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Völkerwanderung tour-retour

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AUF DER SUCHE nach den Barometern des sozialen Wohlstandes haben sich die Grenzmarken verschoben. Sie sind auf die Straße gewandert. Die buntbedruckten Litfaßsäulen und Flakatwände sind über das Zeichen ihrer Werbewirksamkeit hinaus zu den Zeige- und Aufzeigefingern der modernen Wohlstandstemperatur geworden.

,Dies und das, für jeden was“ — das soziale Programm des Immer- besser-Lebens gilt nicht nur für den Kochtopf, für das Auto und die Arbeit, sondern es gilt auch für den Urlaub. Gerade der Wohlstand findet seine angenehmste, vielleicht sogar auch phantasievollste Auswertung in den freien Tagen und Stunden, die dem Urlaub das „heilige Recht“ des Genießens zusprechen. Große Organisationen haben sich gefunden, um dem Berufstätigen seine Urlaubsfreuden einzuräumen und auszubauen. Die Reisebüros haben ein neuerwachtes Nomadentum auf die Beine gebracht, das vom kampierenden Wanderleben bis zu den gepflegtesten Luxustagen irgendwo in exotischen Ländern reicht. Sozusagen eine Völkerwanderung tow-retour, die das Reisen, das Kennenlernen und Einander-Näher- bringen auf eine weltweite und erfolgreiche Art verwirklicht hat. Die gelockerte Devisenwirtschaft \tat ihr übriges dazu.

Der alte Traum vom Refsen hat heute im modernen Tourismus weitestgehend wieder seine Verwirklichung gefunden. Da werden Opfer gebracht, die tief ins Säckel greifen lassen, um ihren kleinen Beitrag zur großen Reisefreude zu bringen. Und außerdem, jeder kann reisen. Es steht eine Riesenfülle an Arrangements und Auswahl zur Verfügung. Die Grenzen sind sehr weit und sie reichen vom ganz billigen bis zum sehr teuren Urlaubstag im Reiseziel.

Wenn konkrete Zahlen für den Erfolg der neuerweckten Reiselust angeführt werden sollen, so treten 4’? runden Summen den besten Beweis dafür an: vor etwa drei Jahren überstieg der Weltumsatz der Fremden- verkehrsbranche die rote Linie von 40 Milliarden Dollar. Das ist das Doppelte des Weltumsatzes der chemischen Industrie. Und der Wert steigt immer höher. Eine Schweizer Investmentgesellschaft bot kürzlich „Touristik als Kapitalanlage“ an. Sie vergab Anteile, die nach ihrer Meinung Sicherheit, Rendite und Mehrwert gewährleisten. Mag sein, daß hier der Bogen zu weit gespannt wurde, aber die Tatsache selbst ist Beweis genug für die große Reisefrequenz.

WOHIN REISEN DIE LEUTE? Hier gibt es viele Wege, Preise und Varianten: der Sozialtourismus selbst hat sich am weitesten aufgefächert. Vor allem in die größeren und kleineren Orte hinein, die irgendwo am Meer ein sonnenfrohes Dasein und die Aussicht auf beglückendes Nichtstun und sandbegrabenes Dahindösen versprechen. Riccione, Cattolica, Rimini, Lignano . .. Italien ist heuer wieder in ganz besonderem Maße in der Gunst des badefrohen Publikums gestiegen. In Kolonnen strömt das Volk der „Italienfahrer“ über die Grenze hinunter und in die Bade- und Vergnügungsdomänen an der adriatischen und ligurischen Küste. Besonders die ligurische Küste war heuer wieder bevorzugt. Hier fand vor allem der Einzeltourismus ein neues Urlaubsfeld. Tauchen, Wasserskifahren und eine romantische Küstenlandschaft haben sich wieder zu einem modischen Urlaubseffekt vereinigt, der in den letzten Jahren etwas in Vergessenheit zu geraten . schien. Aber nun haben sie ja wieder aufgeholt mit ihren Übernachtungsziffern — die Orte Nervi, I’ortofino, Santa Margherita und Rapallo.

Schiebt man den Urlaubszeiger des Sozialtourismus etwas weiter nach Südosten, so trifft man auf alte und neue Domänen des Fremdenverkehrs: Jugoslawien, die Orte entlang der istrischen und dalmatinischen Küste sind nach wie vor als Ferienziele sehr beliebt. Aber die Jugoslawen haben ebenfalls schon längst den Zauber ihrer Küstenorte entdeckt, mit dem Ergebnis, daß sie sich in ihren Preisen immer mehr den Italienern angleichen. Was dem einen recht, ist auch dem andern billig, und das italienische Gegenüber ist Vorbild genug für den Erfolg der erhöhten Preise.

SCHIEBT MAN DEN ZEIGER noch weiter nach Osten, so trifft man auf klassische Urlaubsstätten, die nicht nur im Sommer, sondern das ganze Jahr hindurch besucht sind. Die Fahrt dorthin ist zwar länger und der Griff in die Urlaubskasse dementsprechend tiefer, aber dafür zeigt sich hier bereits die wirkliche Fremde. Griechenland und Athen, die Ägäis und die vielen kleinen Inseln, die für Ruhe und Erholung wie geschaffen sind, dann die Türkei, der Bosporus und vielleicht noch ein kleiner Ausflug hinüber nach Anatolien. Der erste Hauch von Asien wird spürbar — unvergeßliche Eindrücke, eingefangen in den Diapositiven, die dann zu Hause allen Freunden und Bekannten vorgeführt werden müssen.

Griechenland wird als Reiseziel immer beliebter. Auch die Türkei mit ihren Badeorten in der Umgebung von Istanbul findet einen wachsenden Zustrom an Besuchern.

Dem Sozialtourismus wurden diese östlichen und südöstlichen Länder in zunehmendem Maße erst in den letzten zwei Jahren geöffnet. Und zwai durch die Reisebüros. Pauschalaufenthalte, Reisearrangements, Zubringerprobleme und Visaschwierigkeiter wurden dem Touristen aus der Hane genommen und ganz nach seiner Wünschen gestaltet. Kontrakte mii den staatlichen östlichen Reisebüro: wurden geschlossen und die günstigsten Aufenthaltsprogramme ermittelt, Die Schwarzmeerküste, Varna, Nessebar, Mamaia… der Urlaubsblicl hinter den Eisernen Vorhang hat neber dem Reiz der Neuheit auch noch di finanzielle Möglichkeit unfef Beweis gestellt. Und nun Ut die Urlaubgreise in den Osten zu einer Mode geworden.

Ein kurzer Ruck hinüber in das andere Blickfeld, nämlich in den europäischen Westen, zeigt ein ganz neue: Bild: Spanien ist heuer relativ leer geblieben. Keine Gruppenreisen, schon gar keine großen Pauschalaufenthalte wurden gebucht. Zwar stehen die selbstgebauten Bungalows der deutschen Bundesbürger nach wie vor voll, sind die Chartermaschinen mit spanienfrohen Flugzeugpassagieren besetzt, aber der Sozialtourismus selbst, mit Sonderzügen und vollbesetzten Autobussen, ist ausgeblieben. Mag sein, die Fahrt dorthin ist zu lang, das Essen zu schlecht und das Wetter zu heiß — Tatsache bleibt jedoch, daß die spanischen Gastwirte im nächsten i Jahr wieder alles unternehmen werden, • um den spanischen Urlaubsalltag des

Touristen mit bester Kost und Unterbringung aufzukraften.

DAS RAD DER URLAUBSMODE hat sich aus dem Westen in diesem Jahr um ein Stück weiter hinauf in den Norden des Kontinents verschoben.

Ganz egal, ob mit Bahn, Bus oder eigenem Wagen, di Bretagne war heuer Wieder gefragt, die Normandie, die Dünenbäder entlang der Nord- und Ostsee, die kleinen Inseln entlang der friesischen Küste und Holland mit seiner grünen Marschlandschaft, der man scheinbar wieder neue Reize abgewinnt. Und dann natürlich blieben nach wie vor mitten im Kernpunkt von Urlaub, Erholung und Flucht aus der Langeweile: Biarritz und die Cote d’Azur. Playgrounds für alle, die der exquisiten Urlaubsmode ihre Reverenz erweisen.

Hier spielt nun ein neues Moment hinein, dem jedes Reisebüro, jede Urlaubsvermittlung seine Rechnung tragen muß: So wie auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen Kollektivismus gibt es auch für den Urlaub die Mode. Und was für eine Mode — die mit den Zahlen ihrer Preise spielt! Playgrounds, sogenannte U nterhaltungsböden erlebnishungriger Urlauber, werden ständig neu geschaffen oder wieder abgestellt. Reisetrends verschieben sich von .einem Land ins andere. Die einen hat der exklusive Tourismus auf den Plan gebracht, die anderen der Massentourismus.

Mit Sonderzügen und großen

Pauschalaufenthalten findet der Urlaubshunger seine Befriedigung. Lind das soziale Moment ist heute so weit in den Vordergrund gerückt, daß mit unwahrscheinlich niedrigen Preisen ein Maximum an Reise- und Urlaubswerten herausgeholt werden kann. Hier liegt einzig und allein das Verdienst bei den Reisebüros. Mit Sonderzügen und bis ins kleinste geplanten Ausgabenquoten wird dem kleineren Wohlstandsbürger ein perfektes Reiseprogramm geboten. Er braucht nur noch zuzugreifen und seinen Urlaubsaufwand am Schalter des Reisebüros bezahlen.

Überallhin in den angrenzenden Süden führt dieser Weg der großen LIrlaubsgruppen. Vor allem nach Jugoslawien und Italien, mit sogenannten „BIB-Reisen“, mit Gesellschaftsreisen, per Bus und Bahn, von einer Haustür zur anderen. Für den glatten Ablauf ist vorgesorgt.

In den letzten Jahren zeigte sich jedoch immer mehr, daß der Massentourismus langsam rückläufig wird und hinüberfindet in den Einzeltourismus, der wohl den Pauschalaufenthalt, jedoch das individuelle Reisen vorzieht. Der Hang zum Individualismus ist vom modernen Nomadentum in den letzten Jahren wiederentdeckt wordqn.

DER EXKLUSIVTOURISMUS KOMMT im wachsenden Wohlstand immer stärker zum Ausdruck, Hier wird die Welt nun wirklich klein, und das Angebot der Reisebüros hat seine letzten Raffinessen in den Prospekten und Programmen der afrikanischen Großwildjagd, der Elchjagd in Kanada, den Photosafaris, irgendwo, ganz weit weg und überall gefunden. Man spricht vom Exklusivtourismus und stößt auf wunderbare Reisen, die nicht einmal so sehr teuer sind. Einen Beweis dafür liefert das Publikum, da auf diese Reisen geht: Es sind Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte und zu einem guten Teil auch Pensionisten, die in ihre große Urlaubstour oft ein paar Jahre der Erwartung hineingelegt haben. Auto, Bus und Bahn sind vom Flugzeug und vom Schiff abgelöst worden. Besonders die Schiffsreisen erfreuen sich steigender Beliebtheit, denn neben dem eigentlichen Reisezweck stellt sich hier auch Komfort ein. Der Hang zum Liegestuhl auf dem sonnigen Deck blüht das ganze Jahr hindurch, und wenn diese Schiffsreisen und Kreuzfahrten auch noch so weit und noch so teuer sind, sie werden ständig frequentiert.

Im Sommer sind es besonders die Kreuzfahrten durch das Mittelmeer, nach Spanien und Griechenland. Im Winter sind es Ägypten und darin vor allem Teneriffa, das erst im letzten Jahr zum neuen Playground des schiffsfreudigen Reisepublikums erhoben wurde. Im Frühjahr waren es heuer besonders die Balearen, die besucht wurden. Und auch hier wechselt ständig der Reigen von Urlaubsmode und Geselligkeit. Im letzten Jahr entdeckte man vor allem von den Schiffen aus Zypern, Rhodos, Indien und — ja, und besonders Madeira!

Die Zwischenstrecken im Mittelmeer werden von sämtlichen durchlaufenden Atlantiklinien zu Kreuzfahrten für den Urlaubspassagier herangezogen und ausgebaut. Man findet aber diese Anlegeplätze, die ihre Ovationen an den Tourismus bringen, nicht nur im Mittelmeer; man findet sie auf der ganzen Welt und am Küstenrand aller Kontinente: Hongkong, Japan, Australien, Hawaii, San Eranzisko, Trinidad, auf den Westindischen Inseln und entlang der Antillen - ein großes Programm, das viele zu neuen Reisen anregt und so zum Verstehen und besseren Kennenlernen der näheren und ferneren Nachbarn beiträgt.

GROSSE REISEN MIT stundenkleinen Entfernungen und überaus günstigen Aufenthaltsarrangements haben den Tourismus über die nationalen Grenzen hinausgeführt und in einer weltweiten Art der gemeinsamen Interessensvertretung zusämmenge- bracht. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst der großen und kleinen Reisebüros, die mit jedem Handgriff ihrer unbegrenzten Vermittlungsarbeit ganz unbewußt eine neue Art des Weltbürgertums propagieren.

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