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VON DELPHI NACH OLYMPIA

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Nichts ist schöner als an einem klaren Frühlingsmorgen In die weite Welt zu fahren. Dazu muß man kein Eichendorff sein. Gleich hinter Delphi senkt sich die Straße in steilen Kehren ins Tal hinab, in dieses Tal, das von oben wie ein silbergrüner Strom aussah. Ich blicke zurück. Hoch oben, zusammengedrängt wie eine ängstliche Herde inmitten der unwirtlichen Welt, liegt Delphi, die weißen kleinen Häuser mit ihren Baikonen und Terrassen, die man schon nicht mehr ausnimmt. Daß der Geist sich nirgends lieber niederläßt als in öden furchteinflößenden Gegenden. Montserrat, Delphi. Ich werde oft an dich denken müssen. Und in Delphi an den Knaben, der sein Glück nicht zeigt und dem es doch von Stirn und Lippen leuchtet. — Im Tal angelangt, wenden wir uns nicht dem Meer, sondern den Bergen zu. Eine schnurgerade Straße führt durch einen kilometerlangen Olivenwald auf das Gebirge zu. Der Blick verliert sich zwischen den alten, seltsam gewundenen Stämmen. Die Sonne spielt in dem silbernen Lauf, malt hellblaue Schatten auf den blaugrünen Grund. Etwas freundlich Geheimnisvolles weht uns entgegen. So müssen die Haine ausgesehen haben, in denen die Nymphen mit feuchtem Haar einander die Hände zum Tanze reichten, die Dryaden mit erdbraunen Augen, hinter der rissigen Rinde versteckt, dem Gange der Sterblichen folgten, die Musen ihre himmelfarbenen Schleier vom Tau der Nacht trockneten. Und es würde mich gar nicht wundern, wenn sich das Eselohen, das uns mit abgezirkelten Schritten entgegenkommt, sobald wir außer Hörweite sind, mit der alten Hexe auf seinem Rücken in griechischen Versen unterhielte.

Amphissa, die Stadt am Ende dieses Märchenhaines, hat eine sehr realistische Beziehung zu ihm: sie lebt von seinen Früchten. Das Öl von Amphissa ist berühmt. Überall findet man es in Flaschen, Kanistern und Krügen in den Läden ausgestellt. Diese Läden sind bescheiden wie die Häuser, die Plätze, die Straßen. Die Kirchen sind neu und weiß, die Straßen breit und rein, die Plätze ohne rechten Sinn, denn sie sind nicht ausgespart und bedrängt von Häusern, sondern zu groß, unordentlich begrenzt, ohne Mittelpunkt. Wo wir ankommen, ist solch ein Platz. Vor ein paar schäbigen Cafes stehen schäbige Sessel, auf denen schäbig angezogene Männer sitzen. Aber was hat das zu sagen? Rundherum stehen die Berge, blicken mit ihren steinernen Gesichtern herab, und am Ende des Ortes erhebt sich ein felsiger Hügel mit einer weitläufigen imposanten Ruine. Es sind nicht antike Trümmer, wie man mich belehrt, sondern eine der byzantinischen Festungen, die von den Türken erobert und geschleift wurden. Man geht bis an das Ende der Stadt (nicht allzuweit) und dann beginnt der Aufstieg. Kleine Häuser mit Blumen pressen sich an den steilen Hang. Die Sonne lehnt sich an Felsen und Dächer. Plötzlich sind die Häuser aus, die Straße verwandelt sich in einen unordentlichen Pfad. Man ist im Wald. Pinien, deren Nadeln den Boden glatt machen. Zwischen den Stämmen vertraulich drohend die altersgrauen Quadern einer Mauer, ein schmales gotisches Tor, durch das man eintritt. Überall kniehohes Gras, Glockenblumen, Heckenrosen, die das verstreute Gemäuer umschmeicheln.

