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Vor der Entscheidung

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Ich' will nicht alle Namen aufzählen, die mir begegnet sind in diesen stillen Jahren. Sie kamen wie Fremde, die einen Garten ansehen, und gingen wie Fremde. Ich nahm sie auf, ich sah sie an, ich hörte ihnen zu. Sie sprachen kluge und wohl auch geistvolle Dinge, aber sie klopften nicht an mein Herz. Mein Herz war einsam, und sie hatten nicht vdr, sich zu diesem einsamen Herzen zu gesellen. Das Land war schon voller „Gemeinschaft“, und alle Einsamen lebten schon gefährdet. Sie wollten nicht in der Gefahr leben. Sie sahen ein bißchen nach mir, und dann gingen sie wieder. Aus dem dunkeln, versponnenen Park auf ihre hellen Straßen. Sie wußten, daß Unrecht und Leid geschah, aber im freundlichsten Falle meinten sie, daß sie es nicht ändern könnten. Und solange nicht ihnen selbst Unrecht und Leid geschah, war die Welt nicht so traurig, wie sie sich in meinen Augen spiegelte.

Doch begann es damals schon um die letzte Entscheidung zu gehen. Der 30. Juni 1934 war gewesen, schaudernd von uns miterlebt, nicht nur wegen der blutigen Gewalt, sondern auch wegen der schmählichen Feigheit, die wir ringsum erblickten, bei allen, die der Meinung waren, auch sie könnten bei Gelegenheit dieser „Reichsmordwoche“ still beseitigt werden.

Ein Jahr später wurde ich von den Münchener Studenten aufgefordert, in einer Reihe von Vorlesungen zu ihnen zu sprechen. Ich verschob die Entscheidung um ein paar Tage, und in diesen Tagen hatte ich in Wahrheit mein Leben zu entscheiden. Noch war ich nicht gefährdet, noch war ich nur „beobachtet“. Noch war der Weg mir frei, und ich wußte sehr wohl, daß es ein äußerlich glänzender Weg sein würde, wenn ich die immer noch ausgestreckte Hand ergreifen wollte. Man würde alles vergessen, wenn ich mich bereit erklärte, nun für das Dritte Reich zu „zaubern“, statt für die Erniedrigten und Beleidigten.

Es gab keinen Kampf für mich. Es gab nur die schwere Erkenntnis, wohin der Weg führen mußte, eine ganz klare, nüchterne und alles voraussehende Erkenntnis. Es ging mir nicht um mich. Mein eigenes Schicksal schien mir unwichtig. Aber es ging um das Schicksal derjenigen, die von mir getragen wurden, und niemand kann solche Entscheidungen leichtfertig treffen.

Es war ein frühes und schönes Frühjahr damals, und ich saß viele Stunden unter den alten Bäumen des Parkes und sah den ersten Schmetterlingen zu. Ich dachte viel an meinen Vater, aber schon während dieser Gedanken hatte ich tief in der Brust das Gefühl, daß dort im Innern schon alles entschieden war, daß ich nur so tat, als warte die Entscheidung noch, daß ich noch eine kurze Frist gewinnen wollte. Und während ich noch so zögerte, standen die ersten Sätze der Röde schon klar vor meinen Augen.

Auch meine Frau v/ußte, worum es ging, aber sie hinderte mich nicht. Im Sittlichen gab es wohl keine Zweifel für uns.

Ich erinnere mich deutlich des schönen Abends, an dem wir im Wagen durch das Land fuhren. Wiesen und Felder waren grün, und die Drosseln sangen im Walde. Es war ein schönes Land, und es war wohl auch ein schönes Leben. Trotz allem Dunkel.

Ich fühlte, wie voll Spannung die Atmosphäre war, nicht nur weil Himmler, wie es hieß, unter den Zuhörern war. Das Auditorium war überfüllt, und ich sah die mehr als tausend Gesichter wie bewegungslos mir zugewandt. Junge Gesichter die meisten, und als ich in sie herniederblickte, wußte ich auch, daß ich recht tat. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel mehr daran. Es gibt eine sittliche Gewißheit, die größer ist als alle anderen Gewißheiten der Welt.

Und es erregte mich auf eine seltsame Weise, wie die jungen Menschen, als ich die Universität verließ, einen undurchdringlichen Kreis um uns bildeten, einen Kreis von Hunderten, als ob sie mich schützen wollten vor dem sofortigen Zugriff der Macht. Und wie sie ihre Tücher schwenkten und „Hurra!“ riefen, ja schrien, als wir langsam durch die Menge auf die Ludwigstraße fuhren. Und ich fühlte mit einer tiefen Rührung, daß mir bei diesen so Gefährdeten und so Ratlosen das Letzte gelungen war, was uns im Sittlichen gelingen kann: daß ich ihre Herzen bewegt hatte.

Wir saßen noch eine Stunde in dem Studentenheim, dessen Leiter am 30. Juni

1934 ermordet worden war. Unter den Anwesenden war der ehemalige aktive Major, der mit seinem Amt einen Anteil an der Veranstaltung dieses Abends gehabt hatte. Und er bat mich, ihm das Manuskript für ein paar Tage zu überlassen, damit er Presseangriffen begegnen könne, wenn sie erfolgen sollten. Er versprach ausdrücklich, es nicht aus der Hand zu geben.

