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Vom Theater zum Antitheater

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FORMEN DES MODERNEN DRAMAS. Eine Einführung von Erich F r a n z e n. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München. 183 Seiten. Leinen. Preis 8.80 DM.

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FORMEN DES MODERNEN DRAMAS. Eine Einführung von Erich F r a n z e n. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München. 183 Seiten. Leinen. Preis 8.80 DM.

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Wo steht das moderne Theater heute? Wohin führt sein Weg? Gibt es ein Theater, das unserer Zeit entspricht, und wie sieht es aus? Solche Fragen werden gestellt, wo verantwortungsbewußt für das Theater geschrieben und gespielt, wo mit wachem Geist Theater besucht wird. Allen Unkenrufen zum Trotz ist das Theater nicht gestorben, sondern erfreut sich in einer Periode kaum zu überbietender Konkurrenz durch die bekannten Massenmedien steigenden Besuchs. Also gibt es auch für den modernen Menschen Erlebnisse, die das Theater, und nur das Theater, zu vermitteln vermag.

Was die geistige Krise des Theaters genannt wurde und wird, ist tatsächlich eine zwar verwirrende, dafür aber um so schöpferischere Zeitspanne voll geballttY1 produktiver Potenz. Großartiges Gelings-«1 und Scheitern begleitet die Neuerer und Revolutionäre. Man denkt an Aitaud, Craig, Kaiser, Barrault, die versuchen, durch Mimik und Gebärden des Körpers zu sagen, was eine ermüdete Sprache nicht ausdrücken kann, denkt auch an Beckett, in dessen Stücken Szenenanweisungen und Pausen viel Raum einnehmen; man erinnert sich der Versuche Vilars, anknüpfend an altfranzösischen Bühnenstil, ohne Kulissen und Hintergrund zu spielen, um die Einbildungskraft des Publikums zu intensiverer Leistung zu zwingen; man zitiert den Ausspruch von Elmer Rice, der den Helden des neuen Dramas ein verwirrtes Geschöpf, umhertappend im Wirrsal der Machtlosigkeit gegenüber der Umwelt, nennt: Dürrenmatt steht als Beispiel für jene, die das Tragische durch Komödie und Groteske zu bannen suchen; Ionescu, Genet und nochmals Beckett, die bei aller Verschiedenheit im einzelnen das Absurde forcieren, bis an die Grenze des Sagbaren, bis zur Evoziierung des Nichts.

Schon diese wenigen Namen zeigen, gleich ob man die von ihren Trägern gefolgerten Tendenzen bejaht oder ablehnt, eine Fülle heterogener Möglichkeiten, zeigen die Präsenz eines nie dagewesenen Reichtums auf. Dazu kommt eine wechselweise wirksam werdende Virulenz vergangener theatralistischer Stile und Entdek-kungen von der Antike bis zum Expressionismus, die vom rastlos suchenden Zeitgeist oft jäh erfaßt, ans Rampenlicht gezogen und wieder fallengelassen werden. Alles ist in Bewegung, Barlach, Pirandello, Brecht, Namen, Programme, Aristoteles, Aischylos, Shakespeare stehen immer wieder vor uns, man sieht die Linie, die von Anouilh zu Giraudoux und weiter zu Moliere führt. Vor allein aber liegt der Schwerpunkt der Dynamik gegenwärtig immer noch bei den Revolutionären und Avantgardisten, und noch nicht bei jenen, die an eine Integration des gewonnenen Neulands in ein größeres Ganzes glauben.

Diesen Phänomenen rückt Erich Franzen mit einer Fülle glänzend gewählten exemplarischen Materials an den Leib, ein gutes Hundert Autoren zitierend und unter Wiedergabe zahlreicher Szenenbeispiele. Er vergleicht, kontrastiert, nimmt temperamentvoll Stellung, so daß seine Ausführungen ein Abbild der lebendigen Spannungen ergeben, die die Welt des Theaters erfüllen, den Blick immer auf Wesentliches gerichtet, mit Takt und sicherem Geschmack ausgestattet, auch dort, wo Polemik unerläßlich wird, wie etwa in den Streiflichtern über allzu traditionsverhaftete oder von der Ichbezogenheit ihrer Erlebnisse nicht loskommende deutsche Gegenwartsautoren. Auf diese Weise ist Franzens letztes Werk zugleich ein Leitfaden für den Laien geworden wie auch eine anregende, zur Auseinandersetzung herausfordernde Lektüre für Künstler und Theaterfachleute, zumal für Autoren.

Sowenig der Mensch in. seiner innersten Struktur sich ändert, so wichtig sind doch die Wandlungen seines Verhaltens und seiner Denkweise in ihrer Abhängigkeit von Umwelt und Gesellschaft, ein Gesichtspunkt, den Franzen erfreulich klar präzisiert, wenn auch auf engem Raum nicht ausführlich darzulegen imstande ist. Wer sich durch verblüffende Erscheinungen auf dem Boden des Theaters (und der Kunst von heute im allgemeinen) schok-kieren läßt, möge erwägen, daß es zwar nicht der Bühne vornehmster Zweck, doch ihr stetes Schicksal ist, auch Spiegel der Zeit zu sein. ^nfÖerOgrol-Vs nnn“Öin^! s-e&#176; im Zuge r^m<3ti&#171;üufthdjähfl^foscrrmte wirklich erstmalig und neu sind, die wir aber auch von den anderen Künsten und manchen Sparten des geistigen Lebens Ler kennen War das Theater bisher ausnahmslos Ausdruck und Abbild geistiger Zustände, sei es der Antike, sei es der religiösen Inbrunst des Mittelalters, sei es der sozialen Revolution der Neuzeit, so ist es all dies nur mehr in geringerem Maß als jemals. Der Zerfall der ' hierarchischen Ordnung, in der auch das Theater seinen Platz hatte, die Verabsolutierung der Einzelerscheinung und ihre Demokratisierung in unserer pluralistischen Gesellschaft haben auch vor den Brettern, die immer noch die Welt bedeuten, nicht haltgemacht. Das Theater hat sich, zumal dort, wo ernsthaft um Neues, um die Bewältigung des Daseins in einer unübersichtlich gewordenen Welt gerungen wird, emanzipiert. Wie sieht diese Emanzipation aus? Das Theater als Idee, wie i\e gerade in den besten Geistern der Zeit lebt, ist nicht mehr Abbild von etwas, sondern Theater an sich, ist Experimentierfeld des Geistes, ist Schnittpunkt der gärenden Lebenskräfte, ist praktischer und zugleich imaginärer Raum, in dems- an 'Ort und Stelle Entscheidungen gefordert und gefällt werden. Das ist unbequem und nicht jedermanns Sache. Das ergibt ungeheure Verantwortung, ergibt Furcht und Gnade, Mißlingen und Gelingen. Hier, im Theater, das sich im Dienst am Menschen selbst erneuert, wird ein Publikum gerufen, das bereit ist, aus der passiven Rolle des Zuschauers, der Unterhaltung sucht, in die des Menschen, der geistige Arbeit leistet, hinüberzuwechseln.

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