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Von Strindberg bis Pinter

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Was sich im Wiener Sprechtheater eben ereignete, hat es in den beiden letzten Jahrzehnten nieht gegeben: In acht Tagen sieben Premieren mit lehn Stücken. Dabei zeigte es sich, daß nicht ein einziges Werk der früheren Meisterdramatiker aufgeführt wurde, alle stammen aus unserem Jahrhundert, und zwar zum größten Teil von lebenden Autoren. Fehlen zweifellos in dieser Zufallsreihe die Spitzendramen dieser sieben Jahrzehnte, so ergibt sich doch ein einigermaßen gutes Bild dessen, was für unsere Zeit dem Gehalt und den Ausdrucksformen nach als kennzeichnend zu erachten ist

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Was sich im Wiener Sprechtheater eben ereignete, hat es in den beiden letzten Jahrzehnten nieht gegeben: In acht Tagen sieben Premieren mit lehn Stücken. Dabei zeigte es sich, daß nicht ein einziges Werk der früheren Meisterdramatiker aufgeführt wurde, alle stammen aus unserem Jahrhundert, und zwar zum größten Teil von lebenden Autoren. Fehlen zweifellos in dieser Zufallsreihe die Spitzendramen dieser sieben Jahrzehnte, so ergibt sich doch ein einigermaßen gutes Bild dessen, was für unsere Zeit dem Gehalt und den Ausdrucksformen nach als kennzeichnend zu erachten ist

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Das Burotlieater führt verdienstvoll ein Stück jenes Autors auf, den Franz Theodor Csokor einen „Österreicher im übernationalen Sinn“ genannt hat: Das Schauspiel „Der jüngste Tag“ von ödön von Horvath. Es ist eines seiner gehaltvollsten Bühnenwerke. Die Frage der Schuld wird aufgeworfen, ob wir stets schuld sind atti unserer Schuld. Oder ob es auch anders sein kann. Thomas Hudetz, der pflichteifrige Vorstand einer kleinen Eisenbahnstation, versäumt es, ein Signal zu stellen, wodurch ein Zugszusammenstoß entsteht bei dem es achtzehn Tote gibt. Hudetz fühlt sich unschuldig. Daher leugnet er vor Gericht sein unheilvolles Versäumnis. Wo liegt die Schuld? Seine Frau ist um dreizehn Jahre älter als er und macht ihm aus Eifersucht dauernd Szenen; sie gut als böse, so daß man sie im Dorf haßt und von ihm sagt, er sei kein Mann. Um sie zu reizen, gab die junge Wirtstochter Anna dem Vorstand im kritischen Augenblick einen Kuß. Ist also sie schuld? Oder die Frau, ohne deren Verhalten es nicht zu dem Kuß gekommen wäre? Wer ist schuld? Hudetz wird schließlich zum Mörder an Anna, die ihn durch einen Meineid vor Bestrafung rettete und dies dann bereut.

In der ländlichen Umwelt ersteht eiijie Tragödie von fast antiker Größe. Aus nichtigen Ursachen, aus keiner unmittelbaren Schuld bei Fralu Hudetz, aus anfangs geringfügigen Verfehlungen bei Anna und dem Vorstand ergilbt sich eine Verkettung von unheimlicher Folgerichtigkeit, die das vorerst unterdrückte Gewissen des Mädchens und dann des Mannes gewaltig aufbrechen läßt. Da dies alles schlicht naturalistisch entwickelt ist, stört die Szene am Schluß, in der Hudetz, ehe er sich stellt, Tote des Zugsunglücks zu sehen glaubt und Posaunen zu hören vermeint. Das würde ein andersgeartetes Stück voraussetzen. Eingebettet ist das Geschehen in die Klatschereien der Dorfbewohner, in denen die Wankelmütigkeit, Fühllosigkeit, die Kälte, das Hämische der Menschen mit meisterlichen Strichen gezeichnet sind.

In der Regie von Rudolf Steinbock erstehen die Szenen zu packender Echtheit. Alle Rollen sind deckend besetzt. Die Szenen mit den Toten freilich hätte scharf zurückgenommen werden müssen. Rudolf Melichar hat das seelisch Karge des Hudetz, Sylvia Lukan ist als Anna überzeugend das lebensgierige Ding, das dann der Gewissensqual verfällt. Lisi Kienast als Frau Hudetz, Gusti Wolf als klatschsüchtige Dorfbewohnerin beeindrucken unter den übrigen Mitwirkenden besonders. Die wirkungsvoll naturalistischen Bühnenbilder stammen von Lois Egg.

Es gibt noch immer unaufgeführte Bühnenwerke von Horvath. Dazu gehört ein gänzlich anders geartetes Stück, das sechs Jahre früher, um 1930, entstandene Posse „Rund um den Kongreß“, die eben jetzt im Theater am Belvedere zur Uraufführung gelangte. Sie hat keineswegs, wie man wohl zuerst vermutet, den Wiener Kongreß zum Vorwurf, es geht weder um Politik noch um Walzerseligkeit, Horvath verspottet die Bekämpfung des „ältesten Gewerbes der Welt“, wozu er einen Kongreß, der sich dieser Aufgabe widmet, auf die Bühne bringt. Der Zuhälter Alfred will das „Fräulein“, eine Person mit eben erst einsetzender Erfahrung, einem südamerikanischen Etablissement eindeutiger Bestimmung, vermitteln, führt die hiefür durchaus Willige aber vorher noch gegen Bezahlung diesem Kongreß vor, wo sie über ihr Leben befragt wird. Da nun macht Horvath die Teilnehmer, die sich zwischen ihren Reden kulinarischen Genüssen ergeben, in etwas billiger Weise lächerlich, mag sich ihre antithetische Haltung auch mit der Haltung fast aller Behörden zu allen Zeiten decken: Man kämpft gegen die Prostitution wie gegen Windmühlen.

Sieht man von dem ironischen Schluß ab, bei dem — frei nach Ludwig Tieck — ein „Vertreter des Publikums“ die Rückkehr des „Fräuleins“ zu ihrem früheren Gatten erzwingt, bleibt die satirische Kraft in der langen Kongreßszene matt. Der Bruch, der durch den Ubergang von realistischer Darstellung zu dieser versucht satirischen Akzentuierung entsteht, macht das Stück uneinheitlich, um so mehr als auch noch eine surreale Szene unorganisch und unnotwendig zwischengeschaltet ist. Mit geradezu beklemmender Lebensnähe dagegen ersteht am Anfang die Kälte und Brutalität des Zuhälters und der Dirnen. Hierin bekundet sich Hor-vaths starkes Talent. Unter der Regie von Dr. Irimbert Ganser ergibt die szenische Lösung von Robert Sylvester auf der kleinen Bühne optische Widersprüche, auch dadurch, daß Umbauten vermieden werden. Bemühtes Spiel der jungen Darsteiler: Gerhard Matten, Margot Skoflc, Gertraud Frey, Johannes Kaiser,

Strindberg schildert am Anfang seines Buches „Einsam“, sechs Jahre nach der Infernokrise, das Wohlgefühl, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein und sich in die „Seide seiner eigenen Seele“ einzuspinnen. Angst befällt ihn, als ihm sein Sohn aus erster Ehe, der seit vielen Jahren in Amerika lebt, angemeldet wird. Aber die Angst erweist sich als unbegründet; nicht der Sohn, der „Brudersohn“ hatte seinen Besuch angekündigt. Eben das Entsetzen vor einer wiederkehrenden Vergangenheit, das sich dann als unbegründet herausstellt, ist der Vorwurf des später entstandenen Kammerspiels „Wetterleuchten“, das derzeit im Akademietheater aufgeführt wird.

Wir sehen die düstere Fassade eines vornehmen Mietshauses und im Erdgeschoß durch ein großes Fenster einen geräumigen Salon. Da wohnt der „Herr“, ein pensionierter Beamter. Er hat spät noch einmal geheiratet, trennte sich alternd von Frau und Kind und genießt seine Einsamkeit. Als die Frau aber in einer neuen Ehe ebenfalls scheitert und sich nun an ihren früheren Mann wendet, ersteht für ihn die Gefahr, daß sich das einst Durch-littene wiederholt. Typisch strind-bergisch hat die Frau in seiner Phantasie peinigend tyrannische Züge angenommen. Doch sie reist mit dem Kind endgültig zu ihrer Mutter. Die Gefahr ist vorbei, die Ruhe des „Herrn“ wird nicht mehr gestört.

