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Vorspiel zum 20. Jahrhundert

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ln Kürze erscheint int „Herold“-Verlag das Buch „Dr. Karl Lueger. Der Mann zwischen den Zeiten.“ Sein Autor, unser Redaktionsmitglied, bemüht sich, darin die Person des großen Volksführers und Bürgermeisters von Wien zum ersten Male frei von zeitgebundenen Sentiments und Ressentiments darzustellen. Dr. Skalniks Buch will gleichzeitig einen Beitrag zur Geschichte der politischen Parteien in Oesterreich geben. Wir bringen im Auszug den Vorabdruck eines Kapitels, das sich gerade mit der Entstehung des heute oft schon „historisch“ genannten Parteiensystems Oesterreichs befaßt Die „Furche“

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ln Kürze erscheint int „Herold“-Verlag das Buch „Dr. Karl Lueger. Der Mann zwischen den Zeiten.“ Sein Autor, unser Redaktionsmitglied, bemüht sich, darin die Person des großen Volksführers und Bürgermeisters von Wien zum ersten Male frei von zeitgebundenen Sentiments und Ressentiments darzustellen. Dr. Skalniks Buch will gleichzeitig einen Beitrag zur Geschichte der politischen Parteien in Oesterreich geben. Wir bringen im Auszug den Vorabdruck eines Kapitels, das sich gerade mit der Entstehung des heute oft schon „historisch“ genannten Parteiensystems Oesterreichs befaßt Die „Furche“

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Die Zeichen der Unruhe mehren sich. Nicht nur in den Wiener Vorstädten, wo auf engem Raum großer wirtschaftlicher Druck eine erhöhte Explosionsgefahr erzeugt, an allen Orten und in jeder politischen Gruppe wächst die Spannung. Die Ideen des Nationalismus haben auf ihrem Siegeszug auch Oesterreich erreicht und entwik- keln hier, im Vielvölkerstaat, eine besondere Dynamik. Das alte Parteiensystem des Gegensatzes „liberal-konservativ“ wird ausgehöhlt. Schon trennt sich von den großösterreichischen Altliberalen (Herbst: „Die Deutschen gravitieren nach Wien“) eine national-liberale Fraktion, und die Jungtschechen beginnen auf der anderen Seite den im Geiste Palackys und Riegers wirkenden Alttschechen den Rang abzulaufen. In allen Lagern melden sich Männer einer „schärferen Tonart“. Mit den sozialen Fragen, die gebieterisch nach Antwort verlangen, wird das Kurienparlament erst recht nicht fertig.

Oesterreich ist nicht England. Dem klassischen Parteiensystem des Mutterlandes der Demokratie „konservativ-liberal“ (erst sehr spät besetzt die Labour Party, die Plätze der Partei Gladstones) w;ar in Mitteleuropa ein nur kurzes Leben be- schieden. Wir stehen an der Wiege jener Kräfte ‘•ijld Ideen, die bis jn unsere Gegenwart herauf wirken werden. Das an sich schon fesselnde Schauspiel ihres Wachsens und Werdens verdient unsere erhöhte Aufmerksamkeit. Wissen wir doch, daß Lueger in dem Reifeprozeß der neuen Kräfte eine nicht unbedeutende Rolle spielt, ja — es ist . nicht zu viel gesagt — eine zentrale Stellung einnimmt. Ein Blick auf die Szene ist daher geboten.

Als erste Vorboten kommender dramatischer Entwicklungen kann man wohl jene 10.000 Arbeiter betrachten, die schon am 13. Dezember 1869 vor dem Schottentor erscheinen und auf diese eindrucksvolle, bisher noch nicht dagewesene Art für das allgemeine Wahlrecht demonstrieren. Die historische Stunde des vierten Standes ist aber noch nicht gekommen. Zunächst formieren sich nur zögernd jene Mittelschichten, die oft mit einem geringschätzigen Unterton „Kleinbürgertum“ genannt werden. Gewiß, dieses kleine Bürgertum, das sich durch Fleiß und Tüchtigkeit auszeichnet, das dem Staat viele Beamte und Lehrer,, später auch schon Offiziere stellt, zeigt in seinen Vertretern nicht immer nur ansprechende Charakterzüge. Von einer gewissen Enge des Blickfeldes sich freizumachen, ist nur starken Naturen möglich, und auch Zivilcourage ist nicht gerade eine hervorstechende Tugend dieses Standes.

Die Geschichte ist mitunter Widersprüchen nicht abgeneigt. So wollte sie es auch, daß aus dem Kreis jener „jungen Intelligenz“, die als Führer und Wegweiser des Mittelstandes wie der Arbeiterschaft die Fundamente zu dem österreichischen Parteiensystem legt, uns als erster jener Mann entgegentritt, der später zum Symbol der Verneinung alles Oesterreichischen werden sollte: Georg Ritter von Schönerer.

Als liberaler Kandidat des Waldviertier Wahlkreises Zwettl-Waidhofen war er schon 1873, ‘Iso bereits zwei Jahre bevor Lueger in Wien seu- ersten Gehversuche in der kleinen Politik der La„)str3ße unternahm, in die große Politik des Reichi,3tes eingezogen. Doch seine ungestüme Natur tzte sich bald selbst über die in jenen Jahren noJ sehr kavaliersmäßig gehand- habte klubdis2vplu, hinweg. Er geht seinen eigenen Weg. Zw r finden wir auch bei dem jungen Schönerer scbon alldeutsche und antisemitische Gedankengät je allein an erster Stelle seines politischen Konzept stehen damals hauptsächlich noch wirtschaftlich? Fragen Sein nationalistisches Vokabular, mag auch mitunter überlaute Worte enthalten, weicht nicht sehr ab von dem Sprachschatz seiner Zeit. Auch seinem Antisemitismus fehlen noch jene pathologischen

Züge, die ihn in späteren Jahren kennzeichnen werden. Sonst hätten wohl kaum..von deutschnationalen Ideen stark angesprochene Juden, wie der junge Dr. med. Viktor Adler und der Musiker Gustav Mahler zunächst zu seinen politischen Freunden gezählt. Viktor Adler gehört auch zu jenen Männern, mit denen Schönerer an die Stilisierung eines großen politischen Konzeptes geht, das als „Linzer Programm" veröffentlicht wird und durch den im gleichen Jahr gegründeten „Deutschnationalen Verein“ verwirklicht werden soll. Das Organ des Vereines, die „Deutschen Worte", redigiert ein Mann namens Engelbert Pernerstorfer.

Dem Bund ist kein langes Leben beschieden. Schönerers rechthaberisches Wesen wirkt schon damals selbst auf seine engsten Mitarbeiter nach kurzer Zeit abstoßend. Auch beginnt der Antisemitismus sein ganzes Denken zu beherrschen. Dr. Viktor Adler trennt sich mit seinen im „Adlerhorst“ gesammelten näheren Freunden. Seine Erlebnisse als Armenarzt bringen ihn in Kontakt mit der zerklüfteten sozialistischen Arbeiterbewegung.. Als eine Art „ehrlicher Makler“ eint er zu Hainfeld an der Wpnde des Jahres 188 8 89 die einzelnen sozialistischen Gruppen und Fraktionen zu jener Partei, die wir von diesem Zeitpunkt an als Sozialdemokratische Partei kennen.

