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Vom Medizinmann zu Dealer und Junkie

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Drogen sind heute selbst im Schulhof keine Seltenheit mehr (siehe Dossier). Unsere Gesellschaft steht dem Problem hilflos und seiner historischen Entwicklung unehrlich gegenüber.

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Drogen sind heute selbst im Schulhof keine Seltenheit mehr (siehe Dossier). Unsere Gesellschaft steht dem Problem hilflos und seiner historischen Entwicklung unehrlich gegenüber.

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Sie machen den seelisch Gepeinigten lastfrei, den Schmerzdurch-wühlten oder dem Tode Geweihten hoffnungserfüllt, dem durch Arbeit Geschwächten geben sie neue Leistungsimpulse, die auch ein starker Wille nicht zustande brächte, und dem nach der Arbeit weltscheu und stumpf Gewordenen eine Stunde innerlichen Behagens und Zufriedenseins.”

So steht's geschrieben. In Louis Le-wins „Phantastica”, einer der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über Drogen, erschienen 1924.

Der Konsum von Rauschmitteln ist wohl fast so alt wie die Menschheit selbst, die Erforschung ihrer Wirkungen, Folgen und Gefahren war aberlange ein Stiefkind. Auch der Toxikologe Lewin hatte gegen heftigen Widerstand zu kämpfen, als er Ende des vorigen Jahrhunderts zu beweisen versuchte, daß das in der Medizin als Opiumersatz verwendete Morphin süchtig macht. Dem geborenen Levi Levin-stein - in wissenschaftlichen Publikationen schnoddrig als „der Judenjunge” verlacht - wurde entgegengehalten, Sucht basiere rein auf Charakterschwäche.

Die Erforschung von Drogen hängt eng mit der Psychologie des Individuums zusammen. Aber erst Ende des 19. Jahrhunderts erwachte mit Sigmund Freud das Interesse an den Gefühlen, den Trieben, er kämpfte gegen ihre Verdrängung, doch suchte auch er eher Wege sie zu bewältigen, mit ihnen fer-tigzuwerden, als sie auszuleben.

Lewin schließlich entdeckte und beschrieb, wie Gefühle durch Drogen beeinflußt werden können. Das dafür erforderliche Wissen bezog er - wie damals üblich (man denke zum Beispiel an etliche Kokainexperimente Freuds!) - aus Erfahrungen am eigenen Leib. Er hortete in seiner Wohnung in Leipzig 20.000 verschiedene Drogenpräparate, die er alle selbst ausprobiert haben soll. Daß er diese Prozeduren trotz wiederholter schwerer Vergiftungserscheinungen überlebt hat, war wohl seiner robusten Konstitution und einer gehörigen Portion Glück zu verdanken. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bauschmitteln aller Art hat aber schließlich auch etliche hervorgebracht. Auf den ersten Blick ist es paradox, daß durch Medizin und

Pharmakologie, die sich doch der Heilung von Krankheiten, also der Gesundheit verschrieben haben, einige der heute besonders bedenklichen synthetischen Drogen erst entstehen konnten. Aber erstens hängt die Wirkung bekanntlich von der Dosis ab, und zweitens ist die Wissenschaft in stetiger Weiterentwicklung begriffen.

Aspirin und Heroin

Ein tragische Beispiel dafür war 1898 der Versuch der Firma Bayer, einen Ersatz für die oft in die Sucht führenden Morphine zu finden. (Um die Jahrhundertwende gab es auch in Europa etliche Opiumhöhlen!) Zwei Jahre vorher war dem Pharmaunternehmen das „Medikament des Jahrhunderts” geglückt, nämlich Aspirin, doch diesmal war das Ergebnis das zunächst als „nicht süchtigmachend” hochgepriesene - Heroin. Der Irrtum war bereits wenige Jahre später bekannt, das „Medikament” wurde auf den Schwarzmarkt gedrängt, wo heute an diesem spottbillig herstellbaren Stoff Unsummen verdient werden ...

Die meisten Maßnahmen, die zur Bewältigung von Drogenproblemen ergriffen werden, sind umstritten. Die steigende Anzahl der Süchtigen verlangt nach neuen Lösungsansätzen. Den alten wird vorgeworfen, daß sie die

Probleme nicht an der Wurzel packen, und laut Wolfgang Schmidbauer und Jürgen vom Scheidt (den Autoren des „Handbuches) der Bauschdrogen”) ist die Wurzel eine triebfeindliche Erziehung gekoppelt mit Leistungsdressur. Viele suchen Halt in den eingangs beschriebenen erlösenden Illusionen, die die Rauschmittel ihnen bieten, und stolpern in den Abgrund der Sucht.

Den Drogenproblemen der westlichen Zivilisation halten Experten den Umgang der sogenannten „primitiven” Gesellschaften mit Drogen entgegen. Zustände des Rausches sind da untrennbar mit Religion und Mythos und so auch mit dem sozialen Leben verbunden. Medizin und Religion waren lange Zeit eng verwandt. Der Medizinmann war Herr und Wissender über beides - und auch über Drogen. Rauschzustände haben in archaischen Traditionen ihren angestammten Platz, und sie sind so in die Gesellschaft integriert, daß sie keinen Mißbrauch provozieren (oder nur in vergleichsweise sehr geringem Maße).

Unsere Zivilisation hat aber den Umgang mit diesen Mittelnschon lange verlernt (und wird ihn vermutlich auch nie wieder lernen) und sucht die

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Lösung nun in der Verdammung und Verdrängung und oft in der Darstellung der Drogen als einem Problem, das von außen komme, mit dem unsere (europäische) Gesellschaft eigentlich nichts zu schaffen habe. Der weltweite Handel habe (besonders in den letzten Jahrzehnten) eben auch Drogenprobleme ins Land gebracht...

Aber vor etwa 150 Jahren führte ein europäischer Staat den Opiumkrieg, mit keinem anderen Ziel, als Rauschgift lukrativ nach China exportieren zu können ...

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