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VON DER TRAGÖDIE ZUM MUSICAL

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Die Oper als Gattung verdankt ihre Entstehung dem glücklichen Zusammentreffen gelehrt-archaistischer und künstlerisch-avantgardistischer Strömungen in der Florentiner Camerata am Ende des 16. Jahrhunderts. Vor allem aber war es der Wunschtraum von der Wiederbelebung der antiken Tragödie, von der man annahm, daß in ihr bereits die vollkommene Synthese von Wort und Ton erreicht war, der die ersten Versuche auf diesem Gebiet inspirierte. So entstand als allererste Oper in unserem Sinn, „Dafne” von Rinuccini und Peri, die 1595 oder 1597 im Hause Corsi in Florenz aufgeführt wurde. Nach Gluck und Händel gab es, was antike Sujets betrifft, im 18. und 19. Jahrhundert nur Epigonenkunst. Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts ist eine ganze Reihe bedeutender Werke entstanden, in denen auf sehr ernsthafte und eigenständige Weise eine Erneuerung des antiken Dramas angestrebt ist. Nennen wir nur die wichtigsten: 1924 „Alkestis” von Egon Wellesz, der 1930 „Die Bakchantinnen” folgten, 1927 „Antigone” von Honegger und „Penthesilea” von Othmar Schoeck, 1928 das Standardwerk dieser Reihe, Strawinskys „Ödipus Rex”, und 1930 Kreneks „Leben des Orest”.

Vor allen diesen Werken aber entstand „Elektra” von Richard Strauss, im März 1909 am k. k. Hofopemtheater zu Dresden unter der Leitung Emst von Schuchs (der auf dem Theaterzettel ebensowenig vermerkt war wie der Regisseur und der Bühnenbildner). Aber Hofmannsthals Sprechstück ist noch sechs Jahre älter. Seit 1901 beschäftigte ihn die Gestalt der „Elektra mit der Feuerzunge”, doch erst 1903 bewog ihn Max Reinhardt zur endgültigen Niederschrift, nachdem er ihm seine Unlust, antike Stücke in den vorhandenen „gipsernen” Übersetzungen und Bearbeitungen zu spielen, ausgesprochen hatte. Und Hofmannsthal schuf wirklich etwas Neues. Nur im äußeren Ablauf der Handlung folgte er Sophokles. Die entscheidenden Abweichungen liegen im Detail, in der Intensivierung, sprachlichen Überhitzung, ja Hysterisierung. Die Lektüre des 1895 erschienenen Buches von Breuer und Freud „Studien über Hysterie” mag nicht ganz ohne Einfluß auf die Gestaltung gewesen sein. Wichtiger aber war der Versuch, von der Winckelmannschen Antike loszukommen und „ein Allgemein Altertümliches, Menschliches und Orientalisches, vom Westen aus”, darzustellen. Die Sprache Hofmannsthals ist daher keineswegs „gräzisierend”, sondern eher auf den Ton des Alten Testaments, insbesondere den der Propheten und des Hohen Liedes gestimmt.

Zu dieser Dichtung hat Richard Strauss seine „einheitlichste, geschlossenste, aber auch geistesmächtigste” Partitur geschrieben. Mit dem Urteil des eminenten Strauss-Kenners Willi Schuh stimmt auch Wieland Wagner überein, der freilich auch diesen „Text” auf seine Art ausleuchtet und interpretiert. Da ist zunächst das „Weltbild”, das nicht nur Elektra, sondern die meisten klassisch-griechischen Dramen bestimmt. Es geht um die Idee von Recht und Rache, gestörte und wiederhergestellte Ordnung. „Eine solche Welt, in der es den Tod, aber keine Auferstehung, die Grenze, aber kein Jenseits gibt, eine Welt also, die in unerlöstem Widerspruch ruht, in unerlöstem Leide besteht und eben darin ihren geheimen göttlichen Sinn hat, ist tragisch.” Unter dem Gesetz der Rache und des Totenkultes lebend, sind sie alle in ihrer Welt ohne Ausweg gefangen. Man könnte sie, meint Wieland Wagner, geradezu „die Eingeschlossenen von Mykene” nennen.

Wenn sich, nach dem düster-drohenden Agamemnon- Motiv, der Vorhang hebt, sehen wir statt der vertrauten Szenerie (die in Wien immer nur eine Variante des „klassischen” Rollerschen Bühnenbildes war) einen dunklen, von fünf riesigen Platten umgrenzten Bühnenraum. Auf die mit sieben Pferdeschädeln „geschmückten” Wände, die überdies einige blutrote Flecken aufweisen, fällt graugrünes Licht. Links vorne — kein Ziehbrunnen und kein Tratsch der Mägde, die hinter ihren mächtigen Amphoren wie Erinnyen wirken. Elektra „kommt nicht gelaufen und springt zurück wie ein Tier”, sondern betritt, mit kreidig-geschmink- tem Gesicht, in dunklem Gewand („Trauer muß Elektra tragen!”) gemessenen Schrittes vom Hintergrund her die Bühne — eine Hohepriesterin der Rache. Auch in ihrem Gespräch mit der Mutter bleibt sie, rechts an der Wand lehnend, mit meist über der Brust gekreuzten Armen, fast unbeweglich. Klytämnestra hat der Regisseur nicht nur das scharlachrote Gewand, sondern auch den edelsteingeschmückten Stab genommen. (Vertraute und Schleppträgerin halten sich im Hintergrund.) Sie ist eine alte, gramgebeugte, grauhaarige Frau, der Wieland Wagner auch mitleiderregende menschliche Züge konzediert (seine Argumente hierfür sind interessant, wenn auch nicht ganz neu). Chrysothemis ist äußerlich von Elektra wenig verschieden. Beide sind, trotz gegensätzlichen Charakters, gewissermaßen aus gleichem Holz. — Kein Opfergang „klirrt und schlürft vorüber”, nur eine der großen Platten leuchtet einige Male blutigrot auf. Vom Erscheinen des Orest an gewinnt ein gewisser Realismus die Oberhand. Sein Auftritt, der große Augenblick der ganzen Oper („Orest steht in der Hoftür, von der letzten Helle sich schwarz abhebend”), ist nicht sehr wirkungsvoll. Recht realistisch auch das tückisch-tödliche Spiel Elektras mit Aegisth, der auf offener Bühne umgebracht wird. Zum Schluß: kein „namenloser Tanz” mit zurückgeworfenem Kopf, gereckten Armen und emporgeworfenen Knien, sondern ein halbirres Taumeln, Umherschwanken — und der Zusammenbruch.

Gestikuliert wird wenig, nur das Allernotwendigste, aber dies mit stärkstem Ausdruck, was, zusammen mit dem gebändigten Toben und den dynamischen Ausbrüchen des Orchesters, im Zuschauer ein keine Minute nachlassendes Gefühl intensivster innerer Spannung bewirkt. Der musikalische Teil der Aufführung ist, dem Stil der Inszenierung entsprechend, von kaum überbietbarer Großartigkeit. Karl Böhm hat mit den Wiener Philharmonikern sowohl die quaderhafte Tektonik dieser Musik, ihre Architektur, wie das unaufhaltsame mächtige Strömen der von einem Superorchester von 110 Mann erzeugten Klangmassen in seltener Vollkommenheit zur Synthese gebracht. Die Besetzung war die glanzvollste, die sich wahrscheinlich heute realisieren läßt: Birgit Nilsson-Elektra, Leonie Rysanek-Chrysothemis, Regina Resnik-Klytämnestra, Eberhard Wächter-Orest und Wolfgang Windgassen-Aegisth.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die Völker Osteuropas ihre Nationalmusik entdeckt und (zunächst) als Material in die traditionellen Formen der Kunstmusik eingebaut. Die zweite Phase kennzeichnen Werke, die schon ganz im Geist der Volksmusik konzipiert sind. Auf dem Gebiet der Oper ging der „große Bruder” Rußland 1836 mit „Ein Leben für den Zaren” von Glinka voran. 1844 folgte „Hunyadi Läzslö” von Erkei, drei Jahre später „Haika” von Moniuszko und 1863 „Die Brandenburger in Böhmen” von Smetana und 1866 „Die verkaufte Braut”. Stanislaw Moniusz- kos Oper, die zunächst konzertant, dann 1854 in Wilna und am Neujahrstag des Jahres 1858 in Warschau — und zwar in ihrer gegenwärtigen vieraktigen Fassung — aufgeführt Wurde, fand erst 1926 den Weg nach Wien und ist so wenig bekannt, daß man in den gebräuchlichen Opernführern kaum etwas über sie und ihren Komponisten findet.

Moniuszko wurde 1819 im Gouvernement Minsk geboren und entstammt einer verarmten Landadelsfamilie. Auf seine Erziehung hatten vor allem zwei Onkel Einfluß, die für die Befreiung der Bauern und die Aufklärung des Volkes eintraten. Seine musikalische Ausbildung empfing er in Berlin und ging dann als Kirchenorganist und Lehrer nach Wilna. Während eines Aufenthaltes in Warschau lernte er den radikalen Bohemien Wladimir Wolski kennen, dessen Epen wegen ihres Sozialrevolutionären Charakters von der russischen Zensur verboten waren. Man muß das Sujet und die Musik von „Haika” vor dem doppelten Hintergrund der nationalen und sozialen Bewegungen der Zeit sehen. Kongreßpolen war, nach der fehlgeschlagenen Revolution des Jahres 1831, russische Provinz geworden, die von einem Statthalter regiert wurde. Wilna war ein Zentrum des nationalen Widerstandes und der fortschrittlichen sozialen Bewegung. Die aktuelle Handlung dieser ländlichen Tragödie ist in die Zeit um 1700 zurückverlegt. Haika, die Leibeigene, wird von ihrem Herrn und Liebhaber, dem reichen Gutsbesitzer Hanusz, verstoßen, da dieser die Tochter des Vogtes (Truchsesses des Königs) heiraten will. Dem versucht sich Haika, die von dem Leibeigenen Jontek geliebt wird, zu widersetzen und findet dabei den Tod.

Moniuszkos Musik, zur Zeit, da sie geschrieben wurde, eine nationale Großtat, wirkt heute recht eklektisch. Man hört die großen Vorbilder (Bellini, Donizetti, Flotow und Marschner) mehr heraus als den Eigenton, während in den Tänzen (Mazurkas und Krakowiaks im 1. Teil) und im 1. Bild des 2. Teiles in den Chorliedem und den Volkstänzen der Goralen das folkloristische Element hervorleuchtet. Am meisten fehlt dem Werk der dramatische Impetus. (Man erinnere sich nur, was der viel gröbere, auf keiner bestimmten Folklore fußende d’Albert in seinem „Tiefland” aus einem ähnlichen Stoff gemacht hat!) — Wenn wir nach der auffallend konventionellen Inszenierung und Ausstattung in der Volksoper urteilen dürfen, so hat man den Eindruck, daß „Haika” in Polen unter „Denkmalschutz” steht. Die handfest-realistischen Bühnenbilder von Andrzej Stopka wurden allerdings durch die mit fast wissenschaftlicher Akribie nachgeschaffenen farbenprächtigen Kostüme der Adeligen und die kleidsamen Trachten der Goralen belebt. Doch wollen wir dem Regisseur Aleksander Bardini und den Ausstattern Andrzej und Wincentyna Stopka wegen dieses Stils keinen Vorwurf machen, denn es ist die Frage, ob man es überhaupt versuchen soll, solchen, durch die nationale Tradition ehrwürdigen Werken mit modernen Inszenierungstricks beizukommen, um ihnen gewissermaßen auf die Sprünge zu helfen. Da entstünde wohl ein Mixtum compositum, an dem nur Snobs ihr Vergnügen hätten. Hier hingegen erlebten wir (in einer durchweg vernünftigen und gut singbaren deutschen Version, deren Autor Dr. Marcel Prawy ist, und in einer soliden Besetzung) ein Denkmal der polnischen, ja der europäischen Operngeschichte quasi im Original. Denn auch die Interpretation der Partitur von Moniuszko durch Jan Krenz (dem im 1. Teil die Akustik des Hauses einige Schwierigkeiten bereitete) und die Choreographie Eugeniusz Paplinskis kann als durchaus authentisch gelten. Und die Bühnenbilder waren so echt, daß sie, schon beim Sichheben des Vorhangs, von den anwesenden Polen beklatscht wurden. (In den Hauptrollen: Christiane Sorell, Halka; Ernst Gutstein, Janusz; Ion Buzea, Bauembursche; Georg Schnapka, ein reicher Landadeliger; Anny Felbermayer, seine Tochter.)