Pernerstorfer findet nicht so schnell seine endgültige politische Heimat. Er, der noch 1882 schreibt „wir haben es in sozialdemokratischen Versammlungen mit tiefem Schmerz mehr als ein mal vernehmen müssen, wie der nationale Gedanke mit Hohngelächter überschüttet wurde Wir setzen uns nicht auf die Stühle des kosmopolitischen Liberalismus und der antinationalen Sozialdemokratie“, geht nur tastend seinen Weg. Obwohl immer schon ein Fürsprecher des arbeitenden Volkes, überlegt er, selbst nach seinem Abschied von Schönerer, noch jahrelang den entscheidenden Schritt in das Lager des österreichischen Sozialismus. Am Grab dieses Mannes aber, der unzweifelhaft zu den Vätern der sozialistischen Bewegung in Oesterreich gehört, wird einmal — seinem Wunsch entsprechend — jenes Lied erklingen, das den jungen Burschenschafter Engelbert Pernerstorfer einst begeisterte: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ “

Die Wege der in die Politik geratenen Menschen jener Tage nähern und entfernen, überkreuzen und trennen sich — mitunter mehr als einmal. Zu hohen Idealen gesellen sich nur selten klare Einsichten und konkrete Pläne über die Art der Verwirklichung. Wer das ehrliche Suchen eines Pernerstorfer in allen seinen Metamorphosen nicht anzweifelt, darf dieselbe Gerechtigkeit auch einem anderen Mann nicht versagen, dessen Stichwort ebenfalls fällt, als eine Epoche, zu Ende geht und eine neue. Zeit sich ankündigt. Wir verhehlen nicht, daß wir hier an Dr. Karl Lueger denken. Bekanntlich werden seine politischen „Wanderjahre“ gerade von sozialistischen Kritikern gerne leichthin als Beweis für mangelnde Charakterstärke und fehlende Grundsatztreue angeführt.

Ein Blick nun in das Lager der „Rechten". Auch hier regen sich die Kräfte der Zukunft. Wir dürfen nicht vergessen: 1875 — es ist das gleiche Jahr, in dem Lueger sein Debüt als Gemeinderat feierte — ist Freiherr von Vogelsang J nach Wien gekommen. Hier entwickelt er als Redakteur des konservativen „Vaterland“ und der „Oesterreichischen Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft und Volkswirtschaft“ unter vielfachen Hemmungen und Rücksichten, sein großes Konzept vom christlichen Neubau der Ge sellschaft. Männer, wie die Fürsten Alois und Alfred Liechtenstein, nehmen seinen Ruf als erste auf. Langsam weicht der Starrkrampf, der das katholische Leben in Oesterreich befallen hat, seitdem 1851 der mögliche Ansatz einer ersten katholischen Volksbewegung, der „Katholikenverein“, nach einem bitteren Wort Doktor Veiths „mit dem Hirtenstab so gut wie mit dem Bajonett totgeschlagen“ worden ist. Die Diskussionen um die Schulgesetze, die die letzten Jahrzehnte erfüllten, waren eben doch nicht geeignet, über den engeren Kreis des Kirchenvolkes hinaus weitere Schichten zu bewegen. Das wird jetzt allmählich anders.

Wie aber die weite Kluft überbrücken, die zwischen der Studierstube Vogelsangs und den zwischen dumpfer Resignation und hell auflodernder Empörung schwankenden Massen gähnt? Tag und Nacht muß einem ernsten Denker wie Vogelsang dieses Problem beschäftigen. Während Prinz Alois Liechtenstein zum Beispiel durch seine Teilnahme an dem Begräbnis des Anarchisten Kämmerer demonstrativ zum Ausdruck bringen will, daß er in dem justifizierten Polizistenmörder das Opfer der herrschenden sozialen Unordnung sieht, sucht der körperlich behinderte Freiherr einen Kreis junger, zeitaufgeschlossener Akademiker ‘Um sich zu sammeln, um durch „Verbindungsmänner“ Kontakt mit den breiten Massen zu bekommen. Seinen mittelständischen Ideen entsprechend, findet eine Gruppe bedrängter Gewerbetreibender, die sich in Wien soeben konstituiert hat, sein besonderes Interesse.

