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Vor Italiens historischer Stunde

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Bologna, 10. April 1948

Der Bragozzo wälzt seinen breiten Bauch durch die Hafeneinfahrt von Bari; Bragozzo, das ist das wuchtige, breit auf den Wellen ruhende Fahrzeug des Adriafischers. Die Drachenaugen am stumpf gerundeten Bug scheinen nach dem Weg der Barke zu lugen und spiegeln sich aus den tanzenden Wellen fast drohend herauf wie die spähenden Augen der verkörperten Meerestiefe. Am Segel prangit bunt in Rot und Ocker die Madonna. Doch hat jede Familie ihr eigenes Zeichen, daß man schon von weitem am Molo die Zugehörigkeit des Fahrzeugs erkennt und den Besitzer mit einem dröhnenden „Oh6, Beppe, el ven’!“ begrüßt.

Am Molo steht mein Freund Caitano, der appuntato der Carabinieri. Man nennt sie hier noch „reali“, königlich, obwohl der letzte König der Italiener, Umberto, weit weg in Portugal das zurückgezogene Leben eines Landedelmannes führt. Ich will Caitano ein wenig über politische Neuigkeiten ausholen, obwohl er nicht gern aus sich herausgeht. Ob die Wahlen ruhig abgehen werden? „Jede Nacht holen wir den Bauern ein Lastauto voll Waffen aus den Heuschobern.“ Von wo die kommen? „Man sagt aus Fiume. Siehst du dort drüben den Pinienwald von Molfetta? Wir haben gestern 900.000 Schuß Karabinermunition von einem bragozzo heruntergeholt." Man spricht davon, daß auch Menschenschmuggel über die Adria laufen soll. Drüben soll so mancher politische Missetäter Zuflucht finden. Auch die Häupter des „Triängolo della Morte", der Bande, die oben in Emilia unter politischer Flagge mit Mord und Raub die ganze Landschaft unter Druck hielt. „Wir können nie alle Waffen finden“, sagt Caitano, „aber wir wollen wenigstens durchsetzen, daß die Maschinenpistolen nicht in die Osteria mitgenommen oder unverschämt am Licht der Sonne entfettet werden.“

Forli, das stark umkämpfte, halb zerstörte and doch wieder zu vollem Leben erwachte Städtchen. Die Bewohner sagen noch „das Rathaus“, „die Kaserne“ und meinen damit die halbaufgeräumten Schutthaufen an der Piazza. Ich spreche mit dem Wahlkandidaten Camprini von der republikanischen Partei: „Schau“, sagt er, „Piacenza, Bologna, Firenze, Siena, lauter Kommunisten. 4 Kanonen und 500 Maschinengewehre wurden schon beschlagnahmt, und doch sollen die Partisanen nachts Truppenübungen in voller Kriegsbemalung abhalten.“ Camprini hat nicht ganz recht. Es gibt auch einige rechtsorientierte Inseln in diesem roten Meer der Emiglia und Toskana, die Saragat-Sozialisten von Molinella, die Republikaner von Godo. Dann darf man die Christlichen Demokraten nicht vergessen, die schlimmstenfalls selbst hier, in dieser roten Zwingburg, ein Drittel der Stimmen heimtragen werden. Es geschehen auch Zeichen und Wunder: die Dockarbeiter von La' Spezia erzwingen das Abhalten einer antikommunistischen Wahlversammlung gegen die kommunistische Opposition, obwohl doch sonst die Dockarbeiter am ehesten zu radikalen Ideen neigen. Weite Kreise alter Sozialisten, obwohl sie noch formell der Partei angehören, nehmen es auch Nenni sehr übel — der eben aus dieser Gegend stammt —, daß er das Schifflein der italienischen SP. so vorbehaltlos an den Schleppkahn des Partito Communista angehängt har and unter gemeinsamen Wahlparolen in e i n e m Wahlblock, der „Front“, mitsegelt. Denn die Kommunisten betrachten die linksradikale „Front“ als ihre ureigenste Privatsache, an der die Nenni-Frak- tion mehr oder minder ein Appendixdasein führt.

