Eine unglaubliche Geschichte, aber wahr: noch am 10. Mai 1945, also nach der Kapitulation, vollzogen die Deutschen an der Ostsee Todesurteile an ihren Soldaten. Jochen Missfeldt hat diesem Wahnsinn einen Roman gewidmet.
Ostsee, Geltinger Bucht, 3. Mai 1945. Schiff um Schiff zerstören die Deutschen, bevor laut Abmachung mit Montgomery am 5. Mai um 8 Uhr die Waffen niedergelegt werden müssen, danach sind Schiffsversenkungen streng verboten. Auch das U-Boot U-999 ist unterwegs in die Gelbinger Bucht.
"Die Nacht, an deren Ende es eintraf, war eine tolle Mondnacht gewesen, Nacht der Zuflucht, Nacht der Geborgenheit, ein erhebendes Bild. Das sah nicht nach Kriegsende und Niederlage aus, sondern nach Heimkehr von einer großen gewonnenen Schlacht. Keinem Soldaten war ein Haar gekrümmt worden. Man wichste schon die Knobelbecher für eine lange Ballnacht. Der Bart war ab. Man besah sich im Spiegel und kämmte sein Haar. Einen Spritzer Tai Tai aufs Kavalierstaschentuch geträufelt, das hat noch nie geschadet. Einatmen und sich in Form fühlen. Kein Soldat würde beim Durchschreiten der Eichenlaub-Ehrenpforte hinken. Die Brieftasche war voll gestopft mit Sold, und zwischen dem Sold steckte das Foto: Ehefrau mit drei Töchtern, eine Erinnerung an glückliche Tage. Die glücklichen Tage waren geblieben, und das Glück würde nicht vergehen. Das Wetter versprach, vom strahlenden Siegesgesang noch strahlender zu werden. Weit ging der Blick über die Ostsee und über Stadt und Land. Schönwetterwolken trieben am Maihimmel. Der Maiwind blies kühl. Das liebliche Osterfest war ohne Auferstehung an den Menschen vorbeigegangen. Das liebliche Pfingstfest stand vor der Tür.
Erst mal Himmelfahrt, Leute."
Himmelfahrt und Hinrichtung
Romantische Mondnächte können in Abgründe führen - so auch der neue Roman von Jochen Missfeldt. Denn am Himmelfahrtstag, am 10. Mai 1945, also nach der bedingungslosen Kapitulation am 9. Mai um 0.00 Uhr, kommt es noch zur Hinrichtung von zwei deutschen Soldaten, die auf einer dänischen Insel beschlossen hatten, ihre Truppe zu verlassen und nach Hause zu gehen. War der Krieg nicht ohnehin schon zu Ende? Die Dänen greifen sie auf - und übermitteln sie der deutschen Marine. Die stellt die Deserteure vor ein kurzerhand zusammengetrommeltes Kriegsgericht ("Punkt Punkt Komma Strich, fertig ist das Kriegsgericht."), verurteilt sie wegen Fahnenflucht zu Tod durch Erschießen und bestattet sie auf See.
Missfeldt hat das Schicksal der drei Männer, denen er seinen Roman auch gewidmet hat, bestens recherchiert - zwei wählte er als seine Romangestalten aus. Historisch fundiert und poetisch dicht gestaltet gipfelt der Roman in jener Szene, in der der Leser schaudernd zusehen kann, wie in einer Nacht, in der die "Zeit verging, die Frage nicht", nicht nationalsozialistische Verhetzung, sondern religiöse Erziehung das Urteil mitentscheidet. "Ein See- und Nachtstück" nennt der Autor seinen Roman, und man erinnert sich nicht nur an Landschaftsbilder von Caspar David Friedrich, sondern auch an die romantische Nacht als Sinnbild für Bereiche, die jenseits der verstandesmäßigen Erkenntnis liegen.
