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War es unter Stalin besser?

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I.

Der Name dieses Mannes ging vor einigen Wochen durch die Spalten der Weltpresse. Er, der zu den führenden Geisteswissenschaftlern in jenem Teile Deutschlands zählt, der unter sowjetischer Herrschaft steht, hatte das Gebiet der sogenannten DDR verlassen und Asyl im Freien Westen gesucht. Alfred Kantorowicz, Sohn des liberalen deutsch-jüdischen Bürgertums, Kriegsfreiwilliger von 1917, hatte sich schon nach dem ersten Weltkrieg der kommunistischen Pa- tei angeschlossen. Sie schien ihm, der, ohne es oft selbst zu wissen, immer ein radikaler Demokrat linker Prägung geblieben war, das geeignetste Instrument zur Durchsetzung einer freiheitlichen Ordnung zu sein. In ihren Reihen kämpfte er gegen den aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland und nach seiner Emigration auf seiten der Republik in Spanien. Während des Krieges war er politischer Rundfunkkommentator in den USA, ein glühender Befürworter des weltweiten Antihitlerbündnisses mit der Sowjetunion. Schon 1946 kehrte er freiwillig nach Deutschland zurück, bezeichnenderweise in jene faszinierend-geistige Hauptstadt Berlin, die bis zum heutigen Tag von den „Vier Mächten” von 1945 besetzt ist. Er gründete eine Zeitschrift, die er .„Ost und West” nannte, mit dem Mut, aber auch der Blindheit der Verzweiflung um die Durchsetzung eines Gedankens kämpfend, der scheitern mußte: Er wollte die Synthese, das freiheitliche Zusammenwirken der — wie ihm schien — fortschrittlichen Kräfte in beiden Welthälften. Sein grundlegender Irrtum lag darin, diese fortschrittlichen Kräfte des Ostens mit denen der sowjetischen kommunistischen Partei gleichzusetzen. Zug um Zug enthüllte sich ihm in den guten zehn Jahren seines

Wirkens als Publizist und akademischer Lehrer in der deutschen Sowjetzone die grausame Wirklichkeit. Er kam in den Westen, nicht als ein Renegat oder Konjunkturritter, nicht als einer, den Erfolglosigkeit oder persönliche Differenzen ins andere Lager getrieben haben, sondern als einer, dessen Widerstandskraft zur inneren Opposition einfach nicht mehr ausgereicht hatte, der sein Wirkungsfeld aus persönlichen Gründen verlassen mußte, obwohl er der Ueberzeugung • war, daß der innere Widerstand gegen das Regime vorhanden ist und gerade Männer wie ihn, die das kommunistische Terrorsystem von den Wurzeln her zu bekämpfen und nicht bloß mit Deklamationen abzukanzeln fähig sind, dringend brauchen würde …

II.

Wir saßen ihm in München einige Stunden lang gegenüber, als er das geistige und gesellschaftliche Bild der sowjetischen Machtzone in Deutschland zeichnete.

Selbst unter Stalin sei es besser gewesen. (Hier taucht eine Parallele zum Ausspruch Sartres auf, der einmal bitter sagte, die geistigen Franzosen seien am freiesten zur Zeit des Widerstands gegen die deutsche Besetzung gewesen.) Der alte Machtpolitiker hatte wohl, wenn es ihm geraten schien, mit den Mächten des Faschismus paktiert, keinen Winkelzug verschmäht und vor keiner Brutalität gegen unbequeme Anders-’ denkende auch im eigensten Lager zurückgeschreckt. Immerhin aber hatte er bauernschlau den Nutzwert des Intellektuellen, erkannt, ihnen Atem- und selbst Narrenfreiheit zugestanden, wenn es ihm zweckmäßig erschien. Ulbricht, der heutige unumschränkte Machthaber über Sanssouci und das Goethesche Weimar, die Dresdner Kunstgalerie und das Leipziger Gewandhaus, über das Eislęben Luthers, das Eisenach Sachs’ und das Naumburg Nietzsches, die Wartburg und die Berliner „Linden”, ist aus anderem Holz geschnitzt. In ihm sind jene elementaren geistfeindlichen Tendenzen, die im deutschen Volke eng neben höchster Begabung schlummern, geradezu Fleisch geworden. Stalin und seine gewiegten sowjetischen Kulturingenieure vom Schlage der Tulpanow und Kotikow in Deutschland hatten sich des reaktionären und primitivnationalistischen Ungeistes zuweilen aus politisch-taktischen Gründen bedient, ohne sich mit ihm innerlich auch nur im geringsten einzulassen. Sie hatten die Handlanger, Brüller und Subalternen, die Verseschmiede und „Ertüchti- ger” offen oder zumindest heimlich verachtet und verlacht. Bei Ulbricht fällt diese Politik mit eigener Neigung zusammen. Sie ist der radikale Sieg aller jener geistfeindlichen und geistmordenden Tendenzen, die der deutsche Humanismus vier Jahrhunderte lang niederzuhalten, zumindest zu bändigen, imstande war. Jetzt sind ihnen alle Zügel freigegeben Die Proklamierung des Turnvaters Jahn, den Karl Marx wiederholt nur als „Rüpel” bezeichnet hatte, zum nationalen Erziehungssymbol des .deutschen Volkes ist der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung.

(Kantorowicz läßt im Gespräch die Frage offen, ob nicht auch die Politik Ulbrichts vom kommunistischen Standpunkt aus, der ja in seiner alles beherrschenden Dialektik die Hemmungen des liberalen Linksintellektuellen grundsätzlich nicht kennt, zu „rechtfertigen” sein könnte- Er will die Antwort darauf in einem Werk geben, an dessen geistiger Konzeption er zur Zeit mühevoll und hingebend arbeitet.)

III.

Soviel zum Osten, besser gesagt zu jenem Teil des gemeinsamen europäischen Vaterlandes, der heute unter dem Diktat des unverhüllten und erklärten Ungeistes steht. Wie aber ist das bei uns? Sind solche geistfeindliche, das Denken bedrohende Tendenzen — unter diesem oder jengm Vorzeichen — nicht auch bei uns erkennbar, hier oder dort sogar schon als wirksam zu bezeichnen? Wir werfen die Frage in aller Offenheit auf. Die Antwort unseres Gegenübers erfolgt nicht in vorbereiteter phrasenhafter Formulierung. Kantorowicz hält keine liebedienerische Propagandarede für den Westen, dessen Schutz und Umwelt er freiwillig aufgesucht hat, in dessen Bezirken wir dieses Gespräch ohne Dämpfung der Stimme und scheuem Seitenblick überhaupt führen konnten. Er sucht seine Argumente mit der angestrengten Bemühtheit des echten Wissenschaftlers, er setzt seine Worte vorsichtig, aus dem Stegreif formulierend, mit einem höflich-zwischenfragenden „Nicht wahr?” des öfteren unterbrechend. Und doch sind sie es wert, festgehalten zu werden:

„Der .Sputnik’ ist als eine technisch-geistige Höchstleistung die letzte Frucht der leninistisch- stalinistischen Epoche, die bei aller unvorstellbaren Grausamkeit den Geist nicht grundsätzlich auszurotten, sondern lediglich dem Diktat zu unterstellen versuchte. (Er sagt dies mit verzweifelt paradoxer Bitterkeit.) Weder unter Ulbricht noch unter dem ihm in vieler Hinsicht ähnlichen Chruschtschow wird diese Entwicklung weitergehen können. Eine Stagnation, ein Zurücksinken ist unausweichlich. Der Geist ist unteilbar. Auch technische Erfindungen sind nur dann möglich, wenn die Gesamtheit der Intelligenz sich entfalten kann. Zu ihr gehört der Atomphysiker wie der Lyriker, der Konstrukteur wie der Philosoph. Auch der Westen ist in den letzten Wochen vor diese Entscheidung gestellt worden. Bei ‘uns hier gibt es zwar geistfeindliche Tendenzen. Aber sie bilden kein Machtsystem. Die Abwehrkräfte sind stark genug. Sie sind beispielsweise mit einem McCarthy fertiggeworden. Bei uns ist zur Mobilisierung des Geistes keine blutige Revolution notwendig wie in der östlichen Welt, deren Machthaber nur auf diesem Wege be- seitigt werden können. Bei uns genügt eine realistische, die geistigen Realitäten einbeziehende Selbstbesinnung der Verantwortlichen. Sie bahnt sich, wie wir deutlich sehen, unter dem Eindruck des .Sputniks’ vor allem in Amerika an. Sie darf nicht auf dieses eine Land beschränkt bleiben. Und noch weniger darf sie ihr Hauptaugenmerk einseitig auf das Aufholen des technischen Vorsprungs richten. Roboter mit Technikerhirn werden die Probleme nicht zu lösen vermögen. Der in den Menschen der Freien Welt latent vorhandene Energievorrat muß zur Gänze mobilisiert werden. Die kommunistische Welt hat zumindest in der deutschen Sowjetzone die Verneinung des Geistes so radikal proklamiert wie noch nie in der deutschen Geschichte. Die einzige Antwort kann nur eine ebenso radikale Bejahung des unteilbaren menschlichen Geistes bei uns sein.

Zu spät ist es keinesfalls. Die Auseinandersetzung, auf die es allein ankommt, hat jetzt erst begonnen.”

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