6554342-1948_13_08.jpg

Von den Morgen- und den Abendmenschen

19451960198020002020

Selbst der von psychologischen und medizinischen Kenntnissen unbeschwerte Laie hat schon öfter die Beobachtung gemacht, daß ein und derselbe Mensch, mit dem ihn der Alltag in Verbindung bringt, vormittags oder frühmorgens völlig anders wirkt als abends.

19451960198020002020

Selbst der von psychologischen und medizinischen Kenntnissen unbeschwerte Laie hat schon öfter die Beobachtung gemacht, daß ein und derselbe Mensch, mit dem ihn der Alltag in Verbindung bringt, vormittags oder frühmorgens völlig anders wirkt als abends.

Werbung
Werbung
Werbung

Seine Art, etwas zu besprechen, zu tun oder zu lassen, hängt in starkem Ausmaß davon ab, zu welcher Tageszeit die Dinge an ihn herantreten. Die Frage, ob eine Angelegenheit früh am Tage oder spät abends besser oder schlechter verlaufen wäre, fällt in diesem Zusammen hang fort: es genügt die Feststellung der Selbsterkenntnis, daß sie vermutlich eine andere Wendung genommen hätte... Interessant und der Beschreibung wert bleibt allein die merkwürdige Tatsache, daß dem Temperament des einen Menschen die frühen Tagesstunden, dem des anderen die Zeit der Dämmerung und der Dunkelheit besser Zusagen. Der Mensch besitzt selbst das deutliche Gefühl für den Abschnitt innerhalb von vierundzwanzig Stunden, der für seine am vorteilhaftesten ist. Er weiß ziemlich genau, zu welcher Tageszeit er sich körperlich und seelisch am wohlsten fühlt, er kennt die Stunden, zu denen er über all seine Kräfte verfügt und die daher einer besonders ersprießlichen Tätigkeit günstig sind. Er fürchtet sich oft geradezu vor jenen Stunden, in denen er sozusagen nur zur Hälfte im Dasein steht. Es sind nicht wenige, dis unfehlbar spüren, daß ein Teil ihres Wesens zu gewissen Stunden lahmliegt, noch oder bereits schlummert, streikt, kurz: in den Ablauf des Lebensprozesses noch nicht oder nicht mehr einbezogen ist.

Die Frühaufsteher, die ohne viel Überwindung und Kämpfe aus den Federn springen, sind zur Morgenzeit in ihrem Element. Unabhängig von dem Wandel der Jahreszeit stürzen sie sich, deren Organismus von der Freude der ersten Tagesstunden wie durch ein stählernes Bad in den Vollbesitz seiner Kräfte gesetzt wird, auf ihre Arbeit. Sie gleichen auch innerlich dem neuen Tag, sind jung und tatbereit wie er, breiten sich in gleichem Tempo aus und sind in völliger Harmonie mit diesem. Es sind optimistische starke Naturen, denen nichts stärkeren Unmut verursacht, als unausgeschlafene, übernächtige und darob unlustige Gesichter vor sich zu sehen. Menschen, die einander sonst gut verstehen, geraten durch diese verschiedene Disposition häufig in Konflikt, meist sind es sogar bloß Kleinigkeiten, die sie gegeneinander aufbringen. Der Mensch des Morgens und des Vormittags lebt mit den licht- und wärmespendenden Eigenschaften der Sonne in verständnisvoller Gemeinschaft, fühlt sich durch ihre Kräfte geweckt, ermuntert und entfaltet zugleich mit ihrem Aufstieg eine wachsende' Tätigkeit. Der Kopf ist frei, ausgeruht, aufnahmebereit, der Körper, vom Schlaf erfrischt, in gleicher Verfassung und mit dem Geist in trefflicher Arbeitsgemeinschaft und Arbeitsbereitschaft verbunden. Geist und Körper stören einander nicht, im Gegenteil, sie steigern sich in diesen Stunden zu später nicht mehr erreichter Intensität der Ergänzung.

Besonders unter den geistig Schaffenden wirkt sich diese Kooperation fruchtbar aus. Der Dichter Gerhart Hauptmann zum Beispiel arbeitete nach seiner eigenen Angabe nur in den Morgen- oder Vormittagsstunden — so wie die englischen Dichter Shaw und Wells —, während er den Rest des Tages an Lektüre, Korrespondenz usw. verwendete. Natürlich spielt gerade beim Schriftsteller die Selbstdisziplin eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wer bloß auf den Moment der Eingebung oder die richtige Stimmung wartet, ist schon verdächtig und verpaßt in der ständigen Lauer nadi dem Augenblick des Einsetzens — sich selbst.

