Von Musik lesen und die Liebe hören

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Geschichte des deutschen Komponisten Edwin Geist, der 1943 in Litauen ermordet wurde.

Was bleibt von einem Komponisten, von dem keine Note zu hören ist? Wenn es hoch kommt vielleicht geschriebene Erinnerungen? Zumindest im Lexikon der Juden in der Musik, das die Nazis in den 30er Jahren herausgegeben haben, scheint der Name Edwin Geist auf. Viele andere Nachschlagewerke kennen den Namen nicht.

Recherchiertes Leben

Der Literat Reinhard Kaiser ist im Zuge des mehrfach ausgezeichneten Buches "Königskinder. Eine wahre Liebe" auf Edwin Geist gestoßen, der wie der junge Deutsche Rudolf Kaufmann im Roman "Königskinder" im Zentrum einer unglaublichen Liebesgeschichte steht.

Im Jahr 1935 lernt Kaufmann für wenige Tage die Schwedin Ingeborg Magnusson kennen. In den folgenden fünf Jahren können die beiden ihre Liebe nur über Briefe ausleben. Edwin Geist hingegen flüchtete vor dem Nationalsozialismus nach Litauen und wurde mit seiner Frau Lydia Bagriansky ins Getto in Vilnius verfrachtet. Es gelang ihm entlassen zu werden und er versuchte alles, um auch seine Frau vor dem sicheren Tod zu retten.

Der "Fluchthelfer" - für einige Monate zumindest - war Helmut Rauca, ein SS-Mann, der nach dem Krieg in Kanada lebte. Wenige wurden in den 80er Jahren aus Amerika und Kanada ausgewiesen, um in Polen oder Deutschland ihre gerechte Strafe zu bekommen. Rauca gehörte dazu, doch knapp vor seinem Prozess verstarb er.

Edwin Geist überlebte den Nationalsozialismus nicht, seine Frau Lydia hörte ebenso wenig wie er die Glocken der Befreiung. Wochen nach der Erschießung des Mannes nahm sie Gift in ihrer Wohnung. Das Vergessen konnte beginnen, doch der Deutsche, der nach Litauen geflohen war und die Volksmusik Litauens als Beispiel für atonale Musik gepriesen hatte, hatte die Chance (wieder)entdeckt zu werden. Spuren hinterließ die Geschichte des Komponisten und seiner geliebten Frau auch in den Tagebüchern von Margarete Holzman, die 1965 nach Deutschland auswandern konnte.

Nach dem Krieg war die Wahrheit nicht immer gefragt, sie musste auch in die neue Zeit passen. In der DDR wurde Edwin Geist zum Antifaschisten, der eine Jüdin rettete. Dass er selbst kein reiner "Arier" war, bedeutete mehr als einen Wermutstropfen im heroischen Getränk, das der Nachwelt serviert werden sollte. So begann nach dem Vergessen das korrigierte Erinnern.

Korrigiertes Erinnern

Reinhard Kaiser brauchte viel Zeit um die Geschichte zu recherchieren und zu rekonstruieren, begann mit Edwin Geists Leben in Deutschland und in Zürich. Was durch seine Recherchen entstand, war ein Stück Kulturgeschichte über selektive Erinnerung im geteilten Deutschland, über den Prozess der Erinnerung, in dem die Toten nach den eigenen Wünschen hergerichtet werden.

Ein Mangel bleibt: Wer den berührenden Notizen von Edwin Geist, der das Tagebuch für seine im Getto verbliebene Frau schrieb, gefolgt ist, wer von den Kompositionen gelesen hat, der wünscht sich schließlich auch die Musik zu hören.

Ein einziges Konzert in Litauen im Jahr 1973 wurde tatsächlich aufgezeichnet, von einer Oper existiert nur eine Tonbandkassette. Eine kleine Chance besteht also, die Musik doch noch zu hören.

Es ist ein Wagnis, über einen Komponisten, dessen kreierte Töne völlig unbekannt sind, zu schreiben, doch Reinhard Kaiser schafft das zunächst schwer vorstellbare: Er bringt die Erinnerung mit all ihren Misstönen zum Klingen und wir lesen nicht das reine Lied des Helden, sondern hören die Geschichte eines Zerrissenen.

Unerhörte Rettung

Die Suche nach Edwin Geist

Von Reinhard Kaiser

Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2004

353 Seiten, geb., e 25,60

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