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Vorspiel in Österreich

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In den Straßen der Stadt huschen über die Plakatwände die ersten Reflexe der begonnenen Wahlbewegung. Mächtige Vierkanter recken sich haushoch, Aufmerksamkeit heischend, Türme, an Mailänder Werbetechnik erinnernd. Sie verkünden Tag und Nacht ihre Wahlparolen an den Knotenpunkten großstädtischen Verkehrs. In Wahlaufrufen flattern die Programme der großen Parteien durch das Land. Was sonst an Zeitungsstimmen und Wahlversammlungsreden aus dem bunten Gemisch nach Geltung ringender Kräfte, wirklicher oder imaginärer, laut wird, kann bisher auffallen durch die Anspruchslosigkeit des Aufgebotes an neuen Ideen und positiver Kritik.

Mit gelassener Interessiertheit beobachtet das“ Publikum auf der Straße und in den Wochenschauen der Lichtspielbühnen den Aufgang der Wahlvorbereitungen. Eine seltsame Wartestellung spricht aus ihnen, eine bewußte Vcrhaltcr.heit, die auf das Korn mende gerichtet ist. Hat eine politische Periode in unserem Lande ihren Abschluß erreicht, bereitet sich in den fünf Wochen, die uns noch vom Wahltag trennen, der Antritt eines neuen Systems in der Führung unserer Demokratie vor? Es ist wahr, fast acht Jahre standen im Zeichen einer Koalition der zwei großen Parteien. Man zeige uns ringsherum in Europa ein Regime, das so lange dem Wechsel von Erfolg und Einbuße standhielt, ja, standhielt in einem Zeitablauf, der aus den Trümmerfeldern eines furchtbaren Krieges, bis heute durch die Zwischenfälle einer widerspruchsreichen Be-satzungsherrschaft, durch die willkürliche und erbarmungslose Ent|üterung und Entrechtung des um seinen Wiederaufbau bemühten kleinen wehrlosen Landes, durch fremde Gewalt führten, ohne daß seine Führer an ihrer Aufgabe verzagten. Man muß, um der Gegenwart gerecht zu werden, in der österreichischen Geschichte fast drei Vierteljahrhunderte zurückgehen, um erst in der alten Monarchie in der Regierung Taaffc einem Regierungssystem zu begegnen, das den Titel ähnlicher Dauerhaftigkeit beanspruchen kann, wie dasjenige der Zweiten Republik. Es endet auch nicht in einer Krise, sondern in einem ruhigen Uebergang.

Wohin wird der Kurs gehen? In dem Wahlaufruf der Volkspartei ist unter zwölf Sammeltiteln in elfen den wirtschaftlichen und sozialökonomischen Zielsetzungen eine maßgebliche Stellung gesichert. Ausgezeichnet. Gerne hört man in diesem Plane von einer strengen Obhut über die wirtschaftlichen Dinge. Von einer Wirtschaftpolitik zur Abwehr der Verproletarisierung des Mittelstandes und der geistigen Arbeiter und der Ent-politisierung der Wirtschaft, Postulaten, die auf größere Sparsamkeit — nicht nur in den Sozialversicherungsinstituten — und auf das Aufhören des Parteienproporzes in der Besetzung wichtigster Verwaltungsämter ausgedehnt zu werden verdienen.

Aber auch das beste Wirtschaftsprogramm kann nicht das Bekenntnis einer Volkspartei «schöpfen, die' mit dem ersten Worte ihres Wahlaufrufes sich zu dem „tiefsten Verantwortungsbewußtsein für die Erhaltung der christlich-abendländischen Kultur unseres Landes“ verpflichtet, einer schon zu oft miß-

brauchten Wendung, die Wahrheit und Lebenswärme erst durch diejenigen gewinnen muß, die es mit ihrem Christentum ernst nehmen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und noch so wohl gezimmerte Zweckverbände halten, wenn mit wachsenden Aufgaben und Ansprüchen auch ihre inneren Konflikte sich einstellen, nur durch, wenn weltanschauliche Bindungen die materiellen überhöhen. Selbst die materialistische Doktrin des inkarnierten Marxismus hat in dem unbestrittenen Herrschaftsbereich ihrer irdischen Macht der idealistischen Sublimierung nicht entbehren können, um ihre Anhängerschaft zur Opferbereitschaft ' zu erziehen und einen neuen, aus europäischen Verbindungen gerissenen Nationalismus hochzuzüchten. Partei aus großer Schau ist eben nicht ein frei zugänglicher Tummelplatz, sondern Gemeinschaft, deren Geist und Wille im letzten durch die Weltanschauung bestimmt ist.

Die Wahlwerbang der großen and kleinen Parteien vor Augen, ermißt deshalb so mancher Wähler das Dargebotene in Zusammenhalt mit der feierlichen Manifestation christlichen Volkswillens durch die Zweihunderttausend aus ganz Oesterreich, die am 14. September auf dem Heldenplatz die zehn „Gebote der Stunde“ aufstellten, ihren Aufruf für die Freiheit und Würde des Menschen und zur Verantwortung aller und jedes einzelnen an das Gemeinwohl. Zu dem nie verzichtbaren Grundsätzlichen, das diese vielleicht bedeutungsvollste Volkskundgebung seit dem Bestand der Republik allen Parteien vollkommen leidenschaftslos und unparteiisch zu freiem Entscheid gestellt hat, bekennt sich die Volkspartei mit ihrer Forderung nach dem „Recht der Brautleute, ihre Trauung zivil oder kirchlich vornehmen zu lassen“, und nach dem „Recht der Eltern, ihre Kinder ohne zusätzliche Belastung in Schulen zu schicken, die ihrer Weltanschauung entsprechen“. Sollte es wirklich das Abbrechen aller Brücken zur Verständigung bedeuten, wenn angesichts von Sachen der Gewissensfreiheit das sozialistische Hauptorgan in der freien Wahl des Trauungsaktes „die Kulturkampffrage“ aufgeworfen sieht? Es ist keine gute Politik, noch bevor man sich zu Tisch gesetzt hat, alles Porzellan zu zerschlagen. — Es ist kaum zu glauben, daß alle Gefolgsleute des österreichischen Sozialismus den Kulturkampftrompetern auf ihr privates Schlachtfeld, ein verwahrlostes Stück Land aus Olims Zeiten, zu folgen gewillt sind.

Mit seinem Verlangen nach „Einführung der Familienausgleichskassen“ und nach „größten Anstrengungen im Wohnungsbau“ kommt der Volksparteiaufruf an den Fundamentalsatz heran, mit dem die Manifestanten des Heldenplatzes im Namen vieler Hunderttausender christlicher Oesterreicher die Gesetzgeber ansprachen: „Die Familien sind die Zukunft des Staates. Ein Staat, in dem die Familie nicht gedeihen kann, geht daran zugrunde. Wir Katholiken fordern raschere und wirksamere Förderung, der Familie, die Ausweitung der Kinderbeihilfen, die Gründung der Familienausgleichskassen. Helft vor allem Wohnungen bauen. Weg mit den Baracken! Helft den Familien zum eigenen Heim!“ In diesem Lande, dem zu seinem größten Unglück mit dem beispiellosen Tiefstand seiner Geburtsrate das Blut aus verletzten Adern wegsickert und die Ehezerstörung die Familie auszurotten begonnen hat, kann dem Gesetzgeber nicht eindringlich genug das zum erschütternden Warnungsruf gewordene Gebot der Stunde ans Herz gelegt werden. Freilich, nicht durch seine Gesetze, nicht in seinen Gerichtssälen und Strafhäusern kann das Uebel überwunden werden, sondern durch das Ethos, die sittliche Würde des Volkserwählten, der nicht nur zum Buchstabenwerk der 'Paragraphen, sondern in echter Erfassung seiner Aufgabe in die vorderste Reihe der Volkserzieher sich berufen fühlen sollte. Bei solcher Betrachtung der Auslese, die von der Volkspartei Wiens für ihre künftigen Abgeordneten zum Nationalrat getroffen wurde, ist die Sorgfalt festzustellen, mit der die Wahlvorschläge erstellt wurden. Ein eindrucksvolles Aufgebot an unverbrauchter junger Kraft und Vertretern aus allen Ständen. Einem erfreulichen Akt zur inneren Reform im Sinne der von der „Furche“ befürworteten sichtbaren Verankerung der Arbeiterinteressen entspricht die Aufstellung zweier Listenführer, des Landesobmannes des Arbeiter- und Angestelltenbundes und einer Textilarbeiterin.

Es geht ein frischer Wind in Wien. Man darf sich über manches freuen.

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