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War keiner da?

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Wir, die wir im Hagel von Entscheidungen blutend zusammensanken und uns nur mühselig durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts schleppten — hinein in eine dunkel verhängte Zukunft, die sich uns wenig erhellt, wenn wir nicht in sie das Licht der Zuversicht tragen, wir fragen uns oft: War keiner da, der sich von der wirtschaftlichen Blüte und äußeren Machtentfaltung Europas im 19. Jahrhundert nicht täuschen ließ, der den verblendeten Völkern das Menetekel am Tore der Zukunft wies, ja, dieses aufstieß und den Nichtsahnenden die Leichenfelder künftiger Zeiten zeigte, darüber sich drohend der Schatten der Vernichtung breitete? Stand keiner auf und suchte die Völker auf dem abschüssigen Wege aufzuhalten, der zu ihrem Untergang führt? Lebte keiner, wenn auch seine Kassandrarufe verhallten in dem Lärm der Fabriken und dem Marschtritt riesiger Heere?

Gewiß, der Warner lebten viele; doch sie wurden als abseitig und unzeitgemäß von den Mitbürgern wenig beachtet, am Rande vorwärtsdrängender Entwicklung stehengelassen, im Taumel erreichter Ziele vergessen. Einer von diesen, manche seiner Mitstreiter weit überragend, war Joseph Edmund Jörg, der große Europäer und Warner des Abendlandes, der visionär das Chaos unserer Zeit schaute. Ihm gilt unser Gedenken.

J. E. Jörg wurde 1819 im Allgäu geboren, wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, studierte; er wandte sich zuerst der Theologie zu, vertiefte sich aber zuletzt vollständig in historische

Studien. Das Jahr 1848 zog auch ihn in den Strudel des politischen Lebens, und die »allgemeine Not jener ratlosen Zeit“ machte ihn zum Politiker und Publizisten. 1852 wird ihm die Redaktion der »Historisch-politischen Blätter“ anvertraut. Die „Historisch-politischen Blätter“ waren die führende Zeitschrift des politischen Katholizismus, Schlachtenturm und Feldherrnhügel der katholischen Elite Deutschlands. Der Anstoß zu ihrer Gründung war von Wien, von dem Angehörigen des Hofbauer-Kreises K. E. J a r c k e, ausgegangen. Unter der Obsorge des Görres-Kreises wurden sie seit 1838 in München herausgegeben. Der konservative Gedanke erfuhr in ihnen seine reinste Prägung und seinen klarsten Ausdruck. Das Weltgeschehen wurde in ihrem Spiegel aufgefangen und verdichtete sich zu stärkster Prägnanz. Die katholische Welt Deutschlands orientierte sich an ihnen. Fast ein halbes Jahrhundert lang gab ihnen Jörg Plan und Form. 1865 wählt man Jörg in die bayrische Kammer der Abgeordneten. Es gelingt ihm bald, zu den Führern der „Patrioten“, die für ein föderalistisches Deutschland eintreten, gezählt zu werden. Als diese Partei die Mehrheit im Landtag gewinnt, ist Jörgs große Stunde gekommen. Er stürzt die liberale Regierung Hohenlohe und vermag für kurze Zeit auf der Bühne der großen Politik zu stehen, als er 1870 beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges für die bewaffnete Neutralität Bayerns eintritt. Erst als sich ein Teil seiner Partei abspaltet und für die Anerkennung des Schutz- und Trutzbündnisses mit Preußen stimmt, muß er den dramatischen Kampf aufgeben. Die Versailler Verträge finden in ihm einen erbitterten Gegner. Auch in Berlin, vom Wahlkreis Augsburg in den Reichstag gesandt, macht er kein Hehl aus seiner Abneigung gegen Bismarck und dessen Schöpfung, die er nur als Großpreußen bezeichnen konnte. Merkt er doch schon früh die Gefahren eines allzu persönlichen Regiments. „Wir denken mit aller Welt und mit Schrecken über die Periode eines solchen ungesunden Zustandes hinaus an den Moment, wo der persönliche Angelpunkt, an dem bei uns alles hängt, der menschlichen Vergänglichkeit seinen Tribut bezahlen und nicht mehr da sein wird. — Alles um ihn her ist verbraucht, denn nichts kann und nichts darf neben ihm auf eigenen Füßen stehen. — Es ist in weiten Kreisen außer Übung gekommen, einen eigenen politischen Verstand haben zu wollen.“ So mancher tumultarische Kulturkampftag sieht den tapferen Bayer unerschrok-ken in vorderster Linie streiten für Recht und Glauben; sem tiefes Wissen, sein scharfer politischer Verstand und seine blendende Rhetorik waren gefürchtet und geachtet. Er gehörte auch dem Vorstand des „Zentrums“ an. Trotz allem, die Macht des preußischen Erfolges ließ viele seiner