Allein die Vorliebe für bestimmte Arbeitsstunden sagt auch vom Wesen des Dichters und seines Werkes allerlei aus: die kristallene Helle und Durchsichtigkeit vieler Bücher besitzt nicht wenig von der Reinheit und Ungetrübtheit staubfreier Frühe. Auch Goethe war ein Mensch des Morgens. Goethes ganzes Wesen, das eine lebendig gewordene Naturgeschichte ungebrochener Jugend ist, offenbart die Freude und Klarheit gesunder Vormittagszeit. Sehr viele Werke der Literatur geben unmißverständlich darüber Aufschluss, ob des Dichters Natur dem frühen, dem späten Tag oder der Nacht zugetan war.

All dies gilt aber nicht bloß für Künstlermenschen, sondern trifft auch auf Vertreter anderer Arbeitsgebiete zu. Dem kleinen Angestellten freilich, dessen Tätigkeit an vorgeschriebene Stunden gebunden ist, bleibt keine Wahl und niemand nimmt auf die geheimen Neigungen seines Temperaments Rücksicht. Deshalb hat er jedoch genau so seine guten und schlechten Tageszeiten: auch er macht die Erfahrung, daß er in den seiner Art entsprechenden Stunden besser vom Fleck kommt als in jenen, in denen er mehr mit sich und seinen Schwierigkeiten beschäftigt ist. Der kluge Fabrikleiter, Anwalt, Kaufmann oder Staatsmann wird wichtige Besprechungen ganz instinktiv für jene Stunden ansetzen, die seinen Fähigkeiten besonders günstig sind.

Ginge es nach den „Abend- oder Nachtmenschen“, so würden sie die gesamte Tageseinteilung der Menschheit umstellen. Knapp bevor der Freund vormittäglicher Arbeit essen geht, würden sie am liebsten — nicht ohne Beschwer — erst aufstehen und langsam an ihre Beschäftigung schreiten. Die beste Schlafenszeit dieser Leute ist der Morgen und die auf ihn folgenden Stunden. Die durchdringende, ernüchternde und bestimmende Helle wird von ihnen dadurch bekämpft, daß sie diese einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Je weiter der Tag fort- schreitet, desto mehr tauen die Nachmittags- und „Nachtfalter“ auf. Gegen sechs oder sieben Uhr abends haben sie ihre „Morgenarbeit“ geleistet. Jetzt erst beginnt dir eigentliche Einsatz der vollen Kraft: Phantasie und Einfallsfreude klopfen an die Pforten des Geistes, der Körper horcht gespannt und willig auf, eine Zeit intensivster Hingabe an das Werk hebt an, die mit dem ersten Grauen des Morgens endigt. Hasser der Geräusche und jeder Art von Lärm, kommen sie erst zu sich und in den Besitz aller Fähigkeiten, wenn die Welt ringsum schlafen gegangen ist und nidits mehr wacht als das solche Ruhe und Konzentration genießende eigene Ich. Von diesen Leuten' hört man nicht selten die kühne Behauptung, daß die nächtlichen Stunden jeden Menschen auflockern, steigern, erleuchtet machen. Verschiedene Staatsmänner, darunter Stalin, dürften zu diesen Temperamenten zu zählen sein. Auch der Philosoph Nietzsche war ein solcher „Nachtmensch“. Der Regisseur Max Reinhardt probte am liebsten in der Nacht und erklärte immer wieder, daß die in dieser Zeit geleistet Arbeit viel wertvoller sei als die bei Tag vollbrachte. Das Schweigen, in dem sich d e Nachtarbeiter ebenso baden wie die Morgenmenschen im Strom der erfrischenden Frühe, ermöglicht die schrankenlose, ungehemmte Entfaltung der Phantasie, deren freien Lauf kein Hindernis des grausamen Alltags in den Weg tritt. Glück des Allein-, des Äbgeschaltetseins von allen Einflüssen einer beängstigenden, unfrei machenden feindlichen Außenwelt! So hört man die Freunde des Abends und der Nacht, deren Wesen der Diditer Novalis am schönster poetisch verklärt hat, immer wieder sagen Ja, sie fürchten beinahe den Morgen und sein verschwenderisdi-verwirrendes Lichr diese unentwegten Freunde der Dunkelhei: Sie geben sich dem Dunkel mit der gl" dien vertrauenden Liebe anheim wie d ebenfalls unbeirrbaren Gefolgsleute der ihre Kräfte bestätigenden Tag und dess beglückendem Licht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung