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Wahlen, Feste und Kontuszowka

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Der geistvolle, vielumstrittene und streitbare polnische Kritiker, Publizist und Politiker Kisie-lewski hat kürzlich von den scheinbar miteinander unvereinbaren Gegensätzen gesprochen, die nebeneinander im polnischen Räume wohnen. „Ein kommunistisches und dennoch katholisches Land, das im Bereich der lateinischen Kultur lebt. Ein überlieferungsmäßig religiöses Land, das eine westlich erzogene Intelligenzschicht besitzt und das dennoch, dem Experiment des sozialistischen Aufbaus anheimgegeben, im Ostblock beharrt.“ Man kann derlei Gegenüberstellung schier endlos fortsetzen. In der Polnischen Volksrepublik herrscht, nach der reinen Theorie, die mit der Bauernschaft verbündete Arbeiterklasse, während die „werktätigen geistig Schaffenden“ als weinende Dritte nur die Rolle eines bescheidenen Anhängsels spielen. In Wahrheit zählen allein die Gebildeten, mehrheitlich den Vorkriegseliten entstammend und in ihrer Minderheit bestrebt, der eigenen Herkunft aus dem Volk zum Trotz, es diesen Gestrigen gleichzutun. Das Bündnis mit der Sowjetunion bildet die Grundlage der gesamten auswärtigen Politik, und es lastet schwer auf der inneren; und doch ist kaum in einem zweiten Staat die Abneigung gegen die Russen so stark wie in Polen. Die Macht ruht hier bei überzeugten Atheisten; aber außer in Italien, in Irland und auf der Iberischen Halbinsel ist der Katholizismus nirgends so tief eingewurzelt, so unangreifbar wie in dieser kom-■•munistisch gelenkten Volksdemokratie. Das Lebensniveau der Bevölkerung ist im allgemeinen kümmerlich, der Durchschnitt der Einwohner trägt armselige Kleidung; am Silvesterabend fanden in Warschau 150 Ballfeste statt und auf dem in der Philharmonie konnte man eine Schau von Seschmackvollen, eleganten Toiletten, von gutgeschnittenen Fräcken uüd Smokings sehen, deren sich keine westliche Residenz zu schämen hätte. Was aber nicht hindert, daß es der Majorität der Bevölkerung schlecht und noch schlechter geht; daß die offen ein-bekennbaren Einkommen grotesk gering sind. Gleichwohl begegnet man in Polen mehr heiteren, zufriedenen Menschen als in der reichen

Schweiz. Das sind einige der polnischen Paradoxa, über die ein Europäer der Mitte oder des Westens nie müde wird, zu erstaunen.

*

Manches, ja vieles wird aber begreiflicher, wenn wir in die abgehegten Zonen der polnischen Seele eindringen, in einen Bezirk, der für das Verständnis einer politischen Gegebenheit wichtig ist, die ihrerseits eine Schlüsselstellung zwischen West und Ost einnimmt. Da hat eine große Warschauer Tageszeitung eine Enquete veranstaltet, mit dem Thema: Könnten Sie eine absolut zuverlässige Antwort auf eine für Sie entscheidende Frage erhalten, was wünschten Sie dann vor allem zu erfahren? Der vielgelesene Schriftsteller Tyrmand: „Wann wird es besser?“ Ein Arbeiter: „Wann wird ein ehrlich Werkender sich ein eigenes Häuschen erwerben können?“ Der Erzähler, Publizist und ehemalige Diplomat Putrament: „Wann wird dieses Volk zu saufen aufhören?“ Ein berühmter, übrigens dem Alkohol nicht feindlicher Poet: „Ich möchte, daß Frieden herrsche, denn dann wird der Sozialismus siegen; wird das geschehen?“ Ein junger Kommunist: „Ist der Kommunismus zu verwirklichen?“ Neben diesen, die Verzweiflung über obwaltende Zustände und den Zweifel gläubiger Marxisten am Triumph ihrer Sache widerspiegelnden Aeußerungen ertönte der rührende Angstschrei einer jungen Schneiderin: „Wird mir Gott sehr darüber zürnen, daß ich aufgehört habe, an Ihn zu glauben?“ Und zuletzt die Flucht in den elfenbeinernen Turm. Ein Literat: „Ich habe an niemanden Fragen. Wirkliche Fragen stellt der Mensch nur an sich selbst. Die anderen Fragen, das sind nur Informationen, Klagen oder Beschimpfungen.“ Ein Philosoph, der seit langem den sowjetischen Kollegen ein besonders störendes Aergernis ist: „Was ist der Inhalt der verlorenen Schriften Spinozas?“ *

