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Vor der Dachgleiche

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Mit diesem vorletzten Band nähert sich das große Werk seinem Abschluß. Es ist seinem hohen Niveau treu geblieben, und es wird auf lange hinaus der Berater nicht nur für fachunkundige Gebildete bleiben, die übersichtliche und zuverlässige Informationen über eines der hier von kompetenten Bearbeitern dargestellten Themen suchen, sondern auch für Zünftige der einschlägigen Wissensgebiete. Das gilt besonders in bezug auf einige Artikel, die durch ihren Gedankenreichtum Anregung und tiefe Einsichten bescheren. So etwa Oskar Köhlers Darstellung der Tradition und desselben Autors „Sitte und Brauch“, Joseph H. Kaisers „Staatslehre“, auf 18 Spalten zusammengedrängt die geistig bewältigte und überwältigende Quintessenz einer dem Lexikon wesenhaften Aufgabe. Weithin macht sich in erfreulicher Weise geltend, daß die meisten Schlagwörter bedeutenden Gelehrten anvertraut worden sind, und nicht etwa, wie so oft, braven Wald- und Wiesenmitarbeitem eines ständigen Stabes. Im siebenten Band finden wir zum Beispiel, um nur ein paar Namen herauszuheben, als Verfasser: P. Gustav Gundlach SJ., den in letzter Zeit, ihm sicher unerwünscht, vielgenannten Professor Friedrich August von der Heydte, den eminenten Soziologen E. K. Francis, dessen vierzigspaltige Übersicht seiner Disziplin eines der Prunkstücke des Gesamtwerkes ist, den Volkswirtschaftler und Spezialisten des Sozialismus Gustav Stavenhagen, den frei einen ausgedehnten Horizont überblickenden P. Oswald v. Nell-Breuning SJ., der die gesellschaftlich-wirtschaftlichen Probleme ethisch durchdringt, doch ohne sich an Utopien zu verlieren, weder sich an Veraltetes klammernd noch vom Neuen um dessen Neuheit willen geblendet. Wiederum zur Sozialpolitik und zu deren Randproblemen äußert sich klug Joseph Höffner. Karl Peters und Thomas Würten-berger erproben ihre konzise Art, durchs Mittel der Sprache die Begriffe lebendig und aufnehmbar zu machen, am Strafrecht. Paul Jostock (Sozialprodukt und Volkseinkommen), Peter R. Hofstätter (Sozialpsychologie) sind in ihren an Einsichten und Tatsachen prallen Abrissen der ihnen überbundenen Materien kaum zu übertreffen.

In diesem Band1 überragen die allgemeinen Problemen, Sonderwissensbezirken gewidmeten Artikel nicht nur quantitativ die Länderschlagwörter und die Einzelbiographien. Dem Umfang nach sehr stattlich, mehr als 50 Spalten, bewahrt die Behandlung der Sowjetunion ein anständiges, ein gutes Durchschnittsmaß, doch es fehlt ihr jede Brillanz. Es darf offen ausgesprochen werden, daß man als Autoren die unvergleichlichen großen Sachkenner (und zugleich ausgezeichneten Schriftsteller) vermißt, die im deutschen Sprachraum vorhanden sind, voran Klaus Mehnert, Boris Meißner, Günther Stökl (der nur mit einem vorbildlichen Beitrag über Stalin vertreten ist). Es mangelt der Raum, um zu den einzelnen Abschnitten die mannigfachen Vorbehalte, Ergänzungen und Berichtigungen vorzubringen. In der Geschichtsdarstellung wird zum Beispiel nicht auf die kapitale Tatsache hingewiesen, daß es beim berüchtigten Bündnis vom August 1939 weder Stalin noch Hitler ernst zumute war und daß beide auf die Vernichtung ihres Partners abzielten. Die Behauptung, die Rote Armee sei im Mai 1945 völlig erschöpft und zu keiner weiteren Großaktion fähig gewesen, ist recht kühn.

Auch der Spanienartikel befriedigt nicht voll. Wiederum sind die meisten Angaben und die Gliederung zu begrüßen, doch da stört etwa der Verzicht auf Erörterung der sozialen Schichtung: des Gegensatzes von Magnaten und Kleinlandwirten, von Großindustrie und Arbeitermassen, nichts von der „politischen Geographie“ (rotes Katalonien, Andalusien, konservatives Innerspanien), nichts von den Nationalfragen (Basken, Katalanen). Die spanische Kolonialherrschaft wird viel zu optimistisch beurteilt. Man muß nicht in den heuchlerischen, goldgeränderten Entrüstungsfimmel der angelsächsischen Puritaner noch in die doktrinäre Empörung der Kommunisten verfallen, um die Sünden, die vergeudeten Gelegenheiten der Mißwirtschaft in Lateinamerika und auf den Philippinen zu beklagen. An der historischen Übersicht ist nicht minder allerlei zu beanstanden. So weckt ein Satz den falschen Eindruck, als sei auf Isabellens Sturz die kurzlebige Republik gefolgt, während sich dazwischen das brüchige Wahlkönigtum Amadeos von Savoyen (1870 bis 1873) einschob.

