Das ist kein Problem der Sozialversicherungsinstitute allein — obschon deren Existenz durch diese Entwicklung schwersten, Belastungen ausgesetzt ist —, sondern das ist ein Problem allgemeiner menschlicher, geistiger Einstellung.

Wenn man an der Kreuzung der Speisinger Straße und der Hermesstraße steht und nicht so ausfluglustig ist, um den blauen Hügelkranz in der Ferne zu sehen, dann gewahrt man die vier Schwurfinger von Lainz. Zur linken Hand die zwei Schlote, die gehören zum Krankenhaus; die zwei Kirchenturme zur rechten Hand zum Altersheim. Wien besitzt deren fünf: in Baumgarten, Liesing Währing; in St. Andrä an der Traisen liegt noch ein städtisches Heim; Lainz ist das größte und beherbergt gegenwärtig erheblich über 4000 Pfleglinge, also etwa eben-• soviel, als die Stadt Horn in Niederösterreich überhaupt Einwohner zählt. Obschon die größte Zahl der Alten nicht in Heimen wohnt (für Wien sind es zwei Prozent), ist die Nachfrage immer groß. Krankheit kann eine Ursache sein, daß ein Mensch in geschlossene Fürsorge übergeführt wird (sofern er damit einverstanden ist); in diesem Falle kann der behandelnde Arzt, können Krankenhäuser oder Gesundheitsämter einen Antrag wegen Aufnahme in ein Altersheim steilen. Dieser Antrag wird vom zuständigen Fürsorgeamt übernommen, nach der medizinischen und sozialen Seite hin überprüft. Eine Einweisung erfolgt — wenn sie erfolgt —, indem die Kosten des Aufenthalts durch Einbehaltung des Renten- oder Pensionsbezuges sichergestellt werden oder die gesetzlich Unterhaltspflichtigen die Unterstützung leisten. Uneinbringliche Beträge — das sind etwa 50 Prozent — trägt der zuständige Fürsorgeverband. In dem Falle, wo die gesamte Rente des Eingewiesenen sichergestellt wird, bekommt dieser ein sogenanntes „Taschengeld“.

Um dieses Taschengeld weint die Frau mit dem Kopftuch neben mir auf der Bank. Cenau: es ist das Taschengeld der Tante, die in Lainz zur Pflege ist — 75 Jahre alt, Rente 530 Schilling. Weil sich die alte Frau das Geld in einem alten Strumpf steckte (fürchtete sie, diesen Reichtum zu verlieren?), hielt man sie — sagen wir — für einen Sonderling. Und deponierte einstweilen das Geld. Jetzt ist die Angehörige da, klagt von häuslichem Unfrieden, der dadurch entstand, daß der Mann glaubte, alles werde der :,Tante draußen“ zugewendet und er, komme zu kurz. Aber daheim behalten konnte man die „arme Tante“ nicht.

Der Druck des Alters macht sich schon auf dem Arbeitsmarkt geltend. Für manche Unternehmer, die sich für sehr sozial halten, beginnt das Alter der Arbeitnehmer bei 40 Jahren. Die Folgen liegen auf der Hand (oder auf der Straße). Es gibt auch für die Aeltereri und die Alten ein Recht auf Arbeit. Auf eine sinngemäße, auf eine ihnen vom ärztlichen Standpunkt zuträgliche, aber immerhin auf einen inneren Ausgleich angesichts der Spannung, die entstehen muß, wenn man die anderen Glieder der Familie mittags oder abends aus dem Erwerbsleben heimkommen sieht und am Abend dann möglicherweise die (vielleicht vorhandenen) Kinder hüten darf und dazu den nächsten Pullover bei Radiomusik stricken soll.

Das steht in keiner Statistik. Keine Prozentzahl kann es ausdrücken.

Von den rund 17.000 in Dauerfürsorge der Stadt Wien stehenden Personen sind 8400 oder mehr als 70 Prozent mehr als 70 Jahre alt und 15 Prozent mehr als 80 Jahre. Hier haben Arbeitstherapie und Psychohygiene ihre naturgegebenen Grenzen. Hier machen sich gesundheitliche Mängel geltend. In Lainz betrug das Verhältnis der Gesunden zu den Kranken 1:6. Hier kann man nicht mit Lotterien, Gartenkonzerten, Filmaufführungen, photogenen Er-holungafahrten in die Sommerfrische arbeiten. Der kränkelnde alte Mensch bleibt am liebsten in seiner vertrauten Umgebung, zumindest so, daß die Angehörigen in nächster Nähe sind. Man muß raten, den Eintritt in die Pflege so lange als möglich hinauszuschieben. Gewisse Beihilfe für jene Personen, welche alte Menschen daheim behalten, kann durch die Organisation von Hauspflege, durch fürsorgerisch und ärztlich geschulte Kräfte, die täglich nachschauen kommen, geleistet werden. Zur Schulung solcher Kräfte, die religiöser Unterweisung nicht entbehren dürfen, wären länderweise Haus-pflegeschulen einzurichten.

„Nach Hause? Nur zum Sterben?“

Diese skeptische Frage verdient eine Antwort. Wir haben keine besondere Alterskunde; wir können nicht behaupten, eine unbedingt sichere Alterjfürsorge zu besitzen. Und uns fehlt entscheidend das, was den Zug zu den Altersheimen so verstärkt-hat: der zielbewußte Bau und die vorschauend geplanten Alterskrankenhäuser. Alle jetzt bestehenden Altersheime sind ein Mischding von Heim und Spital. Zu den Alterskrankenhäusern müssen die Alterswohnungen, noch besser aber die Alterssiedlungen treten. Diese Siedlungen, in günstiger Verkehrslage, sind am besten einstöckig, bei Einsparung möglichst vieler Stufen anzulegen und von einem Gartengrundstück zu umranden. Man soll nicht den verhängnisvollen Irrtum begehen und Siedlungen bauen, ohne die Alten vorher gefragt zu haben, wie sie diese haben wollen; und ohne Siedlungsgemeinschaften zu planen, in ' denen frühere Berufsneigungen und der Bildungsgang jedes einzelnen Menschen überprüft werden. Es wäre wohl zu erwägen, den Alten ein gewisses Mitbestimmungsrecht an der Verwaltung dieser Siedlungen zuzubilligen und ein beschränktes Eigentumsrecht festzulegen.

Dann, ja dann geht man nach Hause, um zu leben.

..Alt werden, heißt sehend werden“, schreibt Marie von Ebner-Eschenbach. Es wäre ein erfüllter Schwur der vier Finger draußen im Westen von Wien, wenn wir sähen, indes wir jung sind.

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