Ich taste mich vorsichtig vor. Die ursprüngliche Anlage ist noch gut zu erkennen. Da ist gleich zur Rechten eine Höhle, Stufen führen hinab. Ohne Zweifel das Verließ. Ein Ring in die Wand geschmiedet, eine Decke, so niedrig gewölbt, daß kein ordentlich gewachsener Mann aufrecht darunter stehen konnte, ein Bett aus Stein, ein seltsames Loch, wohl zu irgendeiner mittelalterlichen Folter bestimmt. Wie grausam das Dasein war. Was hat sich im Laufe der Jahrtausende geändert? Sind wir nicht immer noch die wilden Tiere, die einander nach dem Leben trachten, eines nach des anderen Blut lechzen? Ein Schatten fällt vom Eingang her über mich. „Das hier war die Backstube“, sagt eine Stimme in ungewandtem Englisch. Ein Bursche, eine Rute in der Hand, steigt zu mir herab. „Hier“, er deutet auf das Marterloch, „hat man das Brot eingeschoben, hier den Teig geknetet und rasten lassen.“ Ich fühle, wie töricht und betroffen ich aussehe. Er lächelt voll Zuversicht und Stolz, daß ich ihn verstanden habe. Wir steigen ans Licht. Eine Ziegenherde hat sich um den Ausgang versammelt, schaut mich neugierig an. Der Bursche schwingt die Rute. Sie schütteln die Köpfe. Ihre Glöckchen klingen hell und friedlich. Nichts von Waffengeklirr. Eine alte mit gelben Augen schnuppert an meiner Hand, wendet sich enttäuscht ab. Der Bursche besteht darauf, daß ich den Fels hinaufklettere, in dem der halb verfallene Bergfried wurzelt. Er nennt die Namen der Gipfel, die nah und doch ohne jede Vertraulichkeit auf uns niederblicken. Es ist, als wäre man nicht in Griechenland. Der Geist fränkischer Ritter, byzantinischer Grafen weht um diese Felsen...

Der Autobus nach Patras ist voll besetzt, aber sowie man mich als Fremden erkennt, wird mir der beste Platz eingeräumt. Mein Handkoffer wird nebst anderen auf dem Dach des Busses verstaut. Wir fahren aus der Stadt den Südhang hinauf. Wieder liegt der Olivenwald in silbergrünen Wogen unter uns. Das Meer blau und strahlend, aber schmal wie ein Fluß, Itea, die kleine Hafenstadt Delphis mit der einzigartigen Sammlung alter Galionsflguren, und jetzt Delphi selbst. Weiß und blitzend in der Sonne, hingelagert an den steilen unwirtlichen Abhang hoch über dem engen Tal, in dem der Pytho hauste. Ich sende ihm einen letzten Gruß zu. Selbst jetzt ergreift mich eine Rührung, eine Sehnsucht, der Wunsch, es wiederzusehen. Aber eigentlich ist es doch nur er, der Jüngling mit den zerrissenen Zügeln in der Rechten, den ich wiedersehen möchte. In ihm, in seinem feierlich ernsten, bescheiden stolzen Antlitz liegt der ganze Zauber Delphis, das Geheimnis jener Zeit beschlossen: daß man die Götter ehrte, ohne seine eigene Würde zu vergessen, daß sie Verbündete oder Gegner waren im Lebenskampf, aber nicht entrückte, unbewegte Mächte in einer fernen unzugänglichen Sphäre; daß sie sich unter die Menschen mischten, daß es sie freute, als ihresgleichen zu erscheinen, daß sie es nicht verschmähten, sie zu lieben, zu hassen, zu überlisten, Verträge mit ihnen zu schließen, zu brechen, sie zu entführen. Was sie vor ihnen voraus hatten, war die Unsterblichkeit und die Fähigkeit, jegliche Gestalt anzunehmen. Was die Menschen vor ihnen voraushatten, die Fülle des Lebens. Adieu, Delphi, adieu, schöner Jüngling.

Es ist eine stundenlange, wunderbar abwechslungsreiche Fahrt. Die Straße drückt sich hoch oben an steilen Hängen entlang, führt durch weite liebliche Täler, über Sättel und Grate, Bäche weisen den Weg, ein breiter Fluß windet sich dem Meer zu. Durch Wälder geht es und über üppige Triften, auf denen Herden weiden, über die der krumme Stab des Hirten wacht. Zwei-, dreimal halten wir bei Seitentälern an. Reisende steigen in kleine altvaterische Omnibusse um, Gepäck wird ab- und aufgeladen. Ich-schaue naeh rechts, nach links. Ich te oßte. vier..odeivsechs Augen brauchen. Ich bin vollkommen glücklich. Nicht die geringste Müdigkeit. Ich glaube, wenn ich tagelang durch dieses Land führe, ich würde mich nicht satt sehen an all dieser frischen, unberührten Schönheit. Und immer wieder das Meer, tief unten, leuchtend, unerwartet. Als wollte es sagen: hast du mich etwa über all dieser Pracht vergessen, aber ich bin auch noch da. Und dahinter die schneebedeckten Gipfel des Peloponnes.

Die Sonne neigt sich schon den Bergen zu, da wir durch das breite Tal des Mornos dem Meer zufahren. Aus dem steinigen Flußbett leuchten weiße und rote Sträuße blühenden Oleanders. Alles ist grün, fruchtbar und mit Wasser gesättigt. Endstation Nafpaktos. Es ist keine Zeit zu verlieren. Die letzte Fähre nach Patras geht in wenigen Minuten. Ich verlange meinen Koffer. Er ist nicht da. Mein erster Gedanke ist, daß er bei einer der vielen Kurven vom Verdeck geglitten ist. Aber der Fahrer schüttelt den Kopf. Vertauscht ist er worden. An einer dieser kleinen Haltestellen. Und dafür spricht, daß an Stelle meines kleinen Lederkoffers ein großes schwarzes Ungetüm herrenlos übrigbleibt. Was tun? Alles nimmt Anteil. Ich lasse meine Adresse in Athen zurück. Die Beamten versichern mir, daß der Koffer noch vor mir in Athen eintreffen wird. Ich überschlage in Gedanken, was alles darin und vielleicht für immer verloren ist. Grade genug. Die Fähre ist abgefahren. Aber es gibt noch eine Möglichkeit: per Taxi zu dem nächsten Ort, an dem sie anlegt. Wir rasen in einem vorsintflutlichen Auto eine schnurgerade Straße dahin. Wenn es nur nicht auseinanderbricht, denke ich. Und dann: warum war ich so glücklich? Man soll, man darf es nicht sein. Es macht die Götter neidisch. Wie werde ich mich rasieren, wie waschen ohne Seife? Kein Hemd als das, das ich seit gestern auf dem Leib trage, kein Nacht-anzug. Und die Bürste, der Kamm, die Zahnbürste? Und dann fällt mir ein, daß ich auf ein Haar mein Geld in den

Das Kloster Kesariani am Hymethes Koffer gepackt hätte, weil ich es für sicherer hielt als in der Tasche des Rockes, den man auszieht, über den Arm nimmt wenn man heiß hat, irgendwo liegen läßt, wenn man unterwegs aussteigt. Und mit einmal begreife ich, daß ich noch glimpflich davongekommen bin, daß ich Glück gehabt habe. Das Taxi hält. Die Fähre ist noch da. Ich zahle und greife nach meinem Koffer. Nein, nein, diese Belastung bin ich los. Da ist nichts mehr, woran ich denken muß. Und pfeifend besteige ich das Schiff. Ich singe, wie der Vogel singt... das heißt: ich bin aus einem Reisenden ein Tramp geworden.

Patras, die volkreichste Stadt des Peloponnes, ist ansehnlich und schön gelegen. Hier geht die offene See in die Meerenge von Korinth über. Wieder habe ich bis zum Abgang meines Zuges ein paar Stunden Aufenthalt. So lasse ich mich zuerst vor einem Hotel nieder und bestelle mein Abendessen. Den Himmel bedeckt eine dünne, einfarbig graue Wolkenschicht. Und nun beginnt es zu regnen, einzelne große Tropfen, dann viele kleine. Schließlich ist es ein leichter, enggewebter Schleier, der mich, die Häuser, die Ferne einhüllt. Diese Ferne besteht vor allem aus dem Arakyntos, einem einzelnen, tausend Meter hohen Berg jenseits des Golfes, halb Bienenstock, halb Maulwurfshügel, dem andere Berge über die Schulter schauen. Zu seinen Füßen liegt Missolunghi, der Ort, wo Lord Byron ertrank. Diesseits ist es der gleich hinter Patras ansteigende schneebedeckte Panachaikos, den ich schon (ohne ihn zu kennen) auf der Fahrt bewundert habe. Patras selbst, eine wichtige Handelsstadt, Ausfuhrplatz für Korinthen, Wein, Getreide, zeigt durch ihre großen Hotels, die hübschen Plätze und Anlagen am Hafen und nicht zuletzt durch ihre vielen Taxis ihren Wohlstand an. Der größere Teil der Stadt ist den Hügel hinaufgestiegen. Treppen verbinden das untere mit dem oberen Viertel. Nichts ist alt hier; die Stadt wurde 1821 von den Türken bis zum Grunde zerstört. Der hl. Andreas soll hier gekreuzigt worden sein.

Es ist Abend, da mein Zug kommt, Nacht, da er in Olympia eintrifft. Es hat zu regnen aufgehört. Die Luft ist frisch und kühl. Eine breite Straße, gesäumt von einstöckigen Häusern. Die Hälfte davon scheinen Gasthäuser. Das meine ist neu, noch nicht ganz fertiggebaut, rein und einfach. „Ihr Gepäck?“ fragt der Wirt, ein freundlicher Alter. Ich erkläre mein Mißgeschick. Dabei merke ich, daß ich mir schuldig und ein wenig minderwertig vorkomme. So als stünde ich vor dem Jüngsten Gericht und müßte, nach meinen guten Taten gefragt, sagen, daß sie mir unterwegs abhanden gekommen seien.

(Aus einem unveröffentlichten „Griechischen Tagebuch“)

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