Vortrefflich sind die Artikel über Südostasien, Thailand, Uruguay und Venezuela. Der in vieler Hinsicht überragenden Darstellung der Türkei durch K. L. Prange wäre immerhin vorzuhalten, daß sie den sozialen Hintergrund der jüngsten Entwicklung zuwenig hervorhebt. Man hätfe auf die Strömungen im Offiziersausschuß hinweisen und auf die sonstigen „jungen“ Kräfte hindeuten sollen. Am Schlagwort Ungarn, das von mehreren Autoren ungleichwertig bearbeitet worden ist, stört von vornherein die liederliche Schreibweise (Korrektur?) der Eigennamen. Ob-zwar nichtmadjarische, tschechische Namen die richtigen diakritischen Zeichen bekamen, fehlen diese fast durchweg bei den Ungarn (außer bei Maleter), so bei Andrässy, Kädär. Recht gut und sachlich ist die Tschechoslowakei gewürdigt. Besonderen Ärger aber weckt der Ton, in dem die schandbare „Apartheid“ der Südafrikanischen Republik geschildert wird. Statt offen und mutig wie Episkopat und Klerus der katholischen Kirche, und nicht nur sie, das getan haben, die Verworfenheit und dazu die kurzsichtige Torheit dieses Phänomens zu beschreiben und zu verdammen, wird ihm ebensoviel Nachsicht wie Rücksicht geweiht. Schade, denn der Artikel ist sonst aufschlußreich und gehältig.

Von den Biographien erheischt zunächst die außerordentliche, wohlgeglückte des größten politischen Denkers des Mittelalters, des heiligen Thomas von Aquin, Bewunderung und Beifall. P. Franz-Martin Schmölz OP. hat da ein allseitiges und abgerundetes Bild eines genialen, die Zeiten überhöhenden Ingeniums und seines harmonisch in sich geschlossenen Werkes gegeben, das durch eine reiche und — ach, wäre derlei doch die Regel.' — nicht nur die deutsch geschriebenen Veröffentlichungen überblickende Biographie ergänzt wird. Als andere beispielhafte Darstellungen großer Staatsmänner und Gelehrten, ihrer Leistung und ihres Nachhalls, greifen wir heraus: Stökls vorerwähnten „Stalin“, Stavenhagens „Freiherrn v. Stein“, G. K. Kindermanns „Sun Yat-Sen“ (warum die anglisierte Schreibweise und nicht Sun Jat-Sen?), Trotzki (O. Anweiler; vergebens sind alle Bemühungen, wenigstens in so hochstehenden Werken wie dem „Staatslexikon“, die einzig richtige Transkription russischer Eigennamen zu erreichen, hier also „Trockij“). Es sind auch sonst gar manche sehr zu rühmende biographische Notizen vorhanden, die aber zumeist, wie schon gesagt, nicht den Glanz der allgemeinen Artikel ausstrahlen. So erscheinen unter anderen: Seipel, Sieye, Adam Smith, Georges Sorel, Spencer, Spengler, Stahl, Lorenz v. Stein, Stresemann, Don Sturzo, Ulrich Stutz, Tocqueville, Treitschke, Turgot.

• Jetzt aber zum leidigen Kapitel der „Vermißtenliste“. Unbegreiflich und unentschuldbar dünkt mich das Fehlen von Sokrates, Spinoza, Sully, Swift, Talleyrand und Lev Tolstoj. Wünschenswert wäre die Beachtung folgender in den Rahmen des „Staatslexikons“ gehörender bedeutender Menschen gewesen, die jeder ein langes, weithin wirkendes Vollbringen aufzuweisen haben: Andre Siegfried, Smuts, Soliman der Prächtige, Stanley, Stinnes, Themi-stokles, Thukydides, Timur Lenk, Tojo, Ulpian, Josef Unger.

Zum Schluß sei nachdrücklich betont, daß die Kritik an einigen Länderartikeln und schon gar die bei diesem Band sehr schmale Fehlliste der Biographien nicht das leiseste am anerkennenden, ja bestaunenden Urteil ändern, daß gerechterweise über die Gesamtheit des „Staatslexikons“ und auch über den vorliegenden Band zu fällen ist. Schon die Durchschnittsartikel erfüllen durchaus die Forderungen, die man an ein gediegenes Nachschlagewerk stellen darf und das, was die vielen Prunkstücke wortkünstlerisch begnadeter Sachkunde und Darstellungsmeisterschaft darüber hinaus gewähren, stempeln es zu einem stolzen Denkmal lexikalischen Gelingens.

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