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Von Volk zu Volk

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Jedem, der in den letzten Jahren Gelegenheit hatte, mit breiten Schichten in Deutschland oder Polen unmittelbaren Kontakt zu pflegen, aber auch mit maßgebenden Politikern, Wirtschaftsleuten und „Kulturschaffenden“ zusammenzutreffen, sind zwei zueinander in schroffem Widerspruch beharrende Tatsachen bewußt geworden: der Erbhaß zwischen Deutschen und Polen ist, wir sagen nicht: verschwunden, doch im Schwinden begriffen, man wünscht eine ehrliche Versöhnung, doch es scheint unmöglich, zu ihr zu gelangen, und die aufrichtigen Befürworter einer sowohl im Interesse der beiden Völker als- auch des Weltfriedens so nötigen 'Entspannung zwischen diesen Nachbarnationen stoßen immer wieder auf derzeit unüberwindliche Hindernisse.

Der 20. Jahrestag des Angriffs, den das Dritte Reich auf Polen im September 1939 unternommen hat, die Botschaft Adenauers und die von grimmigem Hohn getränkte Antwort Cyrankiewiczs, die durch den dünnen Schleier des diplomatischen Halbgeheimnisses hindurch deutlich sichtbaren Bemühungen der USA zugunsten einer deutsch-polnischen Annäherung bieten den dringenden Anlaß, über dieses so heikle Problem, unbefangen und die hüben wie drüben aufgetürmten Tabus mißachtend, die volle Wahrheit zu sagen. Derlei Aufrichtigkeit ist wesentlich; denn die offiziellen und die offiziösen Darstellungen, und nicht nur sie, die in Westdeutschland wie in Volkspolen verbreitet werden, verschweigen den eigentlichen Kern der Dinge oder sie deuten ihn so verschlüsselt an, daß nur der sehr Eingeweihte die gesprochenen oder gedruckten Chiffren enträtseln kann.

Von Deutschland aus gesehen lautet das vordringliche Hindernis folgendermaßen: Eine echte Verständigung mit Polen wäre nur auf der Basis der formellen Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze möglich. Dazu dürfen wir uns aus taktischen Erwägungen nicht bequemen, denn das schwächt von vornherein unsere Position bei künftigen Pourparlers; wir — das sind in diesem Falle die Staatslenker und Parteiführer, einerlei, ob sie der CDU, der SPD oder der FDP angehören — dürfen weiter darum diese grundsätzliche Stellungnahme nicht ändern, weil uns dies die Stimmen der erdrückenden Mehrheit der in der Bundesrepublik lebenden Heimatvertriebenen und die vieler anderer Wähler kosten und eine nationalistische Welle auslösen müßte. An und für sich, das vermögen aber die kühlen Realpolitiker und (oder) die zum Opfer auf dem AJtar der Freundschaft mit Polen Gewillten um keinen Preis offen eingestehen, meinen wir, daß die große Majorität der Heimatvertriebenen sich in Westdeutschland weit besser fühlt als in ihren früheren Wohnsitzen, daß sie sich größtenteils an ihrem jetzigen Wohnsitz einwurzeln und daß die nächste Generation sich da völlig zu Hause fühlen wird. Wir wissen ferner, daß eine Rückgliederung der Gebiete östlich der Oder-Neiße- Linie nur im höchst unwahrscheinlichen Fall einer völligen Frontänderung der sowjetischen Gesamtpolitik oder nach einem furchtbaren neuen Weltkrieg und nach einer zerschmetternden Niederlage des sowjetisch-chinesischen Blocks denkbar wäre. Endlich, das aber wird am wenigsten einbekannt, verspüren sowohl viele Politiker als auch weite Bevölkerungsschichten in Westdeutschland sehr geringen Eifer für die unter den heutigen Umständen utopische, sonst aber nur nach katastrophalen Vorspielen erwartbare, sicher aber mit gewaltigen wirtschaftlichen Verlusten zu verknüpfende Wiedergewinnung der Ostprovinzen; wobei noch Betrachtungen über die alsdann erfolgende Verschiebung der Zahlenverhältnisse zwischen den Konfessionen und den Parteien durchdacht werden. Tut nichts, die Oder-Neiße-Grenze wird, oder sie wurde bis vor ganz kurzer Zeit, amtlich als undiskutierbar erklärt. Erst seit kurzem wird auch in Kreisen der CDU und der FPD, seit längerem freilich bei der SPD, die Möglichkeit einer Erörterung der . deutsch-polnischen Grenze zugestanden.

Abgesehen von den von uns geschilderten Hemmnissen eines fruchtbaren deutsch-polnischen Gesprächs gibt es aber noch eine andere, offen genannte, unseres Erachtens weit ernstere Schwierigkeit, als sie die Grenzfrage bfldet. Westdeutsche Freunde der europäischen Integration, des Friedens und einer deutsch-polnischen

Annäherung bezweifeln mit Recht, daß sogar eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, daß überhaupt jederlei deutsches Zugeständnis und die freundschaftlichsten Gesten und Taten einen nennenswerten Erfolg zeitigen könnten, weil nämlich erstens die polnische Volksdemokratie, und nur mit dieser hat man es zu tun, durchaus vom Kreml abhängig ist; weil zweitens die UdSSR keinerlei direkte Verständigung zwischen einem nichtkommunistischen Deutschland und dem kommunistisch regierten Polen zulassen wird (und, vom Moskauer Standort aus, kann). Wozu also Konzessionen machen, wozu liebenswürdige Worte sprechen, wozu — was immerhin schon geschehen ist — lose Fühlungnahme versuchen, wenn darauf aus Warschau nichts als eisige Ablehnung folgen darf?