"Der Gerichtsherr betete christlich und dachte soldatisch." Eine Nacht lang weilt der Leser beim Kommodore, der mit dem christlichen Gebot "Du sollst nicht töten" ebenso ringt wie mit seinem auch von der protestantischen Erziehung geprägten Pflichtgefühl, stets gehorsam zu sein und den Krieg anständig zu Ende zu bringen, mit Ordnung und Manneszucht. "Nun war der Gerichtsherr allein mit dem Urteilspapier in der Kammer seines Führungsschiffes, das voller Herz- und Pulsschlag, Lampensummen, Maschinenstille und Kriegsende war. Und ins Kriegsende hinein brummt wie von Lichtjahre fernen Sternen ein Hilfsdiesel, damit Gleichstrom durch die Leitungen floss und diese Frage nicht verstummte: Ist es wirklich erforderlich, zwei Menschen zu opfern, um die Aufgaben, die uns gestellt sind, durchzuführen?'" Am Ende der Nacht setzt sich das Pflichtgefühl durch: "Auf die Eierschalen seines Gerichtsherrnlebens - sie waren dick wie Panzerglas - schlug der Hammer der Kindheit, des Kaisers und der Kriegsmarine und hämmerte das Todesurteil ins Herz."
Man weiß aus der bildenden Kunst, dass die Gestaltung der Übergänge von Hell zu Dunkel ein besonderes malerisches Problem der "Nachtstücke" bildete und die künstlerische Herausforderung darstellte. Eine derartige Gratwanderung an einer gefährlichen Steilküste ist wohl auch des Autors Versuch, das völlig Unverständliche verständlich zu machen, die Tiefen der Motivation eines derart unsinnigen Urteils auszuloten - ohne es aber irgendwie zu entschuldigen. Missfeldt, ein ehemaliger Luftwaffenpilot - dessen Ich-Erzähler zum Zeitpunkt des Romangeschehens so alt ist wie der 1941 geborene Autor, nämlich vier Jahre - schafft diese Gratwanderung ohne Absturz, wenngleich dem Leser manchmal die dichten Naturbilder und Märchenexkurse bang fragen lassen, ob sich nicht hinter soviel schönem Sprachgemälde der Schrecken nicht nur offenbaren, sondern auch verstecken kann. Denn Kriegsgräuel erscheinen am Rande oder gar nicht.
Meer und Märchen
Im Vordergrund stehen Eisvogel und Meer. "Alles entströmt der Steilküste mit Geräuschen, Gerüchen, Farben, Stoffen, Molekülen, Atomen und Elektronen, weht bei Westwind übers Wasser, und die Wellen schnappen zu und lassen es verschwinden. Oder alles fließt, nach einem Regen, von der Abbruchkante in die Ostsee. Die Wellen holen es sich vorne am Strand, indem sie es auflecken und schlucken. So kommt die Erinnerung vom Festland ins Meer, und das Meer mischt sie mit den Stimmen vom Geisterschiff, das der Eisvogel unter einem magermilchblauen Himmel dahinsteuert, und alles geschieht, wenn man wie ich da oben steht und es bedenkt, Wort für Wort."
Man muss schon in die dichten Natur- und Märchenbilder eintauchen wollen, damit man sie erzählen hört und um ans Unfassbare zu gelangen. Dann spülen sie auch die Erinnerungen an den Wahnsinn des Krieges, der noch nach seinem Ende nicht aufhörte, an die vielen Opfer, an gefährliche Denksysteme, an die Flüchtlingskatastrophen, die von den Deutschen zu verhindern gewesen wären, und an die Schmerzen von Menschen, die mit dem Verlust ihrer Lieben zurecht kommen mussten, aber manchmal nicht kamen, ans Land wie manchmal das Meer einen seiner vielen Toten.
Steilküste
Roman von Jochen Missfeldt
Verlag Rowohlt, Reinbek 2005
282 Seiten, geb., e 20,50
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