Keine anderen als diese Sorgen möchte wohl Gomulka haben, der nicht umsonst den ebenerwähnten Weisen zur Zielscheibe eines heftigen Angriffs erkoren und ihm allerdings darnach den Weg ins Freie (Ausland) eröffnet hatte. Immer

wieder — so in seiner, mit einigen mageren Erfolgen des abgelaufenen Jahres aufwartenden Neujahrsrede — mahnte und mahnt er zum Vertrauen, zur Disziplin, zur Arbeit und zur sozialistischen Tugend. Immer schwächer wird das Echo, das er findet. Die Leute versuchen zwar (noch?) keinen Widerstand, denn sie wissen, daß hinter Gomulka nichts Besseres nachkäme. Doch Apathie, Gleichgültigkeit greifen um sich. Man durfte das bei den Wahlen in die autonomen Körperschaften — die Woiwodschafts-, Bezirks- und Gemeinderäte — beobachten. Diesem Urnengang vom 2. Februar blieben, ungeachtet einer gigantischen Propaganda, 18 Prozent der Berechtigten ferne. In einzelnen Gegenden, so in der besonders antikommunistischen Krakauer Woiwodschaft, schritten gar nur 80 Prozent zur Wahl. Und mit welchen Gefühlen erschienen die Stimmbürger! Ein Blick in die nie ins Ausland dringende Provinzpresse mag darüber belehren. Einer der Kandidaten des Wahlkampfes gestand einem Interviewer mit erfrischender Offenheit, als ihn dieser nach den sympathischesten Politikern des Landes befragte: „Ich kann Politiker nicht leiden. Ich kann sie alle miteinander gleichermaßen nicht riechen.“ (Glos Szczecinski.) Wie nötig war bei dieser allgemeinen (Ver)Stimmung das mahnende Wort des Hauptorgans der offiziellen Jugendorganisation „Sztandar Mlodych“ an seine Leser: „Amüsiere dich in der Sonntagnacht nicht zu lange; sonst verschläfst du die Wahlen!“ *

Zu derlei Besorgnissen bestand ausreichender Grund. Denn alt und jung huldigte dem Branntwein in einem Uebermaße, das noch ganz andere Gefahren in sich birgt als das Verschlafen eines Urnenganges. Bei diesem Thema hört der Scherz auf. Die Trunksucht ist zum ärgsten Uebelstand Polens geworden, noch vor der Wirtschaftsnot, der sie vor allem entquollen ist. Eine umfängliche Reportage in der Wochenschrift „Kierunki“ vom 26. Jänner — „Tägliche Sünden der Politik“ — enthält den eindringlichsten, tragischesten Bericht über die verheerenden Wirkungen des Dämons Alkohol, der zusammen mit einer unheimlichen Verluderung der Sexualsitten vor allem die Jugend gefährdet. Oberflächliche Schätzungen sprechen von zwei Millionen Gewohnheitstrinkern in einer Gesamtbevölkerung von 28 Millionen. In vier Grundschulen von Stettin tranken von 164 Schülern des ersten Jahrganges 76 regelmäßig Schnaps. Im Ober-schlesisch-Krakauer Industriegebiet lauten die

Zahlen noch schlimmer. Es ist nicht überraschend, daß die Polizei im Jahre 1957 eine Viertelmillion im trunkenen Zustand Verhafteter zählte, durch deren Schuld 200 Personen getötet und 7000 verwundet worden waren. So nebenbei: die Herren Polizisten huldigen selbst nicht selten dem Bacchus. Vor kurzem erst wurde einer aus der Hermandad verhaftet, weil er in der Trunkenheit statt den Urheber eines Raubüberfalls dessen Opfer erschossen hatte. Furchtbare Dinge sind im genannten Artikel der „Kierunki“ zu sehen. Sieben- bis neunjährige Kinder, die Betrunkenen die Schnapsflaschen entreißen und das Geld stehlen, um ihrerseits dem Suff zu frönen. Betrunkene prügeln Kinder zu Tode, töten ihre gesamte Familie, zünden ihr Haus an. Junge Burschen erschlagen den eigenen Vater, um Geld für Schnaps zu erbeuten ... Die früh verdorbenen Kerle rotten sich zu Banden zusammen, rauben, raufen und schänden. In einer derartigen Bande führt ein Fünfzehnjähriger das große Wort... Alles, was gegen diese Katastrophe unternommen wird, ist bisher wirkungslos geblieben.

Dabei, und hier meldet sich wieder das große Rätsel einer Nation, in der Tugend und Laster so eng nebeneinander wohnen, ist die Mehrheit des Volkes und seiner Oberschicht — der alten und, wir gestehen das aufrichtig, der neuen — rein und aufrecht durch Blut und Elend gewatet. Nicht nur die Kirche, den großen Kardinal Wyszynski voran, gibt in ihrem Episkopat und im Klerus, wie durch die auf hoher geistiger und sittlicher Stufe beharrende Laienintelligenz das beste Beispiel, auch Gomulka ist mit seinem vorbildlichen Familienleben, seiner schlichten Art und seiner Anspruchslosigkeit ein persönlich sehr achtenswerter Mensch, der aus seiner Partei Trunkenbolde, Lüstlinge und Korruptionisten ausmerzen möchte. Neben den schlimmen Beispielen der Verkommenheit, die wir erwähnt haben, zeigen uns andere Enqueten eine hochherzige, vielleicht nur zu romantische Jugend, deren Lieblingslektüre Sienkiewicz und Prus ist, die ritterlichen Helden nachstrebt und die mit Fleiß ihre Pflicht erfüllt, später um kargen Sold musterhafte Arbeit leistet.

Die weniger laute Volksmehrheit ist moralisch jesund. Doch die, leider beträchtliche, grölende Minderheit wurde durch ein übles politisches und wirtschaftliches Klima versehrt, das von den Miasmen des letzten Krieges und der ihm folgenden Atmosphäre des unseligen, zu jähen sozialen Umbruchs geschwängert war.

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