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Vom Begriff der Kultur

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T. S. Eliots neuestes Buch „Notes towards. the definition of culture“ — („Bemerkungen zum Begriff der Kultur“ — Faber and Faber, Oktober 1948) hat bei seinem Erscheinen zunächst nur jene Beachtung gefunden, deren heute jedes Buch dieses jüngsten Literatur-Nobelpreisträgers sicher sein kann. Man erwartet von ihm im allgemeinen gute Lyrik und gute literarische Kritik zu besonderen Themen: vielleicht auch kluge, unsystematische Bemerkungen zu theoretischen Kunstproblemen und zu sozialen Fragen der europäischen Gegenwart, wie er sie in den verschiedenen Vorreden zu Büchern seines Verlagshauses Faber and Faber gegeben hat — am bemerkenswertesten wohl in der Vorrede zu „The dark Face of the Moon“, dem Tagebuch einer unbekannten, geflüchteten Polin, die ein Opfer des politischen Mechanismus unserer Zeit geworden war.

Man muß vorausschicken, daß diese kulturphilosophische und zeitkritisdie Untersuchung an sieh nur wenig neue Züge zum Werk Eliots hinzufügt. Sdion der Titel sagt, was das Buch sein will: eine neuerliche Darlegung von zum großen Teil bereits in früheren Schriften ausgedrückten Gedanken, die hier, erneut abgedruckt, die beiden ersten Kapitel bilden. Aber auch die übrigen hier zum erstenmal veröffentlichten vier Kapitel führen im Grunde dieselben Gedanken nur noch näher aus. Dem vorsichtigen und bescheidenen Titel entspricht die Vorsicht der in edit englischen „Understatements“ gehaltenen Diktion. Man möge keine Definition erwarten — sagt der Verfasser —, sondern nur einige Überlegungen, die vielleicht in der Zukunft zur Formulierung des Begriffes der Kultur beitragen können. Einige Kritiken haben von einer gewollten „Trockenheit“ des ganzen Buches gesprochen. Doch ist Eliot keineswegs gleichgültig, wenn er an das Problem des Kulturverfalls denkt; im Gegenteil, dieses Problem beschäftigt ihn seit Beginn seines literarischen Schaffens und hat in dem weltberühmten Gedicht „Waste Land“ (1922) bereits seinen Niederschlag gefunden, Doch wird Eliots Leidenschaft durch das Bemühen um wissenschaftliche Exaktheit gedämpft, durch die genaue Begrenzung seiner Untersuchung und durch das Bestreben, dem Leser nicht mehr zu versprechen, als er tatsächlich in dem Buch finden wird. Und so weit geht diese Sorge, daß man sich nach den ersten Seiten unwillkürlich fragt, was denn nun also das Ziel des Buches ist, wenn wir all das ausgeschieden haben, was der Autor sagt — und es ist eine lange Liste — uns nicht geben zu wollen. Denn im Grunde ist da9 Buch ein vergebliches Suchen nach einer Definition — nach der Definition eines Begriffes, den 124 Seiten nicht zu definieren vermögen, den niemand zu definieren vermag, von dem man nur einen schwachen Schimmer haben kann, und als Schlußfolgerung ergibt sich, daß es um so besser ist, je weniger man da9 Wort „Kultur“ verwendet, und daß man es am besten überhaupt nicht gebrauchen sollte. So heißt es (S. 94): „Kultur kann nie ganz bewußt sein — es ist immer mehr in ihr enthalten, als wir uns bewußt sind, und sie kann nicht geplant sein, weil sie auch der unbewußte Untergrund alles Unseres Planens ist.“ Und S. 30 vollends: „Die Art, Kultur und Religion zu betrachten, die ich zu erhellen versucht habe, ist so schwierig, daß ich nicht sicher bin, de Selbst, außer in Blitzen, zu erfassen.“

Andererseits ist seine Untersuchung rein spekulativ: Eliot will hier nicht Propaganda für eine bestimmte Gesellschaftsform machen, ‘ in der — seiner Meinung nach — Kultur blühen und gedeihen kann. In der Tat kritisiert er jede bestehende Gesellschaftsform und jedes mehr oder weniger öffentlich verkündete Programm zur Erhaltung der Kultur. So voll dialektischer Vorsicht und Reserve ist dieses Buch, daß in der Zusammenfassung eigentlich herzlich wenig ausgesagt wird. Es enthält eine große Anzahl von Gemeinplätzen, wie sie sidi häufig in Werken auch bedeutender englischer Autoren finden, und Sätze, deren Gegenteil mit derselben Berechtigung behauptet werden könnte. Immer aber, wenn der Kern der Frage berührt wird, flüchtet sich der Autor in das Geheimnis des Unbewußten. Gewiß ist es sehr lobenswert, wenn man bestimmte Worte, die heute von allen mit gewissenloser Unbekümmertheit gebraucht werden, wie Demokratie, Persönlichkeit, Kultur usw., nur sparsam verwendet. Aber man kann doch kaum ein ganzes Buch fast ausschließlich auf dieser Zurückhaltung aufbauen. So wird Eliot dort erst interessant, wo er seinen zu nichts verpflichtenden Ton aufgibt und eine positive, menschliche Seite außerhalb der Grenzen dieser fruchtlosen Untersuchung enthüllt.

Aus der Kritik der verschiedenen sozialen Konzeptionen kann man die Gesellschaftsform erschließen, an die Eliot glaubt; es ist eine Gesellschaft, gegliedert in Klassen, di in regem wechselseitigem Austausch stehen und von, untereinander ebenfalls engverbundenen, Eliten durchsdinitten werden. Aber wo immer dieses Motiv angeschlagen wird, macht Eliot sofort darauf aufmerksam, daß es nur einen abstrakten Wert hat; er macht daraus kein praktisches soziales Krede, und die Verwirklichung ist auch weder möglich noch vorauszusehen; man kann nur behaupten, daß eine so gestaltete Gesellschaft die günstigsten Voraussetzungen für ein Fortleben der Kultur bieten würde. Ein Beispiel für den kultivierten Pessimismus, mit dem Eliot die zeitgenössischen sozialen Errungenschaften betrachtet: zwei soziale Errungenschaften, wie die Verlängerung des allgemeinen Unterrichts und die erweiterten Bildungsmöglichkeiten für alle sozialen Klassen, werden überaus geschickt auf ein gesellschaftliches Versagen zurückgeführt. Die Verlängerung der Schulzeit habe nicht den Zweck, den Kindern eine bessere Bildung zu vermitteln, sondern erwachse nur aus dem Bestreben, das Kind möglichst lange vor der von Grund auf verdorbenen Welt des modernen Erwerbslebens zu beschützen. Ähnliches gilt von der öffentlichen Erziehung: „Anstatt uns zu unserem Fortschritt zu beglückwünschen, so oft die Schule eine bisher den Eltern überlassene Verantwortlichkeit übernimmt, sollten wir’lieber zugeben, daß wir auf einem Zustand der Kultur angekommen sind, in dem die Familie unverantwortlich, unfähig oder hilflos ist; in dem man von den Eltern nicht erwarten kann, daß sie ihre Kinder ordentlich erziehen; in dem viele Eltern es sich nicht leisten können, sie ordentlich zu ernähren, und nicht wüßten wie, selbst wenn sie die Mittel dazu hätten; und daß das Erziehungswesen eingreifen muß, um aus einer schlechten Situation das Beste herauszuholen.“ (S. 104.)

Das ist nicht nur Eliots Beredsamkeit „at its best“, sondern auch ein altes Motiv — der Zorn über die fortschreitende Mechanisierung der Welt, über die Technisierung, der kejn ebensolcher geistiger Fortschritt entspricht. Es ist die Gefahr, vor der schon die besten Geister des vergangenen Jahrhunderts — unter anderem der alte Emerson — warnten und auf die Eliot immer wieder hinweist. Erinnern wir uns an einen prächtigen Absatz in „What is a classic?“ (1944, S. 30): „In unserer Zeit, da die Menschen mehr denn je geneigt sind, Weisheit mit Wissen und Wissen mit Unterrichtung zu verwechseln und Lebensprobleme mit Begriffen der Technik lösen wollen …“ und die düstere Vision der zukünftigen Gesellschaft, wenn unsere altehrwürdigen Bauwerke zerstört sein werden, „um den Platz frei zu machen, auf dem die barbarischen Nomaden der Zukunft mit ihren mechanisierten Karawanen karhpieren werden“. Beide Stellen zeigen in Gedanken und Stil den Essayisten Eliot auf voller Höhe, den Verfasser von „Tradition and the Individual Talent“, mit seinem scharfen historischen Sinn der Immanenz der Vergangenheit in der Gegenwart und der Präexistenz jedes gegenwärtigen Werks in der kulturellen Erbschaft der Menschheit.