Palmiro Togliatti, so erzählt man sich, stand vor leeren Bankreihen, als er irgendwo im Süden eine Wahlversammlung abhalten wollte. Der Süden ist so recht die Sphinx dieser Wahl. Die Kommunisten pochen fest auf die Vernachlässigung, die der Süden seitens aller bisherigen Regierungen erfahren hat, die nicht imstande waren, seine Rückständigkeit in zivilisatorischer Hinsicht zu beheben. Jede Regierung seit 1870 hat noch bei jeder Wahl dem Süden das Blaue vom Himmel versprochen, und keiner ist es noch gelungen, ihn aus seiner jahrhundertealten Rückständigkeit herauszuheben, auch nicht der faschistischen Regierung. Auch diesmal fehlen nicht die Versprechen von allen Seiten: ein großzügiges Ragierungsbauprogramm, das, diesmal offenbar ernstlich, in zwölf J: iren das Fehlende nadiholen will, selbst ein amerikanisches

Kreditprojekt, das helfend und im wahltaktisch richtigen Moment eingreifen ęill. Die Kommunisten spötteln, daß sich auf einmal die Weststaaten, nach dem scharfen Sühnekurs von 1945, beeilen, Italfen zu rehabilitieren: Rückgabe der Kolonien,

Rückgabe von Briga und Tenda, Rückgabe von Triest, Revision des Friedensvertrages, Kredite und vieles andere mehr.

Es wimmelt von Parteien, und als ob nicht die traditionellen, alten „pariti“ genug wären — und es war wahrhaftig schon eine für jeden Geschmack da —, bildeten sich noch Zweigparteien; neben den Kommunisten die „Arbeitsdemokraten“, neben der großen Democrazia Cristiana die „Christlichsozialen", dann die zweite sozialistische Partei, neben den alten Liberalen, der Partei des großen Philosophen Benedetto Croce, entstand der Qualunquismus, gebildet aus alten Liberalen, denen ihre Partei nicht liberal genug war, neben den Republikanern entstanden die Mazzinianer — nach dem großen Staatsmann Mazzini — und als Trumpf noch die Partei der unerschütterlichen Monarchisten des Marquis Lucifero. Italien leidet an der Multiplizität seiner Parteien, die eine unglaubliche Zersplitterung der

Stimmen zur Folge hat. Erstaunt steht der „man oft the Street“ vor den Plakatwänden mit der unübersehbaren Menge von Wahl- plakaten. Um die Wahlplakate aller Parteien lesen zu können, müßte er sich Urlaub nehmen.

Eine Partei, die bei den vorhergehenden Wahlen viel zu sagen hatte, die Partei des Uomo Qualunque, U. Q., dürfte diesmal eindeutig versagen. Im Jahre 1945 wurde sie unter heftigsten Angriffen der Linken konstituiert. Der U. Q. ging aus dem politischsatirischen Blatt des liberalen Lustspieldichters Giannirii hervor. Dieser griff mit dem mutigem Elan die vielfach unglaublich großen Mißstände der unmittelbaren Nachkriegszeit an, und viele -rechtschaffene Leute betrachteten diese schneidige Zeitung damals einfach als eine Notwendigkeit. Der Schwung dieser Anfangserfolge baute dann die gleichnamige Partei, U. Q„ auf. Es war eine Zeit, reich an fürchterlichen Verbrechen, mit denen erst später die ausgezeichneten, motorisierten und radiokommandierten Mailänder Polizeikommandos aufräumten. Damals war die Gründung des U. Q. bestimmt eine Tat.

Diese Voraussetzungen sind inzwischen zu einem großen Teil weggefallen. Das poli tische Leben Italiens steuert einer immer weitergehenden Legalität zu und die Exekutive zeigt, daß sie die Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung besitzt und an- zuwenden entschlossen ist.