Die jüngsten Erfahrungen scheinen derlei Ansichten recht zu geben. Auf die herzlichen und zweifellos auf amerikanische Anregung zurückzuführenden Worte Adenauers zum 20. Jahrestag der Aggression Nazideutschlands gegen

Polen erwiderte Erstminister Cyrankiewicz schon am Folgetag, dem 1. September, mit einer rhetorisch ungemein wirksamen Rede bei einer überparteilichen Massenkundgebung in Warschau. Der volle Text wurde leider im Westen nicht veröffentlicht. Er enthüllt dem Tiefenpsychologen vordringlich zweierlei: einerseits den ohnedies bekannten sowjetischen Druck, der es Polen verbietet, durch, irgendwelche engere Kontakte mit Westdeutschland das Mißtrauen des Kremls zu erregen, und die Scheu, die von den leitenden Männern des volksdemokratischen Regimes in Warschau vor der Rückwirkung derartiger Annäherungsbestrebungen auf die innenpolitische Lage empfunden wird: eine Bonner Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze würde den polnischen Kommunisten das einzige wirksame Argument rauben, mit dem sie die nichtmarxistische Mehrheit der Nation dem Sowjetbündnis und einer freundlichen oder wenigstens neutralen Haltung gegenüber dem

Kurs Gomulkas geneigt machen konnten. Anderseits spricht aus den Darlegungen des polnischen Regierungschefs eine echte Angst vor deutschen Revanchegelüsten, vor einem dritten feindlichen Einfall deutscher Heere und vor dessen grauenhaften Konsequenzen. Cyrankiewicz, und mit ihm nicht nur Kommunisten, sondern auch ehrliche Anhänger einer deutsch-polnischen Aussöhnung, werden die gespenstischen Erinnerungen an die Zeit von 1939 bis 1945 nicht loš; sie fürchten jedes Deutschland; sie fürchten „die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen . Und dies ist — gleich der Ueberzeugung deutscher Polenfreunde, die Warschaus Möglichkeit zu selbständiger Regelung seiner Beziehungen zu Bonn verneinen — wohl das wichtigste Hindernis auf polnischer Seite, das sich der gyten, also einer vertrauensvollen Nachbarschaft der beiden Nationen entgegenstemmt. Fügen wir sofort hinzu, daß jenseits der amtlichen oder der parteilichen Sphären das Mißtrauen gegenüber der DDR um nichts geringer ist als das wider Westdeutschland.

Daran ändern auch die anbefohlenen Verbrüderungskundgebungen nichts, die am 20. Jahrestag des Kriegsbeginns in Görlitz und in dessen jenseits der Oder gelegenen Schwesterstadt veranstaltet wurden. Aus dieser Stimmung ist die Atmosphäre zu begreifen, in der Cyrankiewicz seine Rede halten konnte und vermutlich halten mußte: nicht umsonst erklangen die gleichen Töne an demselben Tage aus den sowjetischen Zeitungen und nicht umsonst hat sich der Ministerpräsident bei der Eröffnung der Interparlamentarischen Union in Warschau gedrückt, war er zum 1. September dort und begab er sich sofort darauf nach Moskau, wo in demonstrativer Weise, gerade auf einem Empfang in der polnischen Botschaft, das schon notorische Geheimnis der an den Besuch in Amerika anschließenden Fahrt Chruschtschows nach Peking bekanntgegeben wurde. Es hieß, die unbedingte Solidität und Solidarität des Ostblocks verkünden und dessen Lockerung empört zurückweisen. Beteuerungen hin und her, auch die zarteste'" Blüte westdeutsch-polnischer Freundschaft hätte gegenwärtig in den Augen der Weltöffentlichkeit und des „sozialistischen Lagers“ einen Absprungversuch Polens bedeutet.

Dieses aber ist der letzte Sinn und die eigentlich für den Tieferblickenden überflüssige Lehre der jüngsten Erfahrungen über das deutsch-polnische Verhältnis: Es könnte, von Bonn zu Warschau, nur dann offiziell gebessert werden, wenn sich die Versöhnung mit dem Plazet Chruschtschows, unter sowjetischer Zustimmung, wenn nicht gar Vermittlung, vollzöge. Wir orakeln nicht, daß dies völlig unmöglich wäre, glauben freilich, daß es, wie man in Polen sich ausdrückt, „na ruskich swietach“ geschehen wird, man übersetze sinngemäß deutsch: am Sankt-Niemands-Tag. Ein anderes sind freilich die Beziehungen von Volk zu Volk. D i e haben sich schon entspannt und sie können, šie sollen, sie werden ständig besser werden. Der Ungunst der Regierungen und der Zeiten zum Trotz; einer lichteren Zukunft zum Heil.

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