Diese Spur führt zu Lueger. Wir begegnen ihm am 10.. Oktober 1880 unter den Teilnehmern einer in Drehers Bierhalle von dem Uhrmacher Buschenhagen einberufenen Gewerbeversammlung. Hier wird gegen den Hausierhandel scharf Front bezogen. Als Ergebnis wird eine „Gesellschaft zum Schutze des Handwerks“ gegründet. Der rührige Mechaniker Alfred Schneider, de,r von zahlreichen Auslandsreisen nicht nur manche Erfahrung, sondern auch ein antisemitisches Bro-schürenvokabülar mitg’ebracht bat, führt hier das große Wort.

Ein Jahr später entsteht, mit ähnlicher Zielsetzung, aus einer bei dem Schriftsteller und Herausgeber des „Oesterreichischen Volksfreundes“, Ernst Zerboni, versammelten Abendgesellschaft der „Oesterreichische Reformverein“. In diesem geht auch die „Gesellschaft zum Schutz des Handwerks“ auf. Bei der Gründungsversammlung des „Reformvereines“ im Hotel Wandl wird der Rechtsanwalt Robert Guido von Pattai, dessen außergewöhnliche Intelligenz und sprühende Rednergabe auch Männer anerkennen, die zu ihm in späteren Jahren in Gegensatz treten, zum Präsidenten gewählt. Die antisemitische Unter- strömung des neuen Vereines — genährt vor allem durch die Tatsache, daß als gewerbeschädigende Wanderhändler hauptsächlich Juden auf- treten — wird durch den Einfluß Schönerers verstärkt. Sehr klar hat dieser nämlich die Schlüsselstellung des „Reformvereines" für die kommende Entwicklung erkannt. Kaum eine Versammlung vergeht, ohne daß Schönerer als Gast sich zum Wort meldet oder von den Versammelten stürmisch zum Reden aufgefordert wird. Kein Zweifel: Schönerers Stern regiert die Stunde. Es hat allen Anschein, daß er zum Führer der großen Volksbewegung, zu der alle Kräfte hindrängen, berufen ist.. .

Wenn nun auch Lueger als „antikorruptionisti- scher" Gemeinderat von der Landstraße sich immer stärker bemüht, mit den „Reformern“ Kontakt zu gewinnen, so dürfen wir dies noch nicht als eine Kraftprobe Schönerer-Lueger werten.

Die Entwicklung in dem in seinem Protest gegen das Großkapital und seine Vertreter zwar einigen aber ansonsten aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzten „Reformverein“ kommt den Bestrebungen Luegers entgegen. Gegen den von Schönerer und seinen Freunden in der Leitung des Vereines betriebenen Versuch, die „Reformer" immer mehr ins deutschnationale Fahrwasser zu bringen und zu einer Hilfstruppe des „Deutschnationalen Vereines" zu machen, hat sich eine übernational denkende, österreichisch fühlende Opposition gebildet, als deren Wortführer Baron d’Albon und Franz Holubek auftreten. Der Aufruf, den beide im Jänner 1883 verfassen, muß Lueger aus dem Herzen gesprochen sein.

. „Das Beste, womit wir unserer heiligen Sache in .Oesterreich dienen können, soll das redliche Bestreben, sein, die Christen aller österreichischen Völker heranzuziehen, und das wird nur möglich seih, wenn wir uns geneigt zeigen, die gerechtfertigten nationalen Förderungen der einzelnen Völker mit allen uns zu Gebote stehenden moralischen uhd materiellen Mitteln zu fördern und zu unterstützen. Wenn wir in diesem Sinn wirken werden, dann erst wird unser goldener Traum, der da lautet: ,Die Gründung einer einzigen, großen, mächtigen, österreichischen, christlichen Volkspartei!’ zur Wahrheit werden.“

Und die Parole dieser Gruppe „Wir sind Menschen, Christen, Oesterreich er!“ muß Lueger gut im Ohr behalten haben. Für ihn, der aus seiner beweglichen, zur Aktion drängenden Natur heraus kein Freund langatmiger Parteiprogramme ist, bildet der Dreiklang von selbstverständlicher Menschlichkeit, aufrechtem Christentums und begeisterter Vaterlandsliebe das Motiv seines Handelns. „Menschen, Christen, Oesterreicher!“ Dieser Ruf schallt herauf durch die Jahrzehnte — als eine Mahnung, als eine Forderung.

