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Was ist denn das: ,Sozialistischer Realismus’?

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EINEM CHEMIKER der Herkunft nach, nämlich Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin (1893 bis 1953), einem Bauingenieur, der Sergej Mikhailowitsch Eisenstein (1898 bis 1948) hieß, und einem Lehrer namens Alexander Dowsehenko (1894 bis 1956) verdankt der sowjetische Film wesentlich seinen einheimischen Ruhm und seine internationale Geltung drei Persönlichkeiten, gegensätzlich im Charakter, in Werk und Stil erheblich unterschieden: Eisenstein z. B. ein Ideologe, Aktivist, Agitator, von Themen beherrscht, nicht von Sujets, der Masse, nicht dem Individuum zu- gewendet, intellektuell, rational, ein eiskalter Tendenzler mit dem Hang zuiji Monumentalen und zum Pathos; Pudowkin dagegen ein Psychologe, Atmosphäriker, „Lyriker”, literarisch orientiert, am einzelnen und den zwischenmenschlichen Beziehungen interessiert, emotional, „romantisch”, nicht ohne Wärme (wenngleich nach außen hin verschlossen, im Umgang zurückhaltend — er wich beispielsweise den Photographen aus, während Eisenstein vor ihnen stets Auftritte zelebrierte); der Ukrainer Dowsehenko schließlich, behäbig, von einem erstaunlichen epischen Atem, gefühlvoll, mitunter sentimental, der Allegoriker, der Zauberer der Stimmungen, einer jener, die, wie der russische Kritiker Belinskij im 19. Jahrhundert sagte, in der Prosa des Lebens die Poesie entdecken der Dichter also unter den sowjetischen Regisseuren.

Doch Realisten sind sie alle drei und die anderen dazu, die noch genannt werden müssen. Zuweilen verbeißen sie sich wie Wölfe in die Wirklichkeit oder, was sie dafür halten, und lassen mit der Kraft und Zähigkeit von Fanatikern nicht mehr davon ab. Sie werden, kraß dabei, kaum aber brutal. Kompromisse kennen sie nicht; sie sind radikal. Der Film ist ihnen wohl eine Kunst, aber zugleich auch ein Mittel der Agitation, der Demonstration der bolschewistischen Doktrin. Lenin hat es so gelehrt; er hat die Bedeutung des Lichtspiels als die „wichtigste unter den Künsten” in seiner Wirkung auf die Massen erkannt — freilich spät erst, als ihn und die anderen Parteiführer der Erfolg verblüffte, den „Panzerkreuzer Potemkin”, „Mutter”, „Sturm über Asien” und andere Filme beim Publikum, zumal beim außersowjetischen, erzielten.

URSPRÜNGLICH WANDTE W. I. LENIN seine Aufmerksamkeit mehr der Kinematographie als Dokumentation zu: „Bei der Schaffung eines neuen, von kommunistischen Ideen getragenen Films, der das sowjetische Leben wiedergibt, muß man mit der Chronik beginnen.” Faktographie also, Filmtatsachenberichte über die sogenannte „neue Wirklichkeit”, Lichtspiel, das registriert, aber auch Propaganda betreibt — das war die anfänglich dem sowjetischen Film zugewiesene Aufgabe und ist sie im Grunde auch heute noch.

Indessen gab es zu Beginn nicht allein die „Kinoki”, die „orthodoxen” Dokumentarfilmer hauptsächlich um Dsiga Wertow — es gab auch schon „Abweichler”, „Konstruktivisten”, „Formalisten”, wie etwa die Gruppe des von D. W. Griffith beeinflußten Lew K u 1 e s c h o w. Und eben dieser — tolerierte — Kreis hat durch seine praktische Arbeit wie theoretische Grundlegung die Voraussetzungen für jene Entwicklung geschaffen, die den sowjetischen Film alsbald zu einer ungeahnten künstlerischen Höhe führen sollte. Ohne sie und ihre Einsichten man sah z. B. die Montage als das wichtigste filmische Gestaltungsmittel an — wäre vielleicht noch der geniale Eisenstein, aber sonst kaum einer selbst der bedeutendsten Filmschaffenden der zwanziger und dreißiger Jahre denkbar. Was durch das Verdienst dieser wahren Rhetoriker der von ihnen zwar nicht in vollem Umfang entdeckten, doch meisterhaft beherrschten „Filmsprache” der revolutionäre Russenfilm leistete, ist, von Eisensteins „Streik” (1925) bis zu seiner „Generallinie” (1929), von Pudowkins „Mutter” (1926) bis zu seinem „Sturm über Asien” (1929) und vielem anderem, in die Geschichte der Kinematographie eingegangen.

DER GLANZVOLLEN STUMMFiLMEPOCHE folgte die Aera der „tönenden Leinwand” und mit ihr nicht nur technisch, sondern auch ideologisch und in der Rückwirkung, stilistisch etwas Nelies, das zunächst mit einem erheblichen künstlerischen Niedergang verbunden war. Der sogenannte „kritische Realismus”, gekennzeichnet durch seine doch mehr negativ-subversiven, antibürgerlichen Züge als durch eine positivaufbauende, sozialistische Tendenz, Vwurde 1932 abgelöst von dem „sozialistischen Realismus”. Was ist das?

Einer Definition Pudowkins zufolge stellt diese Richtung eine volksnahe, gesellschaftsbildende Wirklichkeitskunst dar. Im Grunde ist sie jedoch gar nicht realistisch, vielmehr irrealistisch, wohlwollend formuliert, idealistisch, letztlich utopistisch. Sie stellt nämlich nicht dar, was ist, sondern vor, was einmal sein wird, was nach den „objektiven” Entwicklungsgesetzen des Marxismus-Leninismus’ die Zukunft des kommunistischen (nicht der bislang noch existenten und der ersten gegenüber minderwertigen sozialistischen) Gesellschaftsordnung bringt. Um den