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Vor dem Rasierspiegel

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Jeden Morgen entbrennt mein Kampf gegen etwas, das nun einmal nicht wachsen soll und von Natur doch wächst. Jeden Morgen vollbringt mein Bart das schwierigste metaphysische Kunststück, nämlich zugleich da zu sein und nicht da zu sein. Jeden Morgen pinsle ich mich weiß ein wie ein Zirkusclown, und nur die Witze, die mir dabei einfallen, haben einen Bart. Jeden Morgen hofft mein Bart, daß ich einmal ein Auge zudrücken und ihm die schmerzlich entbehrte Materialisierung gönnen werde. Doch erst wenn man mir beide Augen zudrückt, dann ist es soweit — dann ist mir schon alles eins, und ich lasse ihn wachsen … Aber ach, gerade dann wird ihn niemand mehr sehen können.

„Lieber einmal im Jahr ein Kind gebären, als sich täglich den Bart rasieren“, seufzen neidvoll die Männer. In dieser Stimmung las ich als naiver Student die Annonce „Entfernung lästiger Haare“ und lief gleich hin, £reil ich meinte, dort meinen Bart für immer loswerden zu können — doch die Verkäuferinnen kicherten mich an und schüttelten die Wasserwellen. Warum erfindet das keiner? Aber gegen den Bart ist kein Kraut gewachsen. Er sei ein „sekundäres Geschlechtsmerkmal“, sagen die Biologen, während die Reklameplakate (eine amerikanische Mädchenwange an eine amerikanische Offizierskinnbacke geschmiegt) gerade die Glätte der Haut als Vorzug preisen. Wer hat recht? Um der Sache auf den Grund zu kommen, ließ ich mir, als ich zufällig einen Granatsplitter in den Rücken bekommen hatte, im Krankenhaus einen Bart stehen. Der Granatsplitter schmerzte gar nicht, der Bart aber prickelte und stach unausgesetzt, und wenn man sich wusch, mußte man inn noch extra abtrocknen. Für mich war die Frage damit entschieden. Nie wieder Bart!

Weil heute soviel Zwecknachrichten ausgegeben werden, so glaubt man verhältnismäßig wenig und vermutet hinter jedem Vorgang ein Geheimnis, eine Inside story. Publiziere ich die (übrigens nicht ungefährliche) Mitteilung, daß zwei mal zwei vier ist, so tippen einige auf fünf, andere ganz Schlaue wieder auf dreieinhalb. Was ist die Inside story des Rasierens? Ich will sie verraten: das E i n s e i f e n ist nämlich die Hauptsache, das Rasieren selber dagegen Nebensache. Ich habe einmal in Taschkent (Zentralasien) zugesehen, wie ein Mann auf dem Marktplatz den Schädel rasiert bekam. Das Einseifen dauerte siebzehn Minuten; dann nahm der Friseur eine Art'Küchenmesser und rasierte die Stoppeln mit drei, vier napoleonischen Strichen so glatt ab, daß der Kunde sich ruhig weiter unterhielt. Man hat in Pharaonengräbern Rasiermesser aus Obsidian- Stein gefunden, und dennoch wurde es geschafft! Wer sich drei Minuten lang einseift, hat das Wichtigste bereits getan.

So halbierte man sich Jahrtausende lang über den Löffel, bis eines Tages ein kühner Amerikaner namens King Gilette kam und die Verrichtung revolutionierte. Er konstruierte den Safety-razor, und das war das Muster einer modernen Erfindung. Vor allem ist es gar kein Sicherheitsmesser, denn man kann sich mit ihm ganz gut schneiden, obzwar nicht tief. Ich hatte einst in Rußland einen Chefingenieur, der rasierte sich damit, während er zugleich sein Frühstück, bestehend aus Würsteln mit Tomatensauce, zu sich nahm. Offenbar hatte er den Versicherungen unserer westlichen Zivilisation betreffs der Safety zu sehr vertraut: tiefernst bearbeitete er kauend sein eingeseiftes Pferdegesicht, während dieses von mannigfachen Blutströmen bunt gesprenkelt war. Manchmal telephonierte er auch noch dabfi, kurz es war ein Leben. Aber in Wirklichkeit liegt die Gefahr gar nicht so sehr im Schneiden wie im „Durchrasieren“, nämlich, daß man sich die Haut abschabt — und das kann man mit dem Safety genau so wie mit dem alten Messer.

In Wahrheit liegt hinter dieser Erfindung ein anderes: ein Prinzip. Aehnlich wie der Erfinder Diesel ging King Gilette von einer völlig abstrakten Erwägung aus. Diesel bekam den Anstoß nicht von einem praktischen Einfall, sondern er wollte eine Kurve im Wirkungsgrad-Diagramm verbessern — und nach zwanzig Jahren stand der Dieselmotor da. King Gilette aber fragte sich: Wie kann ich etwas erfinden, das jedermann täglich und immer wieder braucht? Dann erst kam er auf das Rasieren. So zersplitterte er das (an sich sehr gute) Rasiermesser in fünfhundert Rasierlamellen und verkaufte die nicht mit einemmal fürs ganze Leben wie jenes, sondern nach und nach. „Das Geheimnis liegt in der gebogenen Klinge“, annoncierte er damals; aber die Konkurrenz annoncierte: „Eine gebogene Klinge ist praktisch wertlos.“ Doch in Wirklichkeit lag das Geheimnis darin, daß der Käufer aus einem lebenslänglichen Eigentümer des Messers ein lebenslänglicher Abonnent der vielen kleinen Klingen wurde. (Und natürlich konnte sich nun auch der Ungeübte schneller rasieren.)