Was ein Musical ist, braucht man nicht mehr zu beschreiben, denn wir haben in Wien etwa ein halbes Dutzend (darunter ein glänzendes und einige schwächere) kennen- gelemt. Als Gattung hat es eine fast 100jährige Tradition im amerikanischen Singspiel, zugleich ist es ein illegitimer Nachkomme unserer europäischen Operette. Wegen der engeren Fusion des gesungenen und gesprochenen Wortes mit Bewegung und Tanz würde es Richard Wagner — in gebührendem Respektabstand von seinem eigenem — vielleicht als transatlantisches „Gesamtkunstwerk” gelten lassen. Nun zeigt das Theater an der Wien in Eigenproduktion unter der Gesamtleitung von Rolf Kutschera, das Musical „Wie man was wird im Lehen, ohne sich anzustrengen”. Ein rundes Dutzend Spezialisten, angefangen von den drei amerikanischen Textautoren und den zwei deutschen Bearbeitern, bis zum musikalischen Leiter der Aufführung, haben in monatelanger Arbeit daran gewerkt. Der Theaterzettel nennt zwei Dutzend Sänger-Schauspieler namentlich, dazu das „Ballett Ensemble Praha”, zwei Bühnenbildner, zwei Kostümzeichner, den Regisseur Dale Moreda und das Orchester J. Fehring.

Aber auch die vielen Autoren haben sich die Handlung nicht ausgedacht, sondern die parodistische Erfolgsfibel gleichen Namens von Shepherd Mead dramatisiert und in einer Revue mit 20 Nummern auf die Bühne gebracht, zu der der Deutschamerikaner Frank Loesser die Musik schrieb: eine geschickt gemachte Partitur, fast ohne persönliche Note, mit recht dünnen melodischen Einfällen, aber nicht ohne rhythmische Brisanz. — Nach der Autoren Meinung (und vielleicht Erfahrung) wird man am ehesten etwas, ohne sich anzustrengen, in einem Großbetrieb, der von einem Dilettanten geleitet wird und wo nichts so unwillkommen ist, wie „neue Ideen” — nach denen man aber ständig ruft. Das Ganze ist eine recht amüsante Illustration zu dem Bestseller „Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung” und schildert den Aufstieg eines jungen Mannes, der „mit Geschicklichkeit und tollkühner Vorsicht” vom Fensterputzer zum stellvertretenden Generaldirektor avanciert. Aber nicht mit Hilfe eines Parteibüchels oder durch Nepotismus, sondern indem er sich elastisch den, Gepflogenheiten seiner Vorgesetzten anpaßt, ihre Schwächen ausnützt und das „Betriebsklima” Zu dem seinen macht.

Dieser hoffnungsvolle junge Mann ist Harald Juhnke, sein Chef Theo Lingen, die beiden wichtigsten Damen — neben einem Heer von Sekretärinnen — Inge Brück und Anita Höf er (sie bringen die pikante Note in die ein wenig sterile, wenn auch turbulente Großfirmenatmosphäre). Das Musical „How to succeed in business without really trying” lief in der 46th Street in New York nicht nur 14I5mal, sondern wurde auch mit dem begehrten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sein Erfolg erklärt sich aus seiner keimfreien Gefälligkeit und Geselligkeit (Motto und Schlußhymne verkünden „Die Bruderschaft der Welt ist Mittelmäßigkeit”). Vor allem aber aus der Tatsache, daß es in allen großen Städten Hunderttausende von Angestellten, Abteilungsleitern, großen und kleinen Chefs gibt, deren Eigenheiten und Schwächen hier, nicht ohne einen Schuß Selbstpersiflage auch in den „ernsten” Szenen, ausgebreitet werden. Den allergrößten Spaß aber mögen die — fast durchweg jungen — Schauspieler, angehenden Sänger und Tänzer an dem fröhlichen Klamauk haben, voran das sympathische und mit geradezu kindlichem Eifer mitwirkende „Ballett Ensemble Praha”.

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