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Vorhang auf!

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Man weiß aus der Theatergeschichte, daß Bühnenerlebnisse auf die Weltpolitik Einfluß haben können. Beaumarchais' „Hochzeit des Figaro“ bereitete den Boden für die Französische Revolution; der Revolutionsakt von Aubers „Stummen von Portici“ löste bei der Brüsseler Erstaufführung 1830 die Befreiung Belgiens von den Niederlanden aus; der Gefangenenchor aus Verdis „Nabuccodonoser“ wurde zum Hymnus der oberitalienischen Verschworenen Es wird einer Zeit mit einem größeren Abstand von den Vorgängen als der heutigen überlassen sein, festzustellen, inwieweit auch das Theater der UdSSR zum Anlauf der Kritik am Terror des Stalin-Regimes beigetragen hat, deren biherigen Höhepunkt Chruschtschews Stalin-Verdammung darstellt.

Vom Westen wenig beachtet, haben zwei Bühnenwerke in der Sowjetunion schon im vergangenen Jahr dem Theaterpublikum und den Lesern der Zeitschrift „Nowyj Mir“, in der moderne interessante Bühnenwerke gedruckt erscheinen, Mut gemacht, gegen den Terror der (angeblich vergangenen) Epoche den Mund aufzutun. Da gab es vor allem Kornejtschuks, des Ukrainers, Schauspiel „Die Flügel“. In diesem ward die Frage der Lagergefangenen und Deportierten des NKWD-Regimes aufgegriffen. Warum wurden tausende, hunderttausende Ukrainer nach der Befreiung von deutscher Besetzung ohne jedes Gerichtsverfahren festgenommen und deportiert? Warum ebenso alle sowjetischen Soldaten, die nach dem Krieg aus deutscher Gefangenschaft heimgekehrt waren? In den „Flügeln“ schildert Kornejtschuk die Wiederbegegnung eines Mannes mit seiner Frau, die er verlassen hatte, weil ihm, vom Kriegsdienst zurückgekehrt, mitgeteilt worden war, sie habe mit den Deutschen zusammengearbeitet. Romodan, so heißt der Mann, kommt nun als Parteisekretär in den Ort, wo seine Frau als Aerztin arbeitet. Romodan: Warum hast cfn nicht auf meine Briefe geantwortet? Das Geld nicht angenommen? Ich bin doch Lidas Vater.

Anna: Anfangs konnte ich dir nicht antworten, denn ich saß sechs Monate im Gefängnis. Das weißt du ja. Dann wurde ich freigelassen — die Leute haben mir geholfen. Es hat keinen Sinn, heute davon zu sprechen, was vergangen ist, oder sich darüber aufzuregen. Jetzt ist das alles vorüber. Die Wahrheit hat gesiegt. Sogar der, welcher mir gedroht hat, mich ins Konzentrationslager zu bringen, der Gebietschef des MWD, sitzt jetzt im Gefängnis. Man hat ihn nach der Verhaftung Berias gleich am nächsten Tag im Flugzeug nach Moskau gebracht.

Man muß sich den Elektroschock vorzustellen versuchen, den ein unter der Sowjetdiktatur lebendes Publikum erfährt, wenn es solche Worte wie die dieses kurzen Bühnendialogs anhört! Zum erstenmal wird frei gesagt, daß man aus dem Gefängnis, in dem man ohne Prozeß und vollkommen schuldlos sitzt, nicht schreiben darf; daß die „Wahrheit“ in jener — „vergangenen“ — Zeit nicht siegen konnte; daß es in der UdSSR — Konzentrationslager gibt! Im weiteren Ablauf des Dialogs wird die ganze Atmosphäre der Denunziation und Furcht vor dem Hörer ausgebreitet.

Ein zweites Stück auf den russischen Bühnen, das den Zuschauern geschickt die Augen über die Vernichtung aller Menschenwürde durch die Justiz ihres „großen Vaterlandes der Arbeiter und Bauern“ öffnete, ist Nikolaj Pogodins „Wir fuhren zu dritt ins Neuland“. Neuland — das sind die weiten Gebiete Sibiriens, die entsprechend der Werbetrommel des Kremls von jungen Idealisten urbar und zu neuen Paradiesen gemacht werden sollen. Pogodin zeigt in diesem Stück vor allem, daß diejenigen, die sich zur Fahrt ins Neuland melden, keineswegs nur junge Helden sind, sondern verkrachte Existenzen, halbe Abenteurer, ja auch Kriminelle, die sich dem Zugriff der Justiz entziehen wollen: er zeigt aber auch in der Begegnung dieser jungen Freiwilligen mit Sibiriendeportierten die Lüge der offiziellen sowjetischen These auf daß die Verbannten dort zu neuen, glücklichen Sowjetmenschen umgeschaffen werden:

' Der Fremde: Wie? Ist das möglich? Ihr kommt freiwillig nach Sibirien?

Rakitkin: Und wozu bist du hierhergekommen, Bürger? Was bist du für einer?

Fremder: Du bist wohl ein Komsomolze? Ich rate dir, tu keinem Unrecht, dem Unrecht geschehen istt Vielleicht lebe ich hier, weil ich schuldig bin — vielleicht auch als unschuldig Schuldiger....

Rakitkin: Warum bist du dann so grob?

Fremder: Das Klima prägt den Charakter. Und wenn der Mensch gezwungen ist, ewig in diesem Klima zu leben, dann bleibt von der Sanftheit nichts übrig ...

Pogodins Stück ist übrigens in der Jännerausgabe der kommunistischen theoretischen Zeitschrift „Partjjnaja Zhisnj“ („Das Leben der Partei“) indiziert worden — und auch die Redaktion der Zeitschrift „Nowyj Mir“ wurde schwer angegriffen, die es abgedruckt hat, ferner das Zentrale Kindertheater und die Moskauer Television-Zentrale, die es aufgeführt haben. Die Stalin-Treuen in der Literaturkritik, die sich mit Theorien tarnen können, müssen natürlich nicht so schlagartig abdanken wie die in der Politik. Aber jedenfalls sind die Vorgänge im russischen Theater als Spiegel oder Vorhut des politischen Auf und Ab mit dem ewig gleichen Endziel der Welteroberung durch den atheistischen Kommunismus bezeichnend — und man kann, will man vom Westen aus genau beobachten, die Echos der dramatischen Literatur nicht überhören.

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