Vom Wiener Prater ins Dschungelcamp

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Als Gegenbild zur Zivilisation ist die Wildnis immer auch ein Spiegel unserer kulturellen Bedürfnisse. Neu ist die Einsicht, dass Wildnis heute mehr denn je tatsächlich bedroht ist.

Ob Yellowstone, Yosemite oder Glacier National Park, wer Nationalparks in den Vereinigten Staaten von Amerika besucht, wird im Besucherzentrum auf Wilderness Areas aufmerksam gemacht, in denen keine befestigten Straßen existieren und in denen auch das Fahrradfahren verboten ist. Besucherinnen und Besucher, die Wanderungen im "backcountry“ machen wollen, müssen sich bei der Nationalparkverwaltung an- und abmelden, zur eigenen Sicherheit, wie betont wird. Dafür erwartet die Wanderer eine besonders natürliche Umgebung, mit etwas Glück inklusive Begegnung mit wilden Tieren.

Etwa die Hälfte der Fläche der US-Nationalparks ist durch den "Wilderness Act“ von 1964 speziell geschützt, als die "natürlichste Natur“, die sich die Industriegesellschaft leistet. Der menschliche Drang nach Ordnung und Kategorisierung hat sich auch hier manifestiert. Keine Frage, diese Wildnis ist bedroht. Als schützenswerte Wildnis ist sie eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Ihre Existenz als Schutzgut beruht auf der Ausbreitung menschlich überformter Landschaften im Zuge und als Folge der Industrialisierung.

Wildnis als Kulisse

Die Wildnis wird als Gegenwelt positiv besetzt, allerdings, das sollte nicht vergessen werden, ist sie durch rechtliche Regelungen gezähmt. Daher kann man sie auch auf Karten genau abgegrenzt einzeichnen. Die positive ästhetische Aufladung wird medial verstärkt. Die Fotografien der menschenleeren Landschaft schwanken zwischen idyllisch, pittoresk und dramatisch, wie sich durch eine Bildersuche unter dem Stichwort "wilderness“ oder "Wildnis“ im Internet schnell feststellen lässt. National Geographic brachte es 2009 auf den Punkt, mit einer Reportage aus den Rocky Mountains unter dem Titel "Wildnis - wie gemalt“. So soll sie sein, die bedrohte Wildnis dient als Kulisse am Rand der zivilisierten Welt.

Szenenwechsel ins Dschungelcamp, dieser Bewährungsprobe für B-Promis vor zahlendem TV-Publikum. Der australische Dschungel tritt hier als Wildnis auf den Plan, als Gegend, die sich eignet, um Heldentum zu demonstrieren. Das Konzept des Dschungelcamps beruht auf der angst- und ekelerregenden Qualität der wilden Natur, insbesondere Nagetiere und Insekten in allen Stadien der Metamorphose eignen sich sehr gut, wie eine Stichprobe der "Prüfungen“ belegt.

"Gelsen und Dreck“

Unter solchen Vorzeichen wurde bis zur Industrialisierung Wildnis wahrgenommen. Doch auch im postindustriellen Format der Reality-Show ist die Wildnis gezähmt, ihre Wildheit auf ein Ziel gerichtet, nämlich auf die oft wenig bekleidete Figur des Sternchens, das damit auf die Probe gestellt wird. Ob es um den gläsernen Kakerlakensarg geht, oder um die zahlreichen ekelerregenden Kostproben wilder Natur, die es zu essen und zu trinken gilt, der Körper muss vom Geist im Zaum gehalten werden. Es gilt, gegen die Instinkte anzukämpfen. Damit führen die Dschungelkämpfer eine Variante des Urdramas der Menschheitsgeschichte auf: den Kampf um die Zivilisierung der inneren Natur als Voraussetzung für den Kampf gegen die äußere Natur. Dafür ist Wildnis als "natürlichste Natur“ nötig, in dieser Rolle ist sie weder bedroht noch schützenswert, sondern ganz im Gegenteil übermächtig und bedrohlich, zumindest soweit die TV-Kameras reichen.

