6762871-1968_22_23.jpg
Digital In Arbeit

Wandern im Gebirge

Werbung
Werbung
Werbung

Die Kunst des Wanderns war bis vor kurzem eine Kunst von gestern. Nun aber hat sich der Mensch allmählich sattgefahren. Staunend entdeckt er, daß die Füße auch zum Gehen, nicht nur zum Gasgeben taugen. Die Ärzte predigen mit aller Eindringlichkeit den Wert des Wanderns: Es bringt den Kreislauf in Schwung, es wirkt wie eine Wundermedizin gegen Abgespanntheit, Schlaflosigkeit und Verkalkung. Eine Wanderung kann den Menschen sogar von akuter seelischer Niedergeschlagenheit befreien. Wer wandert, atmet tiefer, nimmt daher mehr Sauerstoff auf und sorgt für eine bessere Durchblutung des Organismus. Die Depression des Gemütes wird fortgeschwemmt. Wandern ist also keine Kunst von gestern, der nur die Käuze huldigen. Wandern ist ein bewährtes Heilmittel gegen die Zeitkrankheiten, die sich in hektischer Unruhe, Nachlassen der Spannkraft und beklemmender Müdigkeit äußern. Darum wird das Wandern ärztlich nicht nur wärmstens empfohlen, sondern auch in der Form von Terrain-Kuren ausdrücklich verordnet.

Wer nie im Gebirge gelebt hat, befürchtet,

er könne in dieser vertikalen Landschaft nur klettern, bestenfalls keuchend emporsteigen.

Viele meiden aus diesem Grunde das Gebirge. Sie glauben, es überfordere ihre Kräfte. Das Gegenteil davon ist richtig. Tirol, das klassische „Land im Gebirge“, ist ein geradezu ideales Gebiet für abwechslungsreiche, völlig gefahrlose Wanderungen, denen auch der asphaltgewohnte Großstädter gewachsen ist, weil er sie seiner körperlichen Verfassung anpassen kann.

Die Wandergebiete in Tirol liegen auf drei Ebenen: in der breiten Sohle der sanft ansteigenden Täler, auf den freien Terrassen des Mittelgebirges und in der Almregion, die man mühelos mit Seilbahnen und Lifts erreicht. Aus jedem Ort, gleichgültig, wie hoch er über dem Meere liegt, führen flache oder nur mäßig ansteigende Wege in die Umgebung. Von jedem Ort aus lassen sich die Rundwanderun-

gen unternehmen, so daß man auf dem Rückweg nicht den eigenen Spuren folgen muß. Wer motorisiert ist, findet leicht ein schattiges Plätzchen, wo er den Wagen abstellen kann, um von dort aus eine Wanderung zu beginnen, die ihn an die Kühlerhaube zurückführt. Das ist nämlich das besonders Reizvolle am Wanderp mit dem Auto: Man fährt von seinem Urlaubsort los, heute dahin, morgen dorthin, und knüpft an die motorisierte Exkursion eine ausgedehnte Fußwanderung. Der Wagen ist dabei ein gutes Mittel zum Zweck.

Etwas vom Erholsamsten sind Wanderungen über das Mittelgebirge zwischen 700 und 1000 Metern. Man ist der Sonne näher, die Luft weht frisch über die Hochfläche. Auf den Mittelgebirgsterrassen liegen die ältesten Kulturstätten des Landes. Nach jeder Krümmung des Weges öffnen sich neue Horizonte. Die weittragende Sicht und der Blick in die Tiefe wecken das Gefühl des Erhabenseins über alles, was gewöhnlich ist. Es ist ein befreiendes Wandern auf dem goldenen (von Autos unbenützbaren) Mittelweg zwischen dem Tal und extremer Höhe. Trotzdem sollte man sich während der Ferien in Tirol auch eine richtige Höhenwanderung ohne irgendwelche touristische Herausforderung gönnen. Es ist so einfach: Man läßt sich in schwebenden Sesseln oder Seilbahnwagen emportragen und startet, ohne schon ermüdet zu sein, an der Bergstation zu einem beglückenden Marsch, der über Matten hinweg, an Almen vorbei, mitten in das Reich der alpinen Flora führt. Die Entdeckung einer neuen Welt, in der es nur Laute der Natur, aber keinen Lärm gibt, wird zu einem unvergeßlichen Erlebnis.

Die Kunst des Wanderns lernt man in Tirol schnell, denn dieses Land ist voll von Abwechslung, reich an Gegensätzen. Je bewußter man wandert, desto stärker sind die Eindrücke. Man soll schauen, nicht nur oberflächlich in die Landschaft blicken. Man soll in ihrem Mienenspiel lesen und dabei ihren Charakter studieren. Hier Urgestein, dort Kalkgebirge. Steinerne Wucht wehrhafter Höfe am Oberlauf des Inns, im Unterland samtbraune Holzbauten mit Glockentürmen und Baikonen. Die Kirchen: Ernste Gotik, jubelndes Barock, verspieltes Rokoko. Sonnseite und Schattenseite der Täler — zwei Welten in einer einzigen Furche des Gebirges.

Mit den Ohren wandern: Dem gewaltigen Crescendo der Gebirgsbäche lauschen, dem verträumten Gebimmel des Weideviehs nachsinnen, hören, wie der Wald atmet.

Das Land hat auch sein charakteristisches „Parfum“. In vollen Zügen atmet der Wanderer den Duft der Fluren, das herbe Aroma trockenen Heus, die würzige Frische des Waldes. Süße Akkorde des Wohlgeruchs wehen über die Höhen. Wer mit offenen Sinnen wandert, „riecht“ die Frische des Morgens, den milden Duft des Abends, den Regen und das Gewitter. Das sind starke Eindrücke für jeden, der sich sonst in einer Welt der Abgase und anderer Mißgerüche bewegen muß.

Ein wichtiger Hinweis für solche, die nie in Tirol waren: Es ist unnötig, auf einer Tageswanderung viel Proviant mitzuschleppen. Auch in den hintersten Tälern stehen Jausenstationen und Gaststätten am Wege, wo man gut verpflegt wird. Keimfreies, erquickendes Wasser fließt überall aus Brunnen und Quellen. Niemand verdurstet auf freier Strecke. Das Wichtigste einer Wanderausrüstung sind kräftige Schuhe mit profilierten Gummisohlen, eine Wolljacke und ein Regenschutz.

Ein Wort noch an die ganz Bequemen: Sie sollen Spazieren nicht mit Wandern verwechseln. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen ist so groß wie zwischen Tischfußball und Rasenfußball. Wandern ist Sport, Spazieren geruhsame Bewegung. Der Wanderer hat ein Ziel vor Augen, der Spaziergänger läßt sich treiben, improvisiert, rastet, bummelt. Der Wanderer schreitet zügig aus, behält sein individuelles Tempo bei, rastet selten, aber dafür ausgiebig.

Die Urlaubskünstler wandern im Frühling oder Frühsommer durch Tirol. Die Genießer kommen im Herbst. Um diese Jahreszeit ist die Luft klar wie Glas, die Farben der Natur leuchten intensiver, keine Wolke steht am Himmel, und die Strahlen der Sonne berühren die Haut wie eine zärtliche Liebkosung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung