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Volkstum und Literatur in Rumänien

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Unter den romanischen Literaturen nimmt die rumänische eine besondere Stellung ein. Wer ihr Wesen erkennen und ihre auf den ersten Blick fremdartigen Züge richtig deuten will, muß sich ihre Grundlagen und ihre Entwicklung vergegenwärtigen. Das Gebiet des heutigen Rumänien war ursprünglich von Dako-Thraziern bewohnt und wurde von den Römern kolonisiert. Seit dem 5. Jahrhundert wurde der kulturelle Einfluß Roms sdiwächer, und Byzanz begann auf die Dako-Romania einzuwirken. Der griechisch-orthodoxe Glaube war ein Wall gegen westliche Strömungen, und orientalisch-byzantinische Strömungen werden mitbestimmend bei der Bildung der jungen rumänischen Kultur. Vom 5. bis 7. Jahrhundert finden slawische Stämme in diesem Raum eine neue Heimat und bedingen eine weitere Schwächung des romanischen Elements. An der kulturellen Entwicklung Westeuropas während des Mittelalters konnten die Rumänen ebenfalls nicht teilnehmen, denn es fehlte ihnen das einigende Band der lateinischen Kirdiensprache, M. deren Stelle das Kirchenslawisch getreten war. Weder das höfische Epos noch die Troubadours und der Minnesang haben in der rumänischen Literatur eine Entsprechung, und -während sich im Westen die Kultur aus dem Geist der Antike erneuerte (Humanismus und Renaissance, die ihre Strahlen bis nach Ungarn und Polen aussandten), schien über Rumänien der Halbmond.

Die geschriebene und gedruckte rumänische Literatur ist verhältnismäßig jung: sie umfaßt in weiterem Sinn die letzten 400 Jahre, in engerem erst anderthalb Jahrhunderte. Die Schöpfer und Leser der geistlichen Literatur während dieser ersten Epoche, die nur Ubersetzungen und Nachahmungen hervorbrachte, waren Schriftgelehrte, Geistliche und Adelige (Bojaren). Erst seit dem 18. Jahrhundert, nachdem in Siebenbürgen eine neue, die sogenannte latinistische Strömung hiezu den Anstoß gegeben hatte, besinnen sich die Rumänen auf ihre römische Abstammung und beginnen bewußt Anschluß an den Westen zu suchen und sich in Literatur und Sprache an westlichen Vorbildern zu orien-

tieren. Diese Bewegung, am ehesten den Sprachgesellschaften des Spätbarocks vergleichbar, wurde von der richtigen Einsicht geleitet, daß das Rumänische — trotz aller fremder Einflüsse — eine in ihrer Grundstruktur romanische Sprache geblieben war.

Die „lateinische Schule“, wie sie in der rumänischen Literaturgeschichtsschreibung genannt wird, griff auch auf das rumänische Altreich, die Provinzen Moldau und Walachei, über und erweiterte sich hier zu einer allgemeinen national-literarischen Bewegung, die an der Verwirklichung eines politischen Zieles wesentlichen Anteil hatte: an der Vereinigung aller Rumänen in einem eigenen, selbständigen Staat.

Wichtiger aber als die Entwicklung der Kunstdichtung ist für das Gesamtbild der rumänischen Literatur die bis auf den heutigen Tag lebendige Volksdichtung, die so alt ist wie das rumänische Volk. Sie repräsentiert das spezifisch Rumänische, ungefärbt und ungebrochen. Diese Literatur der Bauern und Hirten ist weder durch die Schule noch durch die Kirche merklich beeinflußt worden. Sie hat eine außerordentliche Zahl von Typen und Formen hervorgebracht, sie ist auch heute noch nidit erschöpft und stellt den eigentlichen Reichtum der rumänischen Literatur dar. Aber erst im 9. Jahrhundert mündet dieser Strom in das Bett der Kunstdichtung, und erst seitdem die der deutschen romantischen Schule nahestehenden Dichter A 1 e c s a n-d r i, R u s s o und Eminescu die Volksdichtung bewußt, zu pflegen begannen und in ihr Werk aufnahmen — erst von diesem Zeitpunkt an bekommt die rumänische Dichtung ihr eigenes unverkennbares Gesicht.

Die Kunstprosa der Rumänen, der Roman, ist aus der Gattung der Kurz-geschichte und der Novelle herausgewachsen, in denen sich die ursprüngliche Erzählergabe am zwanglosesten entfalten konnte. Volkston und Erzähltechnik der „literatura poporana“ trifft bereits vollendet der Dichter C. r e a n g a, der Meister der psychologischen Novelle und der dramatischen Studie Carageale sowie der Begründer der realistisdien Dorfgeschichte I o a n S 1 a v i c i, der auch einen* der ersten Bauern-

romane schreibt. Diese Gattung, von der man lange £eit glaubte, daß sich zu ihrer entwickelten Form und komplizierten Handlung die rumänische Prosa nicht emporschwingen würde, sollte bald die umfassendste und am meisten gepflegte werden. Eine ganze Reihe, darunter einige sehr wertvolle und charakteristische Werke der rumänischen Gegenwartsliteratur wurden durch Ubersetzungen auch dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht.

Die Bücher der Rumänen haben für den westeuropäischen Leser einen ganz besonderen Reiz. Die Menschen dieser Dichtung, die Gestalten ihrer Werke, leben in einer patriarchalischen Welt, auf einer Kulturstufe, die einmal die unsrige war und die wir vielleicht in den entlegenen Alpentälern noch spurenweise vorfinden mögen. Es ist die Welt der Bauern und Hirten, es sind ihre Feiern und Feste und ihre tägliche Arbeit, die uns hier geschildert wird. Die Landschaft formte diese Menschen: die weite Ebene des Donautales in der Muntenia und der Oltenia, das anmutige Hügelland der Vorkarpaten, und die gewaltigen, unberührten Berge der Moldau und Siebenbürgens. Hochzeitfeiern, Tod und Begräbnis werden von uralten, sorgfältig beachteten Bräuchen bestimmt, die oft das Gepräge eines patriarchalischen Ritus tragen. Heidnischer Aberglaube, Symbole und Riten der Ostkirche sind seltsam durdneinandergemengt und in eins verschmolzen. Auch der Verkehr der Menschen untereinander wird durch einen strengen Kodex des Betragens, der Höflichkeit und der gegenseitigen Ehrenbezeugungen geregelt. — Das ist der äußere Rahmen, der jedem Bild rumänischen Land-. lebens die kräftigen und anmutigen Konturen verleiht. Den inneren Halt empfangen diese Menschen von der Familie. Ihr sind die Interessen und Leidenschaften des einzelnen durchaus untergeordnet — ähnlich wie in der „Zadruga“ der Südslawen oder in den Sippenverbänden der mittelalterlichen Island-Bauern. Noch lebendiger und* farbiger wird das Bild des Dorfes und seiner Bewohner durch * die Gestalten am Rande und außerhalb des umfriedeten Kreises: die Landstreicher, Wandermusikanten, Vagabunden, Bettler und Wanderzigeuner. Und auch sie werden gelegentlich zu Hauptträgern der leidensdiaftlichen oder idyllischen Begebenheiten.

Für den Fremden und auf den ersten Blick mag diese Welt etwas Exotisch-Buntes und Malerisches haben. Und in der Tat: an kräftigen und zarten Farben fehlt es nicht. Aber nicht sie machen den eigentümlichen Zauber dieser Bücher aus. Als den feinsten Reiz empfinden wir vielmehr die einfache, schmucklose Darstellung, die herbe Nüdi-ternheit — die mandier Leser vielleicht als eine gewisse Trockenheit empfinden mag. Die Dialoge dieser Bauernromane sind wortkarg und verhalten. Nur was unbedingt gesagt werden muß, wird ausgesprochen. Jedes Wort aber — oft sind es formelhafte oder sprichwörtliche Wendungen — hat besondere Bedeutung. Wenn „Stil“ soviel bedeutet wie die Ubereinstimmung aller Lebensäußerungen eines einzelnen oder einer Gemeinschaft, dann sind diese Dichtungen und ihre Gestalten im höchsten Grade stilvoll.

