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VON DER HEITERKEIT NEUER MUSIK

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TZ ennen Sie eine lustige Musik? Ich nicht." Das Wort Schuberts ist bezeichnend nicht nur für ihn, sondern auch für viele, für fast alle großen Musiker des 19. Jahrhunderts. Rufen wir uns in Erinnerung jene stattliche Reihe tragischpathetischer Symphonien, jene hundert „Großen Opern“, jene tausend Sonaten, Lieder und andere Kammermusikwerke … Sie stehen fast alle in der gleichen klassisch-romantischen Landschaft, aus der die Standbilder von Beethoven, Brahms, Bruckner, Verdi, Wagner, Tschaikowsky, Strauss und Pfitzner aufragen.

Die Musik unserer Zeit, die der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zeigt ein anderes Gesicht. Nietsche, der alte Pulverkopf, hat es — wie vieles andere — vorausgesehen. Er fand es am deutlichsten ausgeprägt in Bizets „Carmen“: „Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit. Sie ist liebenswürdig Sie schwitzt nicht. Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen: erster Satz meiner Ästhetikᾠ Sie ist reich. Sie ist präzis. Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur unendlichen Melodie."Bizet, so meint Nietzsche, postuliert den intelligenten Zuhörer. Mit „Carmen“ nehme man Abschied vom feuchten Norden. „Hier redet eine andere Sinnlichkeit, eine andere Sensibilität, eine andere Heiterkeit. Diese Musik ist heiterᾠ"

Nietzsche ging es, da er den „Fall Wagner“ vor Augen und im Sinn hatte, vor allem um die Befreiung der Oper. In der Verehrung Bizets trifft er sich mit dem „Musicien franęais“, dessen 100. Geburtstag in diesem neuen Jahr 1962 gefeiert wird: Claude Debussy. Dieser stellt auch die altehrwürdige Symphonieform zur Diskussion und spricht Gedanken aus, die bei seinen Pariser Malerfreunden an der Tagesordnung waren: „Man sollte durch offene Fenster auf den freien Himmel blicken, aber man scheint sie für immer ganz geschlossen zu haben. Die wenigen schöpferischen Glücksfälle auf diesem Gebiet entschuldigen kaum die braven und unlebendigen Kompositionsübungn, die man nach alter Gewohnheit Symphonien nennt.“

Debussy hat keine Symphonien geschrieben. Er war der erste Pleinairist unter den Musikern. Von den vier Elementen huldigte er besonders dem Wasser und der Luft. „Nuäges“. „Fetes" und „Sirėnes“ sind die Titel seiner drei Nocturnes für Orchester. — Das Meer von der Morgenröte bis zum Mittag, das Spiel der Wellen und des Windes besingt er in seinem größten Orchesterwerk, dem Triptychon „La Mer“, und für das geliebte Klavier schreibt er die Klangzauberspiele der „Voiles“. „Le vent dans la plaine", „Les sons et les parfums tournent dans Fair du soir" (nach einer Zeile aus dem bekannten Gedicht Baudelaires), er

Umschlag zu Strawinskys „Ragtime". Zeichnung von Pablo Picasso beschwört den Westwind und Ondine, die aus der dunkelgrünen Tiefe ihres Meerespalastes heraufgestiegen ist. Und er liebt den Süden, Spanien, die klassische Landschaft Griechenlands, der Mittelmeerküste, und er ahnt den großen Orient: in den „Soirees dans Grenade"und „Pagodes" (aus „Estampes“), der „Danseuse de Delphe“ und „Canope“ (Preludes), in der indischen Tanzlegende „Khamma" und in „Lindaraja“, dem nachgelassenen Klavierwerk zu vier Händen.

