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Von Hellmut Butterweck

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Ein knappes Jahrhundert ist das Interesse für das künstlerische Schaffen der Geisteskranken nun alt. Tardieu lieferte 1872 die ersten Hinweise. Simon suchte vier Jahre später nach Zusammenhängen zwischen bildnerischen und Krankheitsstrukturen. Einige Jahrzehnte später wurde die Feststellung, Genie und Wahnsinn seien gar eng benachbart, zur wohlklingenden Leerformel. Verwirrend wirkte und wirkt auch heute die oft frappierende Ähnlichkeit zwischen modernen Kunstwerken und den Hervorbringungen bestimmter Geisteskranker. Der bekannten, bösartigen „Aha-Reaktion” der Kunstreaktionäre und ihrer Mitläufer verdankt das Thema seine Brisanz. Wo nur differenzierendste Betrachtungsweisen zu Klärungen führen könnten, werden Unterschiede von so mancher Seite noch immer, mit Moden kokettierend oder mit polemischem Unterton, verwischt.

Seit zehn Jahren gibt es die „Sooietė Internationale de Psychopathologic de l’Expression”, oder Gesellschaft für Psychopathologie des Ausdrucks. 650 Fachleute aus 40 Ländern versuchen in dieser Gesellschaft „ihre Forschung auf diesem Gebiet in Einklang zu bringen”. Ein hartes Wort gelassen ausgesprochen, aber wahrscheinlich müssen solche Ziele in Programmen stehen, auch wenn es, zum Heil der Sache, einfach darum geht, miteinander zu reden.

Strenger Formalismus und die Zerstörung der Form sind — wie die schizophrene Bildnerei am eindringlichsten zeigt — nahe miteinander verwandt. Beide Methoden tun der natürlichen Umwelt Gewalt an.

Leo Navratil

Vor wenigen Tagen fand in Linz das 6. Internationale Kolloquium dieser Gesellschaft statt. Die Themenstellung lautete: „Beziehungen zur Kunst im Psychopathologischen — Psychische Störungen und Kreativität — Psychopathologische Kunst — Psychopathologisches im Künstler — Psychopathologisches in der Kunst.” Auch Künstler und ein Kunstkritiker wurden diesmal in den Kreis der Teilnehmer einbezogen: Hrdlicka („Einschleichversuche in das Wahndenken psychisch Erkrankter”), Fuchs, Breicha, Rainer. Wir zitieren aus den Zusammenfassungen ihrer Kongreßreferate.

Ernst Fuchs: „Es gehört zum Wesen des Menschen, daß sich sein Denken als Grenze zwischen dem schon Erfaßten und Unfaßbaren, zwischen Ordnung und Chaos, aber auch als Mitte zwischen der schon geschaffenen Welt — an deren Lenkbarkeit er glaubt — und der ungeschaffenen, unbeherrschten — weil nur in dunkler Ahnung begehbaren, ihn durch Inspirationen bewegenden — ständig neu begreift, der Macht des Irrationalen aber immer wieder den gewaltigen Raum des Unerkannten zugestehen muß. Diese Bewegung auf den ständig fliehenden Saum der unbekannten Schöpfung hin kommt

Gesundheit ist ein provisorischer Zustand, der nichts Gutes verspricht.

Peter Bamm auch jener Faszination gleich, die von der kreativen Arbeit sogenannter Geisteskranker, besonders der Maler und Dichter, ausgeht. In diesen Bildern und Gedichten spricht sich eine Daseinserfahrung aus, von der wir zuweilen ahnen, daß ihr Besitz oder ihr Nachvollzug dem Menschsein eine neue, sein Selbstverständnis um vieles bereichernde Dimension bedeutet.”

Otto Breicha: „Auch die Unbeant- wortbarkeit einer Frage ist eine Erledigung der Frage. In der Veränder- barkeit und Veränderung einer Fragestellung, in deren Beantwortung (beziehungsweise Unbeantwort- barkeit) liegt die Chance einer Be- wußtmachung der Unterscheidung (beziehungsweise Ununterscheidbarkeit). Was ist Kunst und wo hört sie auf? Und was wäre das: Ausdruck, der nur noch Ausdruck ist (und vor allem Ausdruck oder nichts als Ausdruck)? Und wo beginnt das Ausdrücken (wessen?) jenseits der künstlerischen Selbstbewußtheit (also jenseits des Artistischen)? Was ist seine Inspiration, was ist sein Wesen?” Arnulf Rainer: „Die Symptome des Wahnsinns sind Ausdrucksformen. Abglanz und Spuren auf der Suche nach anderen Leben. Deshalb ist der Wahnsinn überhaupt keine Krankheit. Trotz biologischer Ursachen und asozialer Erscheinung zeigt er deutlich die Stigmen besserer oder schlechterer Kunst. Nur eine in Sparten geteilte Kultur übersieht, daß es sich hier um eine integrale Ausdrucksform des Menschen handelt.

,Sie wollen dieses Leben überschreiten.’