Anhänger wanken, und die anderen stieß die Mäßigung in den politischen Handlungen Jörgs ab, nicht verwunderlich in einem Europa, das mit dem gewaltigen Ausgreifen aus der Enge der Heimat und der unerhörten Entwicklung seiner Kultur zugleich in einen Radikalismus sondergleichen trieb. Als ihn nur mehr wenige verstanden, senkte er die Waffen auf dem Fechtboden der Politik, zog sich in seine „Historisch-politischen Blätter“ zurück und kämpfte verbissen weiter. Seine publizistische Lebensarbeit ist gewaltig.

Kiistallklar und messerscharf ist seine Dialektik. Dabei mißachtet er nie die Realität des politischen Ablaufes und der in ihm wirkenden Kräfte, noch war er Doktrinär oder Utopist. Von ihm strömt eine Fülle wertvoller und immer wieder aufgenommener Gedanken in das breite Bett der allgemeinen Publizistik.

Schlug Jörg in den ersten Jahrzehnten ßeines politischen Lebens gleichsam alle Themen an, die lebensmächtig die Zeit durchströmten, und so der Uberfülle seiner Gedanken Raum ließen, sich auszubreiten und zu befruchten, so schreckte ihn der schrille Mißklang von 1866, die Niederlage der Österreicher bei König-grätz, jäh auf aus den Fesseln, die ihm die Befangenheit der Zeit angelegt hatte. Er erkennt mit Grauen die Sprünge, die sich am Gewölbe des Abendlandes abzeichnen, weil der Schlußstein des europäischen Staatengefüges, Österreich, freventlich verworfen wurde. In diesem Augenblick wird er sich seiner menschheitlichen Aufgabe bewußt, Warner zu sein und Helfer, Kämpfer für ein Ziel: das Zurückfinden der Völker zur europäischen Gemeinsamkeit, gegen eine Gefahr: den wahnwitzigen Irrsinn, in einer Zeit, wo die neuen Verkehrsmittel die Völker Leib an Leib gerückt haben, sich abzuschließen in nationale Gehege, bis an die Zähne bewaffnet. Schon 1866 spricht er das entscheidende Wort von den „Vereinigten Staaten von Europa“, von einer „Magna Charta der Menschheit“. Doch der lebendige Organismus, der sie aufbauen könnte, die menschliche Gesellschaft, ist erkrankt, diese muß vorerst geheilt werden. Im sozialen Problem sieht Jörg daher die größte Frage der Zukunft. Ihre Lösung drängt. Wohl greift man zuerst noch zu geistigen Waffen, um den Staat zu reformieren, damit er die Unterdrückten rette und befreie. Aber wie lange noch, fragt er, dann werden sie die Phrase mit den Waffen vertauschen, und der seherische Blick lenkt sich nach Osten. Doch führen die Wege, die sich zur Rettung anpreisen, wirklich aus der Not? Kollektivismus? Saugt dieser die Gesellschaft auf, so verschwände damit „auch das Recht des individuellen Daseins und die Blätter der Weltgeschichte müßten in Palimpseste verwandelt werden, um darauf die Küchenrechnungen der allgemeinen Völkerbrut- und Fütterunganstalt zu schreiben“. Antisemitsmus? Dieser ist ein „vieldeutiger Begriff und deckt eine gemischte Gesellschaft“. Angewidert geht Jörg an solch bedenkliches Vermächtnis heran, „das einen welthistorischen Prozeß in Aussicht stellt“, handelt es sich doch um Gäste im Schöße der Nation. Sozialismus? Die ethische Höhe seiner abendländischen Gesinnung ließ ihn hier den internationalen Gedanken bejahen, auch wenn er der äußersten Antithesis seiner eigenen Geisteshaltung entsprang. Glaubt er doch in den „unteren Schichten“ das Zeug vorhanden zur Wiederherstellung der Gemeinsamkeit zwischen den Völkern.

