Von der Lotusblume abgeschaut

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Wie es zur Entwicklung einer revolutionären Technik kam, die sich selbst reinigende Oberflächen schafft

Seit vielen Jahren und vor allem im zweiten Teil des vergangenen Jahrhunderts redete uns die Werkstofftechnik ein: glatt ist gut, glatter ist besser, weil glatt ist sauber oder jedenfalls leichter sauber zu halten. Irrtum. Die Natur hat eine völlig andere Antwort parat.

Im Institut für Systematische Botanik der Universität Heidelberg bemühten sich in den siebziger Jahren junge Wissenschafter, allen voran Wilhelm Barthlott, die Verwandtschaft von Pflanzen, mit einer hochauflösenden Elektro-Mikrospkopie über deren Außenflächen zu rekonstruieren. Die Botanik wusste schon damals, dass sich in der belebten Natur ganz wichtige Vorgänge an den Grenzflächen zwischen Festkörper und ihrer gasförmigen oder flüssigen Umgebung abspielen.

Die Evolution dieser komplexen Grenzflächen - auch das war bekannt - ist mit der Eroberung des Lebensraumes Land verbunden. Neben der mechanischen Stabilisierung, der Verringerung des Wasserverlustes, der Temperaturkontrolle bei Sonneneinstrahlung zeigte sich dann aber völlig überraschend ein bis dahin unbekannter Anti-Haft-Mechanismus, der gewisse Pflanzen praktisch unbenetzbar macht.

Das Material für diese Untersuchungen wuchs in einem ziemlich bescheidenen Gewächshaus. Dabei zeigte sich, dass die einen Pflanzen stark verschmutzt waren, andere aber, wie die indische Lotusblume, in derselben Umgebung makellos sauber blieben. Das machte die jungen Botaniker und Biologen stutzig und nachdenklich. Wilhelm Barthlott gesteht freimütig: "Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass die Lotusblume seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen als Symbol der Reinheit verehrt wurde und dass dies alles bereits in 2000 Jahre alten Sanskrittexten nachzulesen gewesen wäre. Keine Ahnung von all dem."

An der Oberfläche des Lotusblattes rinnt einfach alles und zwar blitzartig ab, Wasser und jegliche andere Art von Flüssigkeit, und sogar ein ziemlich zähes Material wie Uhu. Mit der Flüssigkeit springen dann auch jegliche Art von Schmutzpartikeln, inklusive schmierigem Dieselruss, einfach weg. Das Lotusblatt ist samtig matt, wirkt glatt, ist es aber nicht. Im Mikro- und Nanobereich ist die Oberfläche mit rauhen Noppen überzogen, die den erstaunlichen Selbstreinigungseffekt bewirken. Und die Geschwindigkeit, mit der das Wasser oder was immer abperlt, entspricht der des frei fallenden Regens.

Für Lacke geeignet

"Wir alle freuten uns und meinten, im botanischen Bereich ein interessantes Phänomen entdeckt zu haben," sagt Barthlott und bekennt, dass er sich etwa 14 Jahre lang - inzwischen war er über die Freie Universität Berlin nach Bonn gekommen - nicht vorstellen konnte, dass die Physiker und Oberflächentechniker sich diesen Effekt nicht schon längst nutzbar gemacht hätten. Aber so ganz in Ruhe gelassen hat ihn die Sache doch nicht.

Man begann, im eigenen Labor ein wenig herum zu experimentieren. Irgendwann Anfang der neunziger Jahre kam es dann zu ersten Gesprächen mit der Industrie im Bereich Farben und Lacke. Die erste Antwort höhnisches Gelächter. Aber langsam ist dann auch dort Nachdenklichkeit aufgekommen, weil dieser Anti-Haft-Effekt, diese selbstreinigende Kraft der Pflanze einfach zu eindrucksvoll war.

Also machte man sich an die technische Umsetzung.1998 wurde das erste Patent erteilt: für einen Fassadenanstrich, der nie mehr schmutzig werden soll. Inzwischen sind mehr als 100.000 Gebäude mit diesem Anstrich versehen, etwa das Kempinsky-Hotel in Moskau. Zur Zeit entsteht in Dubai eine Moschee, für die der neue Anstrich vorgesehen ist, nachdem man auch in Saudi-Arabien bereits gute Erfahrungen mit dem Material machen konnte.