Das gilt sowohl für den Schizophrenen als auch für den Künstler und jenen, der eine neue Spezies, eine neue Säugetierart erschaffen will. Die Erzeugung ästhetischer Werke ist nicht letztes Ziel, sondern Positionssignal, Dokument, Verständigungszeichen eines Strebens. Der Wahnsinnige zelebriert ebenso einen Kommunikationsritus und kann sich als großer oder kleiner Künstler begreifen. Die Kranken sind originelle Pfadfinder, Kulturerzeuger oder Kunstpfader. Der Arzt müßte ihnen täglich den sozialen Stellenwert des Künstlers verleihen und seine Adoration aussprechen.”

Die Liste der teilnehmenden Fachleute im engeren Sinn, der Psychiater, Psychologen und so weiter umfaßt alles, was Rang und Namen hat. Sie haben viele schöpferische Fragen gestellt, wieder gestellt, anders gestellt. Sie haben miteinander sicher leichter gesprochen als mit der kleinen Gruppe der Künstler, in deren Ausführungen ihnen das eine oder andere Symptom aufgefallen sein mag. Ob es ihnen gelungen ist, auch das zu erzielen, was man einigermaßen leichtfertig als „handfeste Resultate” zu bezeichnen und am Ende wissenschaftlicher Kongresse zu erwarten pflegt, wird wohl nur die Fachwelt erfahren. Man sollte sich ohnehin daran gewöhnen, die Fragen für wichtiger zu halten, denn gerade auf diesem Gebiet könnten immer genauere Fragestellungen das Ausmaß der ausständigen Antworten möglicherweise auf einen überraschend kleinen Rest zusammenschmelzen lassen.

Josef Schmid, sechzig Jahre, alt schon, dreißig Jahre krank schon Schizophrenie kein Genie.

Gedicht eines Patienten

Unser Laienverstand glaubt in der großen, seit Jahrzehnten mit wechselnden Gesichtspunkten und Terminologien geführten Diskussion über die Zusammenhänge zwischen Kunst und Psychopathologie eine Reihe von Scheinproblemen zu entdecken. Scheinprobleme, die sich darauf zurückführen lassen, daß die „Gesellschaft der Gesunden” zwischen sich und den „Verrückten” unsichtbare psychologische Schranken errichtet hat, die schwerer übersteigbar sind als die höchsten Irrenhausmauem. Der Geisteskranke ist, so scheint uns, Angehöriger einer mit zum Teil höchst subtilen Mitteln verfolgten Minderheit. Die Künstler sind Grenzgänger, allzu viele Psychiater sind es noch nicht. Kein Geringerer als Primarius DDr. Leo Navratil, Präsident der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychopathologie des Ausdrucks und Verfasser der Bücher „Schizophrenie und Sprache” und „Schizophrenie und Kunst”, bestätigt es, wenn er, selbst einer der „Grenzgänger”, schreibt: „Dagegen wird die tatsächlich bestehende seelische Verwandtschaft zwischen dem Schizophrenen und dem Künstler selbst von Psychiatern gerne noch bestritten.”

Worauf könnte dies zurückzuführen sein, wenn nicht auf die unsichtbare Mauer zwischen „uns, den Gesunden” und „ihnen”, der ausgestoßenen Minderheit, mit der man nicht identifiziert werden will?

Primarius DDr. Navratil schreibt weiter: Nicht nur unter Laien, sondern auch unter Psychiatern und anderen Fachleuten taucht immer wieder die Ansicht auf, daß Geisteskranke aus irgendeinem Grunde nicht legitimiert seien, Kunst zu schaffen. Man spricht den Kranken das künstlerische Bewußtsein, die künstlerische Intention und Aussage, die rationale Kontrolle, Verständlichkeit, die Fähigkeit zur Kommunikation, die Beziehung zur Zeit und Gesellschaft ab. Ihre Werke könnten daher zur Kunst im eigentlichen Sinne nicht gehören.”

Von geistiger Gesundheit spricht kein griechischer Denker, wohl aber von göttlichem Wahnsinn.

Friedrich Deich

Schreckliche Sätze, um so schrecklicher, weil wahr. Die Folgerung: Fs scheint uns sehr schwer, über das Thema „Psychopathologie und Kunst” vernünftig zu sprechen, ohne das Thema „Die Psychopathologie der Gesellschaft, dargestellt an ihrem Verhältnis zu den Geisteskranken” einzubeziehen.

So gesehen, stellt sich ein allzu auffälliges Staunen über die künstlerische Kreativität mancher Geisteskranker als eine Mitwirkung an der Erhaltung der unsichtbaren Mauern dar, hinter der die alte Tendenz zur Ausschließung aus der exklusiven „Gesellschaft der Gesunden” sichtbar wird. Wird jedoch alles vermieden, was dazu dienen kann, diese Ausschließung zu rationalisieren, ist die Beschäftigung mit den Parallelen zwischen Kunst und Psychopathologie sehr geeignet, auch zur, Verzeihung, Kunst der Gesunden, die keine gesunde Kunst sein muß, ein neues Verhältnis zu finden. Die Linzer Tagung hat so manchen Beitrag dazu geleistet.

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