Es wäre ein Typus des Dichters denkbar, der sich als der direkte Fortsetzer der alten Schwankerzähler, Lieder- und Ballad'en-sänger fühlte. Dafür aber ist der neuere rumänische Dichter viel zu sehr Literat, um sich mit dem Sammeln oder der Nachahmung alten Volksgutes zufriedenzugeben. Denn die westlichen Erzähler und die großen Russen des 19. Jahrhunderts sind seine Vorbilder in der Form, die volkstümlichen Elemente aber durdiziehen wie goldene Fäden sein Kunstgewebe und verleihen ihm seinen eigentümlidien Glanz. Für diesen Stil von Mensch, Ding und Landschaft, wie wir ihn zu kennzeichnen versuditen, haben die neueren rumänischen Dichter eine Sprachform und einen Erzählerstil gefunden, der dem Dargestellten in hohem Maße entspricht. Hinter der Einfachheit ihrer Erzählkunst verbirgt sich ein Stilwille, den wir vielleicht besser verdeutlichen, wenn wir auf Hamsun oder — auf einer anderen Ebene — auf Stifter verweisen.

Wir wissen, daß die sehr rasche und etwas oberflächliche Aufnahme der westlichen Kultur- und Zivilisationsgüter einem Naturvolk in seiner Gesamtheit nicht immer gut bekommt. Diese scheinbare Veredelung ertrug auch das rumänische Volk nicht ohne Krisen und Erschütterungen, und es entstanden auf vielen Lebensgebieten jene schillern-

den zivilisatorischen Mischformen, die man — auf den Südosten bezogen — als „Balkanismen“ bezeichnet. Aber gerade auf dem Gebiete der Kunst bringt dieser rasche Assimilationsprozeß Produkte von höchstem künstlerischen Reiz, von seltenstem Raffinement hervor. Eine Erscheinung, die man nicht nur auf dem Gebiete der Literatur, sondern auch auf dem der Musik und der Malerei verfolgen kann. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß die bedeutendsten rumänischen Maler und Komponisten fast durchweg bei den französischen Impressionisten in die Schule gegangen sind. Der rumänische Prosaist hat also zu seinem Gegenstand ein durchaus un-

naives Verhältnis, ein „sentimentalisches“, mit Schiller zu sprechen; er sieht seine Mensdien und ihre Landschaft aus der Distanz und Perspektive des Großstädters und Zivi-lisationsmensdien. Das Dorf der Kindheit und der enge Kreis der Familie und Sippe, die gute Erde des Bauern und die Landschaft der Hirten erglänzten ihm in neuem Licht: er blickt auf sie mit den Augen des Menschen, der sich aus dem gesicherten “Umkreis des einfachen Lebens gelöst hat und sich im Wirrsal der Großstadt behaupten muß. Der elegische Grundton mancher neuerer Werke der rumänischen Literatur wird uns aus dieser geistigen und seelischen Situation ihrer Schöpfer verständlich.

Am deutlichsten tritt uns dieser Grundzug im Werk des Moldauers Mihail

Sadoveanu (geboren 1880) entgegen. Er schrieb seine ersten Romane 1904, als er der Poporanisten-Bewegung nahestand, wurde dann durch soziale Strömungen, Tolstoi und westliche Vorbilder beeinflußt (insbesondere durch Flaubert und Maupassant), stand als Chefredakteur einer führenden Tageszeitung mitten im öffentlichen Leben und hat bis zum Jahre 1942 über 60 Romane veröffentlicht. Trotzdem weist sein Werk keinerlei literatenhafte oder zivilisatorische Züge auf und scheint dem Einfluß der Tagesmode und „moderner“ Strömungen und Schulen vollständig entrückt. Sadoveanu blieb der Dichter der Bauern und Hirten, der die Wirklichkeit im Lichte des Traumes

sieht und die Vergangenheit seines Volkes beschwört zu ewiger Gegenwart. Er ist der Dichter der Natur und des geheimnisvollen „es war einmal“. „Das Geschlecht der Soi-mar“ (1915), „Der Zauberwald“ (1922), „Es kam eine Mühle den Sereth herabgeschwommen“ (1925), „Der Sohn der Wälder“ (1931) und „Die Nächte um Johanni“ (1934) sind die bezeichnenden Titel von einigen seiner Hauptwerke. Zwei seiner besten Romane und eine Erzählung wurden auch ins Deutsche übertragen („Nechifor Lipans Weib“, „Die Nächte um Johanni“ und „Sommersonnenwende“).

Der Siebenbürger Liviu Rebreanu (geboren 1885) ist der Schöpfer des psychologisch-realistischen Romans in der rumänischen Literatur. Er ist der geborene Epiker,

dem das umfassende historische Gemälde ebenso gelingt wie der packende Gegenwartsroman. Sein 1920 erschienener Roman „Ion“ spielt noch in der Welt des Bauern, weist aber durch die Art der Themenstellung und der Gestaltung in die Zukunft und wurde ein europäischer Erfolg. Rebreanus große Vorbilder sind Flaubert und Stendhal.

Cesar Petrescu (geboren 1892) begann als Publizist und war bis vor kurzem der meistgelesenste rumänische Autor, der fast jedes Jahr mit einem neuen Roman vor die Öffentlichkeit trat. Petrescu schrieb zunächst eine Reihe von Erzählungen, die die Hauptmotive seiner späteren Werke — Abneigung gegen das Stadtleben, Sehnsucht nach den einfachen Verhältnissen des Landes — anschlagen, verliert sich dann in psychiatrische und psychoanalytische Studien, entwirft in dem Roman „Die Siegesstraße“ („Calea Victoriei“, der Name der Hauptstraße von Bukarest) ein Bild vom Leben der rumänischen Hauptstadt in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg, in dem er die Verderbtheit von Politik, Justiz, Finanz und Presse in grellen Farben zeichnet, und schreibt — nach diesem Inferno, das für den Dichter aber nur ein Purgatorium war — jene beiden Romane, die ihn auf der Höhe seiner Schaffenskraft und philosophischen Weltbetrachtung zeigen und ihn auch dem deutschen Leser bekanntgemacht haben: „Der Schatz des Königs Dromichet“ (1931) und dessen Fortsetzung „Das schwarze Gold“ (1934). In diesen Romanen macht Petrescu die Zivilisation und den „Fortschritt“ zum Gegenstand seiner Studien. In beiden Romanen geht es um die Ausbeutung der Petroleumfelder, um den Kampf zwischen internationaler Hochfinanz und der alten Welt der Bauern. Der ehrfurchtlose, alles sezierende Gelehrte, der aus Ruhmsucht und Geldgier mit der Vergangenheit bricht, steht gegen die Traditionstreuen und Ehrfürchtigen. Es ist der Gegensatz zwischen ländlichem Leben und Industrialisierung, der Kampf des Landmanns gegen die zerstörerische Gewalt der Masdiine. Der Fortschritt, wie ihn Petrescu sieht, zerstört die alten Lebensformen und macht die Bauern, die er korrumpiert und verelendet, erst zu „Arbeiter-Bauern“, dann zu Vorstadtproletariern. Es ist die Tragödie des Fortschritts, die der Dichter darstellt. Aber Petrescu nimmt sie nicht passiv hin, sondern lehnt sich empört und erbittert gegen diesen Prozeß auf. Aber: so sehr'wif mit seiner bedrohten patriarchalischen Welt sympathisieren und so wenig wir seinen Gestalten, den Trägern der Tradition, unsere Teilnahme versagen können — Protest und Auflehnung gegen eine schicksalhafte Entwicklung scheinen uns nicht die letzte Lösung zu bedeuten. Sie zu finden und auszusagen wird die Aufgabe der jüngeren rumänischen Diditergeneration sein.

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