Ein wenig erinnert das Spektakel an die Gladiatorenkämpfe in den römischen Arenen, in denen gut trainierte Spezialisten auf Leben und Tod gegen wilde Tiere kämpften. Späterhin ließ man nur mehr Tiere aufeinander los, um den Kick der Wildnis ging es dabei immer noch. Mozarts Kanon "Gehen wir im Prater“ handelt von der Hetz, der Tierhatz, die als Spektakel in Wien eingeführt und sehr beliebt war. Bis heute haben die Wiener "eine Hetz“, wenn sie sich amüsieren. Kaum anzunehmen, dass die Dschungelcampmacher Mozart hören, doch liest sich der Text des Kanons wie eine Anleitung zu den Ingredienzien von Dschungelprüfungen: Mozart weiß ein Lied davon zu singen, wo die Wildnis tatsächlich liegt, denn im Wiener Prater gibt es Gelsen und Dreck:

Gehn wir im Prater, gehn wir in d’Hetz, / gehn wir zum Kasperl, zum Kasperl, zum Kasperl. / Der Kasperl ist krank, der Bär ist verreckt, / was tät’ma in der Hetz drauß, in der Hetz drauß, in der Hetz drauß? / Im Prater gibt’s Gelsen und Haufen voll Dreck, / im Prater, im Prater gibt’s Dreck. / Der Bär ist verreckt, der Kasperl ist krank, / und im Prater gibt’s Haufen voll Dreck, / voll Dreck, voll Dreck. [KV 558, 2.9. 1788]

Von Wildnis wird geredet, wenn es um ihr Gegenteil geht, um die Zivilisation, um die Kultur, um die Ordnung. Wildnis und Chaos sind Verwandte. Die Bewertung der Wildnis als positiv oder negativ, als bedroht oder bedrohlich hängt ganz stark davon ab, ob die Zivilisation als positiver oder negativer Pol interpretiert wird: Wer die Überwindung der Natur, ob der äußeren oder der inneren auf seine Fahnen heftet, braucht Wildnis als Bedrohung und die darin befindlichen Wilden sind erstens zu bedauern und zweitens Objekte der Zivilisierung.

Wer die Zivilisation zu kritisieren wünscht, ob als dekadent oder hypertroph ist dafür ganz egal, sieht edle Wilde, deren ursprünglicher Lebenswandel sie in Einklang mit der Natur beließ, während die zivilisierten Menschen Instinkte gegen Geschmack tauschten und dabei verloren, was wahren Wert hat. Die Wildnis als positive Gegenwelt zur Zivilisation ist durch Vitalität und Robustheit geprägt. Beide Konstruktionen haben eines gemeinsam: Sie sind genau das, Konstruktionen, die wir herstellen, weil sie eine wichtige Funktion für uns haben, als Spiegel, den wir uns in verschiedener Absicht vorhalten.

All dies ist nicht neu. Rousseau ist in der europäischen Geschichte einer der wichtigsten Apostel der Wildnis. Die Natur des Menschen sei gut, die sozialen Verhältnisse machten ihn schlecht, so kann sein Argument verkürzend gefasst werden.

Neu ist das Ausmaß an Wahrheit, das die Konstruktion bedrohter Wildnis inzwischen aufweist. Wir befinden uns mittlerweile in der sechsten großen Ausrottungsepisode der Erdgeschichte. Dafür braucht es keinen Kometen, die Spezies Mensch reicht bereits aus. Je nach Berechnungsmethode eignet sich diese Spezies in den neun Milliarden Exemplaren, zu denen sie es inzwischen gebracht hat, 25-30 Prozent der Nettoproduktion an Biomasse auf diesem Planeten an.

Ökologischer Fußabdruck

Durch die Ausbreitung unseres Nahrungsnetzes, aus dem wir pflanzliche Biomasse entweder direkt oder indirekt holen, wird es für andere Spezies eng. Das Phänomen wird Flächenkonkurrenz genannt, oder auch Habitatverlust und Landschaftszerschneidung - je nach Wissenschaftsdisziplin. Immer geht es um die Folgen der menschlichen Ernährungs- und Wirtschaftsweise. Was wir als Gegenbild zur Verderbtheit der Zivilisation konstruiert haben, die bedrohte Wildnis, ist nach allen statistisch verfügbaren Daten inzwischen tatsächlich bedroht, in welcher Form auch immer, ob als arktische Polkappe durch globale Erwärmung oder ob als Orang Utan in Folge von menschlicher Landnahme in den Tropen. Der Reisende John Josselyn schrieb 1672 in "New England Rarities Discovered” über den Breitwegerich in einer Liste von Pflanzen, die dort wuchsen, wo die Engländer Landbau oder Viehzucht betrieben. "Plantain, which the Indians call English-Man’s Foot, as though produced by their treading.“ Der Fuß des weißen Mannes wandelte sich in den 300 Jahren seit Josselyn zum ökologischen Fußabdruck eines Riesen, der nun tatsächlich die Wildnis bedroht.

Die Autorin ist Professorin für Umweltgeschichte an der Univ. Klagenfurt und Österreichs Wissenschafterin des Jahres 2013

Geschichte unserer Umwelt

Sechzig Reisen durch die Zeit.

Von V. Winiwarter, H.R. Bork. Primus 2014.

192 Seiten, geb., e 41,10

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