Es knistert von Geheimnisvollem, manches wirkt gespenstisch, Blitze zucken in der Ferne, aber das Gewitter verzieht sich, der „Herr“ kann sich beruhigt wieder seinen herbstlichen Gefühlen hingeben. Diese Stimmung vermittelt Wolfgang Glück, der erstmals als Burgtheaterregisseur eingesetzt ist, in einer überaus dichten Aufführung, die zu den besten dieser Spielzeit gehört. Die Einsamkeit des „Herrn“, die Stille, setzt er vortrefflich durch optische Mittel — zweckloses Herumgehen, zwecklose Gesten — szenisch um. Meisterliches Spiel von Attila Hörbiger als der „Herr“, von Paul Hoffmann als dessen agilerem Bruder. Martha Wallner gibt der Frau hektische Aufgestörtheit. Das eindrucksatme Bühnenbild — im Mittelteil wird der Blick auf den ganzen Wohnraum frei — stammt von Siegfried Stepanek.

Als Wiederaufnahme ist im Akademietheater die Briefkomödie „Geliebter Lügner“ von Jerome Kilty zu sehen, in der Paul Hoffmann als G. B. Shaw und Käthe Gold als Stella Patrick Campbell brillieren. Ein Spiel überlegenen, facettenreichen Intellekts und, von Seiten der Frau, behutsamen Gefühls.

Die Schicksalsvorstellung des Sophokles in der Tragödie „König ödipus“ läßt sich in ihrer Unerbittlichkeit wohl nicht überbieten. Jean Cocteau übernahm diese Vorstellung in seinem derzeit im Volkstheater aufgeführten Stück „Die teuflische Maschine“. Er war noch nicht Dürrenmatts Meinung, wonach die „schreckliche Geschichte mit ödipus“ heute komisch sei. Cocteau hebt das Unerbittliche durch den Titel noch hervor: Das Schicksal arbeitet mit maschineller Präzision. Doch drängt er die Vorgänge der antiken Tragödie in den letzten der vier Akte zusammen. Worum es ihm geht, ist die Vorgeschichte. Vor allem reizte ihn die Gestalt der Sphinx, sie gewinnt surrealistische Züge, er stellt sie als ein Doppelwesen dar, als ein Mädchen, das sich in Ödipus verliebt, und ihm vorweg die Lösung des Rätsels gibt, die sie als Nemesis, die Göttin der Rache, des Tötens durch Anubis, den Totengott, müde ist. Der Sieger ödipus ist in Wahrheit kein Sieger, kein Held. Die Schicksallsvorstellung erhält dadurch zwar keine andere Facettierung, aber die Gestalten verlieren ihre antike Starre, sie kommen uns näher. Ein dichterischer Einfall beschließt das Stück: Der blinde ödipus sieht, was die anderen nicht sehen: seine tote Mutter, die seine Frau war und ihm nun zu Hilfe kommt, In der Geborgenheit des Mütterlichen nimmt er sein Schicksal auf sich. Bei zweifellosen Vorzügen ist diese Interpretation des antiken Vorwurfs nicht frei von kokett modisch wirkenden Einzelheiten. Manche Längen würden erhebliche Striche erfordern. Aus der Durchschnittsqualität der Aufführung — Regie Gustav Man-ker — ragt Elisabeth Epp als Jokaste heraus, die das Königliche, Weibchenhafte und Hysterische der Gestalt überzeugend vereint. Wolfgang Hübsch als ödipus und Maria Urban als Sphinx erreichen nicht das Maß der Rollen. Das Bühnenbild von Wolfgang Vollhard zeigt übergroß die „Schicksalsräder“.

Günther Weisenborn, idealistischer Mann der Linken, hatte merkbar die Absicht, ein heiteres, poetisch märchenhaftes Stück ohne alle politischen Akzente zu schreiben; er siedelte es unter dem Titel „Das Glück der Konkubinen“ — Aufführung des Volkstheaters in den Wiener Außenbezirken — im kaiserlichen China an. Da wird der Prä-fekt eines Distrikts beauftragt, dem Herrscher innerhalb dreier Tage 111 der schönsten Mädchen als Konkubinen zu senden, was einen ungeheuren Sturm auf die Männerwelt auslöst. Jede will sofort verheiratet sein, um dem unerfreulichen Leben am Kalserhof zu entgehen. Inversion der weiblichen Eitelkeit: Selbst die Hübschesten möchten nun häßlich erscheinen. Trotz dieses netten Einfalls erreicht das Stück aber weder im Heiteren noch im Poetisehen szenische Dichte. Dietrich Hübsch ist als Regisseur etwas zu sehr auf Schwankwirkungen bedacht. Erika Motu und Michael Herbe sind zwei sympathische junge Menschen, die trotz mancher Hindernisse zueinander finden. Mit Strohmatten und großen hängenden Schriftrollen erreicht die Bühnenbildnerin Brigitte Brunmayr wirkungsvoll die Impression des Ostens.

Im Kleinen Theater der Josefstadt fand die deutschsprachige Erstaufführung des Einakters „Das Ereignis“ von Guy Foissy statt. Aus der gelangweüten, von Bosheiten knisternden Abendunterhaltung eines älteren Ehepaars — der Fernsehapparat ist gestört — ersteht das Seelenbild jener Durchschnittsmenschen, die wie zum Spaß kleine Bruitalitätsakte begehen können. Als die beiden unter ihren Fenstern zufällig einen Mord beobachten, halten sie sich darüber auf, daß niemand zu Hilfe eilt, greifen aber selbst nicht ein. Der Gatte weidet sich an der Vorstellung, als Zeuge von den Zeitungen interviewt zu werden. Durchsetzt von mancherlei schwarzem Humor, führt der Autor jene psychischen Voraussetzungen vor, die unter besonderen Verhältnissen zu jenen Untaten führen, wie sie in unserem Jahrhundert begangen wurden und begangen werden. Banales wird zeitkritisch akzentuiert.

In dem Einakter „Wer mar Mister Hilary?“ von James Saunders, der im Anschluß gespielt wird, gibt es ein ebenso banales Gespräch, und zwar zwischen zwei kartenspielenden Damen, wobei das Dienstmädchen dem Publikum Makabres aus der Vergangenheit der einen berichtet. Schließlich tarockieren die beiden ihre einstigen Sexerlebnisse aus, wobei sie sich gegenseitig auszustechen versuchen. Mäßiger Einfall des „Romantikers der Avantgarde“. Perfektes Spiel unter der Regie von Florian Lepusehitz mit Grete Zimmer und Erik Frey im ersten Einakter. Den zweiten bietet Frey als Spielleiter mit Marianne Schönauer und Bibiane Zeller als den beiden Damen und Gertraud Jesserer als Dienstmädchen in aparter, preziöser Wachsfigurenkomik dar. Die reizvollen Bühnenbilder schuf Monika von Zallinger.

In Wiens bekanntestem Nachtlokal Moulin Rouge sieht man derzeit in der ersten Abendvorstellung „Erotisches Theater“, eine Produktion des Theaters im Palais Erzherzog Karl, literarisch orientierten Klein-bühne. Zunächst werden zwei Einakter von dem in Amerika sehr geschätzten Romanautor Saul Bellow vorgeführt, beide enttäuschen. „Orangen-Soufflee“ erweist sich als arg belanglos, ein Freudscher Komplex wird zu einem läppischen1 Schwankmotiv in dein Stück ..Das Mal“. Als dritter Einakter folgt*,Die“ Kollektion“ von Harold Pinter — seinerzeit in Berlins Schiller-Theater Werkstatt aufgeführt —, in dem es darum geht, ob zwischen einem homosexuellen und einem normalen Paar eine Querverbindung besteht. Doch die Wahrheit bleibt un-ergründbar. Der einzige Avantgar-' dist wandelte sich da zum Boulevar-dier. In dem runden Raum des Moulin Rouge wird auf der zentralen kreisförmigen Fläche gespielt, wo simultane Schauplätze, ungetrennt aneinandergerückt, die Wirkung stören. Das von den Stücken her unnotwendige vorübergehende „oben ohne“ einer Darstellerin im ersten und dritten Einakter soll wohl die Bezeichnung „Erotisches Theater“ rechtfertigen. Unter der kundigen Regie von Osman Ragheb bieten Ingold Platzer, Ariane Calix und Peter Garell durchschnittliche Leistungen. Zwischen Nachtlokalproduktion und Literatur angesiedelt, erreichte diese Darbietung nur mäßigen Erfolg.

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