Dabei trägt sich dieser gläubige Katholik mit der Hoffnung, daß dann, wenn die Menschheit wieder zusammenfindet, sich auch die tierischen Instinkte, die sie im Augenblick beseelen, zurückbilden würden und langsam ein gegenseitiges Verständnis Platz greife, eine neue Liebe dieser neuen Weltordnung entgegenkeime, der Schutt weggeräumt sei, um das Christentum zu neuer Kraft und Blüte erstehen zu lasseh. Denn die Gesellschaft muß sich selbst heilen.

Als die Weltkonkurrenz des Imperialismus zum Weltneid führt, erlischt seine letzte Hoffnung. „Ringsum in der Welt bewegt sich der Acheron täglich bedenklicher, alle Zeichen deuten auf eine Sündflut; nicht von Wasser, sondern von Blut!“ Hört ihn niemand, den Aufschrei eines Zerbrochenen und Verzweifelten? Totentanz! „Unvermeidlich ist ja die endliche Entscheidung durch die Waffen und die furchtbaren Massen ihrer Träger, wie solche selbst die finsterste Zeit der Völkerwanderung nicht gesehen hat. Hoffnungslos jagen die Gedanken dahin. „Keine Regierung kennt ein anderes Mittel gegen die Gefahr als die tägliche Warnung: Rührt nicht daran! — Das ist die wohlfeile Weisheit, mit der man in den Tag lebt, und das nennt mnn den Frieden.“ Ausweglos irren seine Blicke nach dem Balkan, wo „das Pulverfaß steht nach wie vor; dort wird der Funke die Explosion entzünden,, die dem unhaltbaren Provisorium in den Machtstellungen des Kontinents ein Ende machen wird“. Und den Schatten des slawischen Kolosses sieht er drohend über den Kontinent sich breiten. Schon 1854 erblickt Jörg in Rußland das kommende Heerlager des Kommunismus. Vorbereitet ist dort der „Boden zur Explosion aus zahllosen Minengängen“. Man dürfe dieses Land nicht aus den Augen lassen, denn es steht im Begriff, sich der Weltherrschaft an der Spitze der slawischen Nationen zu bemächtigen. Unvermeidlich müsse dann früher oder später ein „Zusammenstoß zwischen der germanischen und slawischen Welt“ erfolgen. Preußen gehöre aber zu den Mächten der untergehenden Weltperiode, auch sein Weg in die Kolonien ist ein Irrweg, weil es keine Weltmacht ist. Diese könnte es nur werden, wenn „ihr der Kopf in Polen zurechtgesetzt wird nach der aufgehenden Sonne“. Doch wollte sich Deutschland so „aufblähen, so könnte es leicht auch um diexgroße Kontinentalmacht geschehen sein. Es könnte unversehens ein allgemeines Interesse erwachen... es wieder kleiner zu machen“. Und der greise Seher rief an der Schwelle zum neuen Jahrhundert seinem Volke zu, das nichtsahnend im Rausch der wirtschaftlichen Entwicklung den Weg in die Welt ging: „So droht nun das 20. Jahrhundert dem Slawentum zu gehören, und das Deutschtum mit Verlust überall das Nachsehen zu haben!“

Einen Schritt ins neue Jahrhundert darf J. E. Jörg noch gehen. Am 18. November 1901 stirbt er auf der Burg Trausnitz, wo er ein von Jahr zu Jahr zurückgezogeneres Einsiedlerdasein geführt hatte. Ein Leben, reich an bitteren Erfahrungen, wie es dem beschieden ist, der nicht dem Zeitgeist und den vergänglichen Schlagwörtern der Epoche opfert, arm an äußeren Ehren, geadelt durch die selbstlos schlichte Art der Betätigung und durch die Einheit der es beseelenden Weltanschauung, hat vor 50 Jahren, am 18. November 1901, sein Ende gefunden.

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