Lueger aber kann 1883 freier atmen. Es geht wieder aufwärts! Der Kontakt mit bestimmten Kreisen im „Reformverein“ wird enger, und schon ein Jahr später faßt man hier den Beschluß, den „Demokraten“ Lueger, der zwar nicht in jeder Frage mit den „Reformern“ übereinstimmt, aber diesen doch nähersteht als sein liberaler Gegenspieler, bei seiner neuerlichen Kandidatur in den Gemeinden zu unterstützen. Auf diese Weise behält Lueger auch sein Mandat. Die Schützenhilfe des „Reformvereines“ aber scheidet hier die Geister. Schönerer, der zu diesem Zeitpunkt schon geahnt haben mag, daß seiner Popularität ein gefährlicher Gegner erwächst, zieht sich mit seinem engsten Kreis verstimmt zurück. Er spricht von einem „Armutszeugnis“, das sich der „Reformverein“ gegeben hätte. „Ritter Georg“, wie Schönerer von seinen enthusiastischen Freunden gerne genannt wird, hat dem Advokaten, der vor kurzem noch eine lokale Figur auf der Landstraße war, den Fehdehandschuh hingeworfen.

Doch noch das gleiche Jahr bringt auch eine vorübergehende Annäherung. Die „Nordbahnfrage“, die Entscheidung, ob der bis dahin privaten Kaiser-Ferdinand-Nordbahn-Gesellschaft ihr Privileg auf weitere achtzig Jahre verlängert werden soll oder nicht, vereinigt die verschiedensten Kräfte und auch Männer wie Lueger und Schönerer. Lueger, der schon am 30. Oktober 1883 in einem Dringlichkeitsantrag im Wiener

Gemeinderat die Verstaatlichung der Nordbahn gefordert hatte, lädt in einem von 3 8 Gemeinderäten verschiedener Richtungen mitunterzeichneten Aufruf „An die Wähler Wiens“ zu einer Versammlung in die Volkshalle des vor kurzem erst fertiggestellten Neuen Rathauses.

Deutschnationale, Reformer und Demokraten erscheinen zahlreich. Gebieterisch verlangt Schönerer als Abgeordneter für sich den Vorsitz. Die Situation ist kritisch. Aug in Aug stehen sich die beiden Männer vor einem erwartungsvollen Publikum gegenüber. Kann Lueger nachgeben? Der Augenblick ist von geschichtlicher Bedeutung ,

Doch Lueger erweist sich seinem Gegenspieler gewachsen und außerdem als ein besserer Kenner seiner Wiener, Er gibt nach — und gewinnt. In allem Anschein nach konziliantester Form, die ihren Stachel wohl verbirgt, erklärt er unverzüglich: „Es sind hier zwei Strömungen vorhanden, die demokratische und die antisemitische Damit Sie sehen, daß es uns nicht um die Person zu tun ist, beantrage ich, Herrn von Schönerer zum Vorsitzenden zu wählen.“

Schönerer hat den Vorsitz und Lueger bei den Wienern einen weiteren Stein im Brett. Damals mag wohl dem Schloßherrn von Rosenau das erste Mal aufgedämmert sein, daß das Wiener Pflaster kein guter Boden für ihn und seine Ideen ist.

Doch alles, was 1884 geschieht, ist nur ein Vorspiel zu den Reichsratswahlen des Jahres 188 5, besonders bedeutsamen Wahlen, weil diesmal die sogenannten-„Fünfguldenmänner“ — die Zahler von mindestens fünf Gulden Steuer im Jahr — das erste Mal zu den Urnen gehen werden. Ihr Votum wird entscheidend sein.