Diese Verwandlung eines Eigentümers in einen Abonnenten war tief zeitgemäß. Denn die Welt befand sich im unmerklichen Ueber- gang aus einem Geisteszustand in einen anderen: den des wirtschaftlich freien Menschen in den des Angestellten. Der freie Mensch denkt in Begriffen des Eigentums, und Einkommen ist ihm nur ein Erzeugnis aus jenem. Der Lohnmensch aber denkt in Begriffen des Einkommens; selbst das Eigentum bedeutet ihm vor allem etwas, durch das ein bestimmtes Einkommen gesichert ist. Im Grunde will er kein Eigentum, . weil dieses sorgende Geschicklichkeit verlangt (wie das Rasiermesser), regelmäßiges Einkommen hingegen „Safety“ gibt. Bei einer Steuerdebatte protestierte einst Bismarck heftig dagegen, daß ein Ladenbesitzer mit 2000 Talern Jahresgewinn ebenso hoch besteuert werden sollte wie ein Rentier mit demselben Einkommen. Der eine habe sich darum geplagt und gesargt, der andere bloß den Betrag eingestrichen: zahlenmäßig identisch, bedeuteten diese 2000 Taler etwas völlig Verschiedenes! Woraus man ersehen kann, daß Bismarck zwischen Eigentümer und Abonnent sehr wohl zu unterscheiden wußte. Die Rasierlamellen werden gebraucht und weggeworfen, das Rasiermesser aber bleibt. King Gilette hatte seine Zeit gut verstanden.

Der heilige Thomas von Aquin schrieb im 13. Jahrhundert: „Gegenstände, welche nur zum Verkauf produziert werden, sind in der Qualität meist geringer als solche, die in Hinsicht auf den Gebrauch erzeugt wurden.“ Das gilt heute genau so. Verkauf und Qualität Stehen in einem Verhältnis, jede Reklame ruft „Qualität!“, meint aber zugleich doch den Verkauf. Im natürlichen Verhältnis ist der Verkauf das Mittel und die Qualität der Zweck: nur so wird der Allgemeinheit edit genützt. Dodi dieses natürliche Verhältnis wird durch eines umgekehrt — durch die Maschine! Nehmen wir an, es gäbe eine Maschine, die die besten Rasiermesser herstellt, hunderttausende pro Tag. Dann wird der Bedarf an Rasiermessern bald gedeckt sein, und die Maschine hätte sich selbst totgearbeitet, weil sie ja bei ihren Anschaffungskosten in Motion bleiben muß, um sich. bezahlt zu machen. Will die Maschine weiterleben, so darf sie nicht hochwertige Gegenstände „fürs ganze Leben“ herstellen, sondern nur möglichst abnutzbare: das Bleibende soll jetzt nicht der Gegenstand sein, sondern dessen ständiger Ankauf. So wendet sich das Mittel gegen den Z.weck: Fortdauer des A n- k auf es gegen Fortdauer des Gegenstandes, Rasierlamelle gegen Rasiermesser. So schafft die Maschine aus dem Eigentumsverhältnis das Abpnnementsverhältnis — erstens bei den Verbrauchern, zweitens bei den Erzeugern: denn aus Messerschmieden werden Maschinenarbeiter, also Menschen, die auf Arbeit und Lohn abonniert sind.

Nun aber kam wieder eine Rasierrevolution: der elektrische Trockenrasierer. Jetzt ist der Verbraucher nur noch auf Strom abonniert. Vielleicht läuft die Entwicklung auf eine neuartige Eigentümerschaft hinaus. Die drei Phasen sind: völlige Selbständigkeit völlige Abhängigkeit — relative Selbständigkeit. Also Rasiermesser — Rasierlamelle Trockenrasierer; oder Pferdefuhrwerk — Eisenbahn — Auto; oder Stahlfeuerzeug — Streichholz — Benzinfeuerzeug; oder selbstgeschnittene Gänsefeder, Stahlfeder, Füllhalter; oder Handwerkstatt, Fabrik najt Dampfbetrieb, Elektro-Kleinwerkstatt. Map sagt allerdings, daß Großbetriebe leistungsfähiger seien. Vielleicht; aber sie vernichten Freiheit, und also Freude. Die aber, dieses Happy End, ist der Endzweck aller menschlichen Dinge.

Mir jedenfalls macht das Rasieren Freude, denn ich kann es. Wer nach zehnjährigem Bartkampf nicht Meister in dem Fach geworden ist, der verhülle sein Antlitz mit Haaren, denn er ist ungeschickt. So verdanken wir dem Barte das Streben nach Vollkommenheit in seiner Vernichtung, und das ist auch etwas. Jedenfalls wird sich die Sitte der Bartlosig- keit weiter behaupten — solang es nämlich vorteilhafter ist, Rasierklingen und -cremes zu produzieren als Bartwuchspomade, und es i s t vorteilhafter. Ein Bart ist da und kostet nichts. Damit dürfte sein Schicksal besiegelt sein.

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