Wenn wir von der verneinenden Seite dieser Betrachtungen absehen, bleiben vor allem zwei lebensvolle Abschnitte, die den Wert des Buches ausmachen: einmal die lange, wenn auch manchmal etwas verschwommene Diskussion über die Beziehungen von Religion und Kultur, andererseits die Polemik gegen den Kulturprovinzialismus. Das erste Problem wird eingehend behandelt, und es ist nicht Eliots Schuld, wenn die Frage der Einheit oder Verschiedenheit von Religion und Kultur zuletzt ungelöst bleibt. Gerade diese Diskussion zeigt eine seltsame Mischung einer ursprünglichen Glaubensglut des von völligem Atheismus zu einem überaus ernsthaften Anglikanismus konvertierten Dichters und einer eigenartigen Distanz, mit der der nichtkatholische Gläubige den menschlichen Wert des Glaubens betrachtet. Allerdings beschränkt sich hier die Untersuchung Eliots absichtlich nur auf die kulturelle Bedeutung der Religion. Diese stellt für ihn einerseits eine klar unterscheidbare Tätigkeit im Haushalt des Geistes dar, andererseits umfaßt sie aber die ganze Lebensform, den „way of life“ (S. 120) eines Volkes —, was zugleich die umfassendste der vielen möglichen Definitionen des Begriffs „Kultur“ ist. Unsere Kultur ist eine christliche Kultur; sie könnte daher das Erlöschen des christlichen Glaubens in Europa nicht überleben. So klar diese Erkenntnis an sich ist, so erklärt sie Eliot doch in einer sehr bezeichnenden Weise. Da unsere kulturellen Leistungen sich in einer christlichen Welt entfaltet haben, und nur eine christliche Kultur einen Voltaire und einen Nietzsche hervorbringen konnte, sei es für unsere Kultur notwendig, daß das Christentum als Glaube weiterlebe. Das heißt, es sei nicht notwendig, daß jeder einzelne glaube —, auch alles, was ein Nicht- gläubiger heute in Europa tue oder 6age, erwachse aus seiner christlichen Tradition, aber ein Prozentsatz der Europäer müsse glauben, und aus deren Gläubigkeit werde auch das unbewußte Christentum der Nicht- gläubigen genährt. „Wenn das Christentum vergeht, vergeht auch unsere ganze Kultur“ — folgert Eliot nicht nur als Christ, sondern auch „als ein Erforscher der sozialen Biologie.“

Der Provinzialismus war nach Eliot ein anderes Hemmnis für die europäische Kultur in den letzten 20 Jahren — „den 20 Jahren, meist verschleudert, den Jahren entre deux guerres“ („East Coker“ in „Vier Quartette“), Hier liegt eines der Grundmotive der literarischen Kritik Eliots, denn er fügt der ästhetischen Kunstauffassung, welche die Grundlage seiner Theorie bildet, stets auch ein ethisches Element hinzu — hierin durchaus in der Linie der englischen Tradition, welche das künstlerische Faktum nie völlig von der übrigen menschlichen Aktivität trennt. Gewiß fällt Eliot nicht in das Vorurteil der romantischen Kritik, die nur bestimmte Themen als künstlerisch gelten ließ: aber er befindet sich doch schon auf dieser gefährlichen Straße, wenn er eine Klassifizierung der Dichter auf Grund der Tiefe und Weite ihrer Welt vornimmt, wonach er Dante Shakespeare vorzieht und Vergil auf die höchste Stufe der literarischen Leiter setzt. Vergil ist für Eliot nicht „provincial“, wobei hier kein Provinzialismus des Raumes, sondern der Zeit gemeint ist, wenn die Geschichte keinen lebendigen Wert mehr darstellt, wenn die Welt nur mehr Besitz der Lebenden ist und die Toten darin keinen Platz mehr haben. „Alle Menschen dieser Welt zusammengenommen können provinziell sein“, hat Eliot schon in „What is a classic?“ gemahnt. Die Größe jeder Kultur bestehe nicht in ihrer Isolierung, sondern in ihrem Eingebettetsein in einer höheren Einheit.

So enthält dieses, in seiner Anlage weitgehend problematische Buch eine Reihe bedeutsamer Einzelfragen. Und es ist besonders interessant nicht nur für den, der sich rasch über die neuesten Überlegungen Eliots auf geistigem und sozialem Gebiet unterrichten will, sondern auch für den, der seine Dichtung liebt. Denn Eliot ist ein Dichter des Gedankens; und heute, nach den letzten „Quartetten“ und ihrem so meditierenden Charakter ist ein gründliches Studium seiner ideellen Vorstellungen mehr denn je notwendig für das Verständnis seiner Dichtung.

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