Ursula Krechel - © https://commons.wikimedia.org/

Von Mundfeigen und anderen Verletzungen: Ursula Krechels "Der Übergriff"

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Übergriffe finden noch immer permanent statt, aber nach #MeToo und mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen werden sie endlich auch thematisiert. Bereits 2001 hat die deutsche Autorin Ursula Krechel dieses Thema in ihrer Erzählung „Der Übergriff“ in den Fokus gerückt. Jetzt gibt es den Band in einer bearbeiteten Neuauflage.

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Übergriffe finden noch immer permanent statt, aber nach #MeToo und mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen werden sie endlich auch thematisiert. Bereits 2001 hat die deutsche Autorin Ursula Krechel dieses Thema in ihrer Erzählung „Der Übergriff“ in den Fokus gerückt. Jetzt gibt es den Band in einer bearbeiteten Neuauflage.

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Tiefe Schnitte im gräulichen Karton, aus denen Hände dringen, und darüber der Titel in einem hellen Rot. Das Cover unterstreicht sehr eindringlich das aktuelle Thema „Übergriff“. Ursula Krechels gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 2001 wurde jüngst neu bearbeitet und im Jung und Jung Verlag wieder aufgelegt. Obgleich sich seit damals bereits einiges getan hat, ist erschreckend, dass der Text auch heute noch nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat.

Da ist eine Stimme, die sich immer wieder „mit überlegener Klarheit“ erhebt und die namenlose Ich-Erzählerin mit den Worten „Halt‘s Maul!“ rüde zum Schweigen auffordert. Die stimmliche Belästigung fühlt sich wie eine Ohrfeige an und ist sofort zur Stelle, wenn sie den Mund aufmacht, um zur Widerrede anzusetzen. Der weibliche Mund hat schließlich völlig andere Funktionen wie Essen, Küssen oder Staunen. Als Grund für die Präsenz dieser inneren Stimme, die sie schwächt und lähmt, sieht die Ich-Erzählerin „Feigheit (Ohrfeige, Mundfeige sind vage Hinweise auf den Wortgebrauch)“, Ohnmacht oder „Willigkeit“.

Die Protagonistin hat ihre Arbeit verloren. Auf einer Schiffsreise lernt sie einen Mann kennen, dem sie nach „einer kleinen Schamfrist“ in sein Heim folgt. Mit diesem Visitenkartenbesitzer diffundiert plötzlich auch Gas in ihr Leben. Denn er verhandelt in Moskau mit Gazprom, kämpft auf dem Markt um Anteile und kauft günstig ein. Gerade wird der gesamte Gasmarkt neu strukturiert. Abends bittet er die Ich-Erzählerin gerne mit einem ganz eigenen „flehentlichen Blick“, ihn mit ihrer Silberhalskette zu schlagen: „Der Schmerz, den er fühlte, war ein Garant [für ihre] Beschämung“ und bringt sie zum Weinen. Ihre Einschüchterung kanalisiert sich „unter Einfluss dieser Stimme“ im Schreiben.

Krechel untersucht in ihrer Erzählung mit psychologischer Raffinesse mannigfaltige Dimensionen und Modalitäten von Gewalt auf der Metaebene. Und diese gibt es zuhauf. Zur Sprache kommen Mannwerdungsrituale in Form des Knabenpeitschens, ein getupftes Kleid im Kasten mit den Blutflecken einer Vorgängerin, Verletzungen, „Vernichtungsenergie“, Terror und Krieg oder die Demütigung der Nachbarmädchen, die vom Vater jeden Samstag geschlagen werden, während alle im Umfeld schweigen. Die Protagonistin duldet eine reglementierende Stimme, um sich dem Übergriff zu entziehen. Zugleich aber entlarvt Krechel mit einer sprachkritischen Annäherung an das Thema tradierte, bis heute sichtbare Prägungen in einem fein nuancierten Subtext.

Im Nachwort betont Antje Rávik Strubel die Aktualität und Hellsichtigkeit dieser Erzählung mit dem Verweis auf den Konnex „zwischen der Ausbeutung fossiler Energien und der Sicherung autokratischer und diktatorischer Herrschaft“. Eine Möglichkeit sei die „Achse der Achtsamkeit“, die hier auch Bedeutung in der „Stille“ erlangt. Ursula Krechel setzt dem Übergriff den sublimierten Widerspruch entgegen und sieht eine Option im bewussten Raumgeben. Die „Beweglichkeit im Zu- und Hinhören“ macht es möglich, der Stimme standzuhalten.

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