Weiters gibt es bereits Holzlasuren, Dachziegel, keramische Oberflächen und vermutlich schon bald könnte es sein, dass Autos und Flugzeuge keine Waschstraßen mehr benötigen und auch die aufwändige Reinigung der in den Himmel wachsenden Glasfassaden obsolet sein wird. Eine weitere Sache, die schon bald marktreif sein soll, ist der textile Bereich. Jede textile Faser soll so ausgerüstet werden, dass die Stoffe dann Schmutz abweisend sind. Ketchup, Fettspritzer oder Gulaschsaft können dann der feinen Bluse, der schicken Krawatte nichts mehr anhaben, wenn alles nach Wunsch verläuft.

Was das alles - und die Anwendungsmöglichkeiten sind auf Zukunft hin offen - in einer Zeit des knapp werdenden Wassers, der zunehmenden Umweltverschmutzung durch chemische Reinigungsmittel bedeutet, kann man sich ausmalen.

Neue Patente

Im Zusammenhang mit den diversen Patenten ist es Prof. Barthlott besonders wichtig zu betonen, dass die Patente für technische Verfahren, nicht aber für die Entdeckung des Lotuseffektes erteilt worden sind. "Was wir patentiert haben, ist ein Verfahren zur Konstruktion selbstreinigender Oberflächen. Ich bin ein strikter Gegner jeder Art von Patentierung von Lebewesen oder deren Teilen. Die Lotusblume ist ein wunderbares Geschenk der Schöpfung, ein Kind der Evolution und steht zur Patentierung nicht zur Verfügung. Dafür, dass mir die Erkenntnis ihrer speziellen Fähigkeiten geschenkt worden ist, dafür kann ich nur dankbar sein."

Solche Bescheidenheit ist bei Naturwissenschaftern heute eher selten. So überrascht es auch nicht, dass Barthlott so nebenher meint, der Lotus-Effekt sei im Grunde eigentlich nur so etwas wie ein Abfallprodukt seiner eigentlichen Arbeit als Tropenökologe und Spezialist für Biodiversität. "Natürlich ist die mögliche Nutzung, die sich auch wirtschaftlich rechnet interessant, immerhin sind es inzwischen bereits elf Industriebetriebe, die da am Ball sind," meint der Wissenschafter. "Aber das wirklich Wichtige ist etwas anderes. Hätte mich jemand noch vor zehn Jahren gefragt, wozu Lotusblumen gut sind, hätte ich vielleicht auch gesagt, eigentlich zu nichts, wenn man von ihrer Schönheit und Reinheit absieht. Heute sehe ich das verständlicherweise anders. Vielleicht kann das dazu führen, dass auch die Macher zu denken beginnen, weil es ja schließlich möglich wäre, dass die Natur noch ähnliche Schätze verborgen hält, die eine Antwort auf Probleme dieser oder jeder Art geben könnten, wenn wir nur genau hinschauen und klar denken. Unser Kapital liegt in den Köpfen. Vielleicht wird man im Umgang mit der Vielfalt des Lebens vorsichtiger werden."

In diesen Bereich gehört noch etwas anderes aus Barthlotts Arbeit. In zehnjähriger Computerarbeit haben er und sein Team einen Weltatlas für bedrohte Regionen und Arten erstellt. Eines fällt an diesen bunten Weltkarten sofort auf: Die Industrienationen, jene Länder also, in denen Macht und Geld kummulieren, machen einen, was die Vielfalt des Lebens angeht, ziemlich blassen, farblosen Eindruck, während in weiten Regionen der südlichen Hemisphäre kräftige Rot-und Violetttöne vorherrschen, Zeichen für genetische Vielfalt.

Die bedeutendsten Forschungszentren, auch das ist auf einer Karte zu sehen, sind dort wo das Geld ist,die größte Lebendigkeit, dort wo die Mehrheit der Menschen aufgrund jahrhundertelanger und fortdauernder Ausbeutung in Armut und Elend lebt. Da muss doch etwas schief gelaufen sein.

In diesem Zusammenhang kann man nur hoffen,dass die Profite, die die technische Nutzung des "Lotus-Effektes" den Industriebetrieben bringen wird, nicht nur den reichen Nationen - und da wieder nur gewissen Konzernen - zugute kommen, sondern dass der "Indische Lotus" den Menschen im Süden nicht nur seine Reinheit schenkt, sondern auch hilft da und dort das Leben zu verbessern.

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