Ich erfuhr bald, daß er sein Versprechen gebrochen hatte, und auf meinen scharfen Brief erwiderte er wörtlich, daß er das Manuskript, wie versprochen, nicht aus der Hand gegeben habe, aber daß er „natürlich“ eine Abschrift „pflichtgemäß“ seiner vorgesetzten Behörde eingereicht habe.

Worauf ich ihm erwiderte, daß ich als ehemaliger Offizier bis in meine Stirn vor Scham erröten würde, wenn ich so etwas nicht nur getan, sondern „natürlich“ und „pflichtgemäß“ getan hätte.

Darauf erfolgte keine Antwort.

Während dieser Abendstunde wurde von der Rede nicht gesprochen. Die Feigheit der „Intelligenz“ war schon im dritten Jahr des Dritten Reiches so groß, daß man mit Grauen an die Zukunft denken mußte.

Am nächsten Tage- kam mein Verleger Pezold und beschwor mich händeringend, diese Rede nicht zu veröffentlichen, da sie im Ausland das Urteil über das „Wiedererstehende Deutschland“ verhängnisvoll beeinflussen würde. Ich erwiderte, daß ich Reden nicht hielte, um an Urteile zu denken, und ob er eine einzige Zeitung oder einen einzigen Verlag in Deutschland kenne, die diese Rede drucken würden.

Aber es bedurfte eines Verlages oder einer Zeitung nicht. Die Rede war stenographiert worden und ging, vervielfältigt, in Hunderten und Tausenden von Abschriften über die Grenzen in alle Welt. Eben, da ich an diesem Kapitel schreibe, lese ich in der „Saturday Review of Literature“ eine Besprechung der amerikanischen Ausgabe des „Totenwaldes“ und zu ihrem Beginn eine Erinnerung, wie der Kritiker im Frühjahr

1935 in Prag den Besuch eines Mannes aus Deutschland erhielt, und dieser Mann legte einen Laib Brot vor ihm auf den Tisch und bat um ein Messer, da er „eine besondere Krume aus dem Brot herausholen“ wollte. Es war ein Bündel mit winziger Schrift bedeckter Blätter, in Wachsleinwand gehüllt. Es war der Text meiner Rede.

Heute mag es leicht oder schön sein, solche Dinge zu lesen.

Damals wußte ich dies alles nicht. Aber vom erste Tage an wußte ich, daß ich, wie meine Fieynde sagen würden, verspielt hatte. Die Presse bekam ihre Befehle, die Geheime Staatspolizei, die Rßichsschrifttumskammer, die Zeitschriften, der Rundfunk. Alles, was ich in meinem Leben nur hätte berühren können, war unterrichtet und gewarnt. Ich hatte das Zeichen bekommen.

Eine immer wachsende Mauer der Einsamkeit umgab uns. Sie wuchs lautlos, aber wenn wir am Morgen erwachten, sahen wir, daß der freie Himmel wieder kleiner geworden war, daß ein Ausblick verdeckt, ein Weg versperrt war. Hinter der Mauer, in der Sicherheit, standen viele, die früher an unseren Herzen gestanden hatten, oder von denen wir es doch gemeint hatten. Aber diejenigen, von denen wir wenig gewußt hatten, und in den meisten Fällen gar nichts, kamen nun schweigend um unser Haus, nahmen ihren Platz ein und Warteten. Sie bildeten eine unsichtbare Mauer, die der Liebe, und ihnen war die Arbeit gewidmet, die ich damals schrieb: „Eine Mauer um uns baue!“

Wir gaben uns keiner Täuschung hin, Wir waren nicht in allen Dingen Toren dieser Welt. Wir wußten das Kommende nicht, aber wir zweifelten nicht daran, daß es einmal kommen würde. Wir wußten nun, was Tapferkeit heißt, und daß die wahre Tapferkeit nach der Tat zu beweisen ist und nicht vor ihr.

Wir erkannten auch, daß wir allein sein würden. Die Mauer, die um uns gebaut war, war die Mauer der Liebe, aber nicht eine der Tat. Und schon damals war es ja auch schwer, mit der Tat zu helfen. Es war fast unmöglich.

Das heitere Leben verging wie ein Traum. Die Gäste blieben aus, das Gras wuchs auf den Wegen. Noch einmal wurden die Tage ernst und gesammelt, wie es vor- einer Schlacht wird, vor einer schweren Krankheit, vor dem Tode.' Und mir schien, als sei es wieder das richtige Leben, das uns etwas zwischen den Händen zerronnen war, und das nun wieder gekommen war. Ich war seiner wieder wert geworden.

Ich war seiner nicht mehr sicher, so wie früher, aber ich war meiner sicher geworden. Ich ruhte im sittlichen Gesetz.

Und ich ruhte nicht nur, ich war auch ruhig.

(Aus den Erinnerungen Ernst Wiecherts „Jahre und Zeiten“, mit Bewilligung des Eugen-Rentsch-Verlags, Erlenbach-Zürich)

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