Die Wahlpropaganda wird in wahrhaft amerikanischem Maßstab betrieben, Flugzeuge, ganze Flotten von Lautsprecherwagen, Ströme von Benzin fließen. Auf der Piazza hängen haushohe Plakate mit dem Kreuzschild der Democrazia Cristiana, mit den Emblemen der „Front“, die sich offenbar bemüht, die Bourgeois nicht zu sehr mit Sichel und Hammer zu erschrecken und sie vielmehr mit bürgerlich soliden Phrasen zu bezirzen sucht. Togliatti verspricht direkte Verhandlungen mit Jugoslawien über Triest, bietet Amerika Garantien an, damit auch bei einem Sieg der „Front“ die Hilfen nicht eingestellt werden. Der alte Senator Taft hat aber bereits zu verstehen gegeben: „Kommunisten in Schlüsselmini sterien — Amerikahilfe aus!“ Ein gewisser amerikanischer Zug liegt den Italienern im Blut oder, besser gesagt, den Leuten jenseits des Atlantik fließt viel lateinisches Blut in den Adern. Der unermüdliche, spürnasige, zähe, scharf beredinende business-Geist, die Unternehmungslust, der Drang zur Vervollkommnung, zur hervorstechenden Leistung ist ebenso typisch italienisch wie US-amerikanisch.

Die Piazza, der Hauptplatz, ist des Italieners Versammlungs- und Debattierlokal, seine Börse. Zweimal in der Woche wogt sic von Menschen, daß man kein Fahrrad durchschieben kann. Sonst werden dort Geschäfte gemacht. Diesmal geht es aber schon seit Wochen um Politik. Pro und contra ist ziemlich ausgeglichen. Selbst unter den Kapitalisten, Intellektuellen, Künstlern sind Kommunisten. Teils aus politischem Snobbis- mus heraus, teils in der vorsichtigen Erwägung, sich für alle Eventualitäten eine Rückendeckung zu schaffen. Man will wissen, daß in Mailand auch ausländische Emissäre Gold und Dollars aufkaufen — man hat schon ähnliches aus Berlin gehört. Jedenfalls schnellen die Preise wieder in die Höhe. Der Italiener denkt immer praktisch. Er rechnet mit allem, auch mit einer Regierung, die ihm die Brieftasche abknöpfen könnte. Daher deckt er sich mit transportablem Kapital ein und mobilisiert seine Auslandsbeziehungen. Die Folge ist eine Stagnation des Geschäftslebens, der Unternehmer will kein Geld aus der Hand geben, sondern wartet ab.

Uber die Front des großen Mailänder Häuserblocks laufen allabendlich Reklameschriften in Leuchtbuchstaben, immer wechselnd. Eines Abends kam eine Neofaschistengruppe auf die heitere Idee, einige kernige Worte des längstvergessenen Duce dort einzustellen, die dann zum Staunen der abendbummelnden Mailänder ununterbrochen über das Leuchtband liefen, bis endlich die Knechte der heiligen Hermandad herbeieilten und den Unfug abstelltew.

Mein Freund, der Doktor Agosta, schreibt mir aus Alessandria: „Wir sind zum Stillstand gekommen. Niemand denkt hier mehr daran, mit gutem Willen zu arbeiten. Alles wartet auf die Wahl, wie wenn diese schon an sich ein Allheilmittel wäre, und in der geheimen Hoffnung, ,dann‘ Dümmere für sich arbeiten zu lassen. Keiner kommt auf die Idee, daß wir Weiterarbeiten müssen, wenn wir leben wollen, ob die Wahlen nun weiß, rot oder schwarz ausgehen. Und die Schulden müssen wir zahlen, die uns diese Niederlage auf die Schultern geworfen hat. Uns, die wir arbeiten, macht die Arbeit Mühe: der Horizont, der Ruhe versprechen könnte, !:“gt weit weg und unter schweren Wetterwolken. Noch wissen wir nicht, woher der Wind, der diese Wolken ausein- andertreiben soll, kommen wird."

Italien tritt in einem politischen Circulus vitiosus auf der Stelle. Die Spannung lähmt das ganze Leben. Der Hausverstand des bescheidenen Italieners wird die Lage meistern. Bis dahin wehrt er die andrängenden Sorgen mit seinem Lieblingswort ab: „Pazienza!“ — Geduld, dieser 18. April wird schon recht ausgehen!

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