Maurice Ravel, 13 Jahre jünger, als Sohn einer Baskin am Fuße der Pyrenäen geboren, ist der zweite große Musiker des Südens. Von den Frühwerken, einer Habanera und der Pavane für eine tote Infantin über die „Rhapsodie Espagnole“, dem berühmten „Bolero“ und die komische Oper „L’heure espagnole" bis zu seinen allerletzten Chansons für einen Schaljapin-Film, ist sein Werk imprägniert vom Duft und Laut der spanischen Landschaft. Und auch er bezieht den Nahen und Fernen Osten in seine Musik ein, in Bearbeitungen griechischer und hebräischer Volkslieder, in dem Ballett „Daphnis und Chloe" und der „Scheherezade" mit dem Klang der asiatischen Zauberflöte, nach Dichtungen Tristan Klingsors, die so poetisch sind, wie der Name des Autorsᾠ

Diese beiden großen französischen Musiker haben noch etwas gemeinsam: sie lieben die Kinder — und sie sind beide Kinder geblieben. Hierüber könnte man viele reizende kleine Geschichten erzählen. Für sein Töchterchen schrieb Debussy das Ballett„La boite ä joujoux“ sowie die Klaviersuite „Childrens’s Corner“ (aber die Stücke waren doch zu schwer, er mußte sie ihr selbst vorspielen). — Ravel komponierte ein Werk der Colette mit dem Titel „L’enfant et les Sortileges“ als Ballettoper, und in der Sociėtė Musicale Independante spielten zwei kleine Mädchen vierhändig seine Märchensuite „Ma mere l’oye“, Stücke, die er dann später orchestrierte, und an denen, in den Konzerten großer Dirigenten, zwischen zwei symphonischen Blöcken, auch heute noch alle großen und kleinen Kinder ihre Freude habenᾠ Ravel liebte auch die Marionetten, mechanisches Spielzeug aller Art, klingelnde Uhren, mechanische Nachtigallen und Spieldosen. Sein Landhaus in Montfort-l’Amaury glich einem kleinen

Museum von Nippsachen und Spielzeug, und oft verließ er die Gesellschaft der Erwachsenen, um sich mit den Kindern des Hauses zu unterhalten.

A uch Strawinsky, der größte lebende Musiker, neigt sich in vielen seiner Werke der Welt des Kindes, der Puppen und Marionetten und des Tanzes, zu. Seine Werke sind so bekannt, daß einige bezeichnende Titel zur Exemplifizierung genügen mögen: das Ballett „Petruschka“, die „Katzenwiegenlieder“ und „Renard“, eine burleske Geschichte nach russischen Volkserzählungen, zu singen und zu spielen, „Drei Geschichten für Kinder“, für Singstimme und Klavier, „Fünf leichte Stücke für Klavier vierhändig“, „Piano-Rag-Musik“, „Pulcinella“, das Ballett „Kartenspiel“, „Circus-Polka“, für einen jungen Elefanten des Zirkus Bärnüm and EäileyT! ,Ebohy-Concerto" für Woody Herman, das „Scherzo rüsse" und viele? andere.

T n Deutschland ging der antiromantische Protest hauptsächlich A von Paul Hindemith aus. Der Sketch „Hin und Zurück“ von 1927 und die lustige Oper „Neues vom Tage“ (beide nach Texten von Marcellus Schiffer) erlangten eine Art skandalöser Berühmtheit. Die „Suite für Klavier“ 1922 hat Hindemith mit einer eigenen Umschlagszeichnung ausgestattet, die einen kinder- tümlich gesehenen Großstadtplatz darstellt. Das letzte der fünf Stücke — Marsch, Shimmy, Nachtstück. Boston und Ragtime — trägt die folgende Spielanweisung:

„Nimm keine Rücksicht auf das, was du in der Klavierstunde gelernt hast. Überlege nicht lange, ob du Dis mit dem vierten oder sechsten Finger anschlagen mußt. Spiele dieses Stück sehr wild, aber stets sehr stramm im Rhythmus, wie eine Maschine. Betrachte hier das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug und handle dementsprechend.“ Wichtig erscheinen vor allem Hindemiths Bemühungen um eine neue Jugendmusik. 1927 wirkten Hindemith und Fritz Jöde gleichzeitig in Berlin. In den folgenden Jahren schuf Hindemith ein umfangreiches Schulwerk des Instrumentalzusammenspiels, Liederzyklen für Singkreise sowie die Schulopern „Lindbergh- flug" und „Wir bauen eine Stadt“. Am schönsten manifestieren sich diese an die alte deutsche Polyphonie anknüpfenden Bestrebungen im „Plöner Musiktag“, den Hindemith zwischen dem „Philharmonischen Konzert“ und „Mathis, der Maler“ schrieb.

Benjamin Brittens „Wir bauen eine Stadt“ und auch Pro- kofieffs Märchenballett für Kinder, „Peter und der Wolf“, setzen diese Reihe fort. — Bela Bartok aber, einer der Größten unserer Zeit, schrieb Geigenduette für ein Schulwerk und arbeitete fast zehn Jahre an den 153 Klavierstücken des „Mikrokosmos“, die er seinem Sohn Peter zueignete und die eine hervorragende Einführung in die neue Musik darstellen.

Zur selben Zeit, da Hindemith sein Jugendmusikwerk schrieb, war der gleichaltrige Bayer Carl Orff an der Dorothea- Günther-Schule für Laientanz als Leiter der Abteilung für tänzerische Musikerziehung tätig. Aus dieser Arbeit erwuchs, seit etwa 1930, das Orffsche Musikschulwerk, das die Selbsttätigkeit des Kindes in Tanz, Gesang und Instrumentalspiel fördern will. Hieraus wieder entstanden Orffs Werke für den Konzertsaal und die Opernbühne, gipfelnd in dem Triptychon des „Trionfo di Afrodite".

Musikantisches, Folkloristisches und Spielerisches findet sich im Gesamtwerk von Werner Egk, Jazzelemente und Burleskes bei Schostakowitsch, Prokofieff und Chatschaturian. — Krenek, dessen Oper „Jonny spielt auf" von 1927 Sensation machte, hatte schon vorher in „Der Sprung über den Schatten" und in den hochamüsanten Militärmarschparodien für Blasorchester neue sarkastische Töne angeschlagen. Später hat er diesem Genre abgesagt, aber noch 1945 komponierte er den „Santa-Fe- Time-Table“.

Verspielt begannen Jean Franęaix und Cesar Bresgen. — Frank Martin, Autor von „Golgotha“, des „Mysteriums von der Geburt des Herrn" und ernster Gesänge nach Hofmannsthals„Jedermann“, hat mit seiner „Petite Symphonie concertante" eines der liebenswürdigsten und elegantesten heiteren Werke geschrieben und sich damit die Konzertsäle der Welt erobert. — Rolf Liebermann zeigte bereits in seiner Oper „Leonore 1940 45“, der er „Die Schule der Frauen“ nach Moliėre folgen ließ, parodistisches Talent und hat mit dem „Konzert für Jazzband und Symphonieorchester“ ein interessantes Erfolgsstück geschrieben. — Die schlanke und bewegliche Musik Boris Blachers wirkt ebenso erfreulich wie ein gut trainierter, geistig disziplinierter Körper. — Und der junge Deutsche Giselher Klebe vermerkt in der Partitur seiner „Zwitschermaschine“: „Die musikalische Konzeption übernahm die zeichnerische Grundform des Bildes von Paul Klee und stellt so die vier .zwitschernden“ Teile auf die Basis des ,maschinen‘-mäßigen Gestells.“

Immer wieder klingen in der Musica serena unserer Zeit Jazzrhythmen auf: ein neues erregendes Element. Zunächst — und zum erstenmal — bei Debussy, dem Mann mit den empfindlichsten Antennen. Sie wirken zunächst als exotischer Reiz und Aufputz. Aber schon Ravel bedient sich ihrer viel bewußter, mit Raffinement und Virtuosität. Er ist der Meister rhythmischer Faszination, des wohldosierten klanglichen Exzesses daneben geistvoll, witzig und zur Parodie aufgelegt.

Bald nach dem ersten Weltkrieg kamen die ersten Jazzschallplatten aus Amerika nach Europa, europäische Komponisten hörten die ersten amerikanischen Jazzkapellen, und die Werke George Gershwins treten ihren Siegeszug um die Welt an. In Amerika bildet sich ein eigener, auf dem Jazz und vielerlei Folklore aufgebauter Stil heraus, der am deutlichsten aus den Kompositionen von Copland. Piston. Schuman und Antheil abzulesen ist. — In Europa verbinden sich diese neuen Rhythmen mit dem Lärm des Maschinenzeitalters. Zwar kannte man hier längst den Reiz gleichmäßig pochender Rhythmen oder fließender Bewegung, etwa aus den raschen Sätzen Johann Sebastian Bachs und anderer Barockkomponisten. Aber jetzt emanzipiert sich der Rhythmus, etwa in Bartöks bereits 1911 geschriebenem „Allegro barbaro“, in Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ oder in Milhauds „Konzert für Schlagwerk und Orchester" sowie in Milhauds auf einem Negermärchen basierenden Ballett „La Creation du monde“. — Diese Bewegung greift auch auf Sowjetrußland über, wird dann aber bald — wie in Deutschland nach 1933 — gestoppt Heute feiert der Jazz in der europäischen Kunstmusik fröhliche Urständ, und es gibt kaum einen interessanteren zeitgenössischen Komponisten, der sich seinem Einfluß entzogen hätte. Die jüngeren Deutschen hatten es nach 1945 besonders eilig. Versäumtes nachzuholen, und sogar die strengen Zwölftöner exkludieren sich nicht, zum Beispiel Wolfgang Fortner, in dessen „Mouvements" für Klavier und Orchester sich ein zünftiger Boogie-Woogie findet.

Überblickt man die zeitgenössische österreichische Musik, so fällt zunächst auf, daß im Schönberg-Kreis vorwiegend spätbürgerliche Tristan-Stimmung herrscht. Besonders in den letzten Kompositionen Alban Bergs tritt das ergreifend zutage: aus dem Liebesgesang Isoldens wurde der zwölftönige Todesschrei der Lulu. Nur Hanns Jelinek tanzt gelegentlich aus der Zwölftonreihe: Sein Opus 6, die „Sinfonia ritmica“, hieß ursprünglich „Music in Jazz“, und auf kecke Chansons nach Texten von Erich Kästner folgt sogar eine richtige Operette, „Bubi Caligula“, deren Libretto sich Jelinek selbst schrieb.

Gute musikantische Laune herrscht in zahlreichen Kompositionen von Friedrich Wildgans (der auch Laien- und Blockflötenmusiken geschrieben hat), bei Armin Kaufmann, in den bewegten Sätzen Karl Schiskes und bei Alfred Uhl (einige seiner Titel: „Eine vergnügliche Musik für Bläser“. „Vier Capricen" mit dem Untertitel „Von Musikanten, fahrenden Sängern, Gauklern und Komödianten“, ferner eine Ballettsuite nach Moliėre und zuletzt eine heitere Kantate nach Texten von Wilhelm Busch, Morgenstern u. a.). In bester dezent-heiterer Gesellschaft befindet man sich auch bei Alexander Spitzmüller, dessen „Concert dans l’esprit latin" auf die pariserische Wahlheimat dieses gebürtigen Österreichers hinweist. Ein trockener geistiger Wind weht in den Partituren Gottfried von Einems, die reich sind an heiteren Sarkasmen und gutsitzenden Pointen. Theodor Berger, von Haus aus spekulativer veranlagt, verbannt aus seiner Musik — besonders aus den letzten Werken — alles, was dick macht und schreibt eine strukturell klare Musik, die geistige Helligkeit verbreitet. Anton Heiller und Paul Angerer verstehen es, ihren strengen sakralen Stil und moderne Gregorianik mit viel Sing- und Spielfreudigkeit zu vereinen, nicht nur als Komponisten, sondern auch als ausübende Musiker. Paul Kont hat sich viel mit dem Ballett beschäftigt und empfängt von hier für seine Musik neue gestische und rhythmische Impulse.

Man sagt der neuen Musik oft nach, sie sei schwer und schwermütig, düster und problematisch, gelegentlich auch verworren und überladen. Zweck dieser Ausführungen, in deren Verlauf zahlreiche Beispiele heiterer, volkstümlicher, kindlicher und tänzerischer Musik zitiert werden konnten, war es, auf die andere Seite hinzuweisen und den ganzen Komplex „neue Musik“ in ein freundlicheres Licht zu rücken. Ob diese Musik auch „schön“ ist — das freilich ist eine andere Frage und ein weites Feld, eine Frage übrigens, die jeder nach seinem eigenen Geschmack beantworten darf. Vielleicht wird das Urteil des Hörers ähnlichh lauten wie das eines Besuchers von Saties und Cocteaus Gemeinschaftswerk „Parade“: „Schön und heiter finde ich diese Musik eigentlich nicht, aber wie sehr sie sich von der bisherigen Musik unterscheidet — das finde ich ganz lustig.“

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