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Vom Kraftfeld Musil

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ROBERT MUSIL. Eine Untersuchung: zur Erkenntnis der Dichtung:. Von Gerhart Bau mann. Francke-Verlaf, Bern-München. 208 Selten, Leinen, 19.80 fr.

Wie weit das Phänomen Musil davon entfernt ist, durch uns, deren Lebensspanne noch Jahrzehnte in die seine hineinreicht, verstehend erschöpft zu sein, zeigt blitzartig erhellend auch diese profunde Analyse Baumanns, der als Ordinarius für neuere deutsche Literaturgeschichte in Freiburg im Breisgau wirkt. Allein schon die Kapitelfolge mit den Titeln: Das Feld — Die Zeit — Das Ich — Vereinigungen — Koexistierende Möglichkeiten — Geist der Struktur verrät dem Kundigen etwas von den Ansätzen, die der Verfasser nutzt. Da heißt es in der Untersuchung des „Feldes” fast beiläufig: „Immer Wieder pflegt Musil verschiedene Besetzungsmöglichkeiten (von Szenen. Anm. d. R.) durchzuspielen… Ihm ist es weithin gleichgültig, welche Figuren, in ein schon vorhandenes Feld eingesetzt, bestimmte Vorgänigeauslösen…” Im Kapitel „Zeit” finden wir angemerkt: „Simultaneität und Vielgesichtigkelt, das Mehrwertige und Vieldeutige der Bewußtseinslagen und Gefühlszustände, erschweren freilich den Zugang… Die Fähigkeit des Lesers, der im Ursprungssinn wieder zum sinnvollen Sammler werden muß, gilt es zu wecken.” Und in „Das Ich” lesen wir: „Jene grauenhafte Selbstentiremaung aringt in aas aewum- sein, welche nie verstummend das österreichische Schrifttum begleitet, begünstigt von den hintergründigen Bewußtseinszuständen des spanischen Geistes, der hier sich immer wirksam erhalten hat; kaum eine Figur Grillparzers, die nicht von diesem unaufhörlichen Treubruch (gegenüber dem Ich. Anm. d. R.) betroffen.”

Wer je mit Musils Werk gerungen, weiß zu ermessen, wie hoch derartige Durchblicke, Spektralanalysen gleich, zu bewerten sind, weiß auch, wie sehr die Tiefenschau in seine Texte zugleich eine solche in subtilste Wesenszüge des österreichertums schlechthin sind. Nehmen wir in den Blick, welche selektive Differenzierungskraft einerseits und welche Affinität den Gewordenheiten unseres Landes gegenüber im Verfasser walten müssen, ehe er aus ungeheurem Faktendrang zu solch gültig komprimierten Sentenzen gelangt, wird uns klar, daß er für seine Leistung unsererseits rechtens mit Titeln und Auszeichnungen geehrt werden müßte.

Im Kapitel „Vereinigungen” erkennt Baumann: „Genauigkeit und Magie verknüpfen sich verwandt wie in gewissen Partien der drosteschen , Judenbuche’… Wie abwechselnd Nüchternheit und Ekstase, Ferne und Nähe, Persönliches und Unpersönliches sich wechselseitig ausgestalten, so lassen sich an jedem Gefühl zwei Seiten unterscheiden. Es besitzt hintergründige Bedeutung, wenn Ulrich in den .Atemzügen eines Sommertages’ zu Agathe allein von der ,appetitiven’ Seite spricht, die kontemplative jedoch ausspart.” Und im Abschnitt „Koexistierende Möglichkeiten” formuliert er: „Nicht mehr das Geschehen fixierter Augenblicke verdichtet sich, sondern die immer beweglichen Bewußtseinszustände und Gefühlslagen, die Zwischenwerte zwischen dem, woran man sich erinnert und demjenigen, was man erblickt; zwischen demjenigen, was man denkt und dem, was man tut; dem, was man spricht und dem, was man sich dabei vorstellt; ein Komplex, der dem unübersehbaren, oft verdeckten Miteinander von Überlagerungen, Durchdringungen, Interferenzen gerecht zu werden vermag.”

Die Zitierungen sagen dem Freund des Musilschen Werks mehr über das Buch, als wir in der Rolle der Betrachter des Betrachters zu sagen vermögen oder wünschen, und sie enthalten in nuce die ganze Weite des entfalteten Panoramas. Dennoch müssen wir trotz der gebotenen Kürze unseres Hinweises eines hinzufügen. Als Erlebnis ist es atemraubend, zu verfolgen, wie der Verfasser mit wissenschaftlicher Akribie und detektivischer Neugierde diesem Musil Schritt um Schritt auf seine Schliche kommt: Dais ist dais Abenteuer, das uns packt. Darüber aber steht ein Höheres: Mit jeder Einsicht und Entdeckung, die Baumann vollbringt, geschieht nicht wie in allzu- vielen gelehrten Publikationen, daß der Atem- und Anmutungsraum sich ln den Kammern gesicherter Erlebnisse bis zur Beklemmung verengt. Im Gegenteil, wer mit Baumann die Mu3ilsche Welt durchstreift, dem eröffnen sich immer neue Bezüge, Fernblicke, ihm weitet sich das Reich des Geistes beglückend ins durch den Menschen Unbegrenzbare. Darum das frischeste Lob, das einem Literaturhistoriker gesagt werden kann: Baumann sargt sein Objekt nicht museal ein, um es zu besitzen, sondern er macht es erst recht lebendig mit allen Attributen letzter Unbegreiflichkeit — um desto sicherer in einem kongenialen Begreifen zu bestehen.

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