Dr. Lueger, dessen Position in Wien sich in den letzten Monaten bedeutend gefestigt hat, zieht die Eroberung eines Abgeordnetenmandates für das Hohe Haus am Franzensring ernstlich in Betracht. Er nimmt wieder seine schon auf der Landstraße mit Erfolg durchgeführten abendlichen Wanderungen in die rauchgeschwängerten Wirtshaussäle der äußeren Bezirke auf, wo er unermüdlich um die Stimmen der neuen Wähler wirbt.

Der Wahlfeldzug Luegers des Jahres 1885 zur Eroberung des Reichsratsmandates im fünften Wiener Gemeindebezirk erlebt aber ohne Zweifel seinen Höhepunkt, als der Kandidat am 27. April beim „Grünen Jäger“ in Margareten auf das Podium tritt. Er entwickelt bei dieser vom Vorstand des demokratischen Wähl ervereines ein- berufenen Versammlung — von den sehr selbständigen, nur zweck- und zeitgebundenen lokalen Wählervereinen“ zu den straff durchorganisierten Bezirksleitungen, Ortsgruppen, Sprengeln und Blocks unserer Zeit ist noch ein weiter Weg — sein Programm. Es liegt uns leider nur in der indirekten Rede des Berichterstatters vor und hat dadurch ohne Zweifel an Lebendigkeit und Farbe stark eingebüßt. Aber aufschlußreich bleibt es trotzdem.

Luegers große Kandidatenrede für den Reichsrat enthält zunächst das Versprechen, sich keiner der bestehenden Parteien — die Wiener Demokraten waren ja als Vertreter hauptsächlich der kleinen Steuerzahler bisher noch nicht im Ab geordnetenhaus — anzuschließen. Hierauf kommt gleich eine eindeutige Absage an das deutschnationale, im schon erwähnten Linzer Programm enthaltene Konzept einer Lostrennung Galiziens und Personalunion mit Ungarn. Der Berichterstatter notiert: „Keine einzige Provinz soll künftighin vom Staatsverband abgetrennt werden. Durch die Abtrennung Dalmatiens und die Sonderstellung Galiziens würde in dem restlichen Oesterreich die Stellung des Deutschtums nicht sichergestellt, sondern Ungarn und die Sonder- gebiete nur übermütig werden Oesterreich dürfe nie zu einem Vasallenstaate Ungarns herabsinken. Die Demokraten treten für die Aufrechterhaltung des Bündnisses mit Deutschland ein, allerdings unter strenger Wahrung der vollen und wirtschaftlichen Selbständigkeit Oesterreichs.. . Eine Zollunion sei nicht er strebenswert, da sonst die heimische Industrie vernichtet würde.“

Dann sind die Liberalen und das von ihnen ängstlich gehütete Klassenwahlrecht an der Reihe. Aber auch jene noch im Dunkel sich regende und in Verwirrung verstrickte politische Bewegung, mi der sich Lueger und.seine Partei oft wird messen müssen, apostrophiert er. Es verwundert uns nicht, zu hören, daß sich Lueger gegen alle Ausnahmegesetze ausspricht, mit denen die Behörden die Ausbreitung der sozialistischen Ideen unter den Arbeitern zu verhindern suchen. Die Meinung Luegers zu dieser Frage scheint dem Berichterstatter sogar so bedeutsam, daß er sie uns im Wortlaut überliefert. Sie ist klar und entspricht nicht den Vorstellungen, die sich manche Kreise von diesem „bürgerlichen“ Politiker gerne machen: „Man löst die soziale Frage niemals durch Polizeimaßnahmen, sondern durch die Anbahnung von Reformen, welche die gerechten Forderungen der Arbeiter erfüllen.“

Und dann gibt es selbstverständlich auch Wahlversprechungen.

Nach einem Wort Bismarcks wird bekanntlich nie so viel gelogen, wie während eines Kriegts, nach einer Jagd und vor einer Wahl. Allein selbst der schärfste Kritiker Luegers kann nicht ableugnen, daß dieser seine Versprechen zu einer späteren Zeit, als ihm die V cht dazu gegeben war, eingelöst hat. Schon deswegen wäre ihm die Nachwelt ein Denkmal schukjg gewesen

Doch von einem Denkmal t d anderen Ehrungen ist natürlich 1885 überhaupt nicht die Rede. Es geht in Wien hart auf hart. Durch die Teilnahme breiterer Bevölkerungsschich n bekommt die Wahlbewegung auch andere, schirfere Züge. Was vor wenigen Jahren noch ein von Jer überwiegenden Mehrheit der Wiener teilnahmslos verfolgter Wettstreit zwischen einigen Bezirkshonoratioren war, der mitunter sogar willkommenen Anlaß zu einer „Hetz", zu einer „Mordsgaudi“ gab, ist jetzt eine äußerst ernste Angelegenheit, an der man in den Salons und in den Hinterhöfen, „zu ebener Erde und im ersten Stock“, erregt Anteil nimmt.

Am lebhaftesten geht es wohl in Margareten zu, wo sich der Demokrat Lueger und der bisherige Vizebürgermeister Steudel, der zwar auch aus der demokratischen Linken hervorgegangen ist, aber sich immer mehr der liberalen Mehrheit genähert hat, gegenüberstehen. Für Lueger machen nicht nur die Demokraten und die gewerblichen „Reformer“, sondern auch die gemäßigten Deutschnationalen genau so wie das Wiener tschechische Element Stimmung. Auch aus der am Rande der Legalität sich formierenden sozialistischen Arbeiterbewegung schlagen dem „Volksmann Sympathien entgegen. Hier hat man allem Anschein nach den großen „Anarchistenprozeß“ vom März 18 83, in dem Lueger als Anwalt erfolgreich für zwei Arbeiter plädierte, nicht vergessen. Ja, einige Sozialisten treten sogar offen als Wahlwerber für Lueger auf. Es gibt Stimmen, sehr glaubwürdige Stimmen, die behaupten, Jakob Reumann — er wird Jahrzehnte später Wiens erster sozialistischer Bürgermeister sein — habe sich unter diesen befunden. Nie zuvor und auch niemals später war ein Politiker der Kandidat einer so weiträumigen, freilich auch buntscheckigen „Volkspartei“ wie Lueger in diesem Jahr. Und dennoch wäre beinahe alles schiefgegangen.

Am Mittag des Wahltages deuten alle Anzeichen auf eine drohende Niederlage. Luegers Getretie setzen die letzten Kräfte ein, um das Blatt zu wenden. Lueger selbst aber zeigt in jenen Stunden nicht das den Wienern so vertraute selbstbewußte Lächeln. Die Frau des Oberlehrers Smolek, Toni Smolek — ihre rührige Agitation lenkt übrigens Luegers Aufmerksamkeit auf die bis dahin im Verfassungsstaat übersehene Bedeutung, die das weibliche Element, damals noch ohne Stimmzettel, auf große politische Entscheidungen haben kann —, erzählt in späteren Jahren einmal Stadtrat Schwer, daß Lueger damals nicht zu erkennen war. „Seine Gedanken weilten unausgesetzt bei seinem politischen Unglück, das er vor Augen sah, bei seiner Mutter, und wiederholt äußerte er halblaut: .Meine Mutter, meine arme Mutter!’, es mochte ihn beeindrucken, daß er durch die Wahlkampagne seine Kräfte über das Maß erschöpft hatte."

Bange Stunden vergehen. Dann aber zerbricht ein Siegesschrei die dumpfe Ungewißheit: Gewählt!

Gewählt — mit einer Mehrheit von 85 Stimmen.

Der Weg für den Abgeordneten Dr. Karl Lueger in das Haus am Franzensring ist frei. Lautlos senkt sich der Vorhang über ein allem Anschein nach politisches Zwischenspiel, wie es jede Wahlbewegung ist. Heute aber wissen wir, daß die Wahl des Jahres 1885 nicht mehr und auch nicht weniger war als das Vorspiel zur österreichischen Innenpolitik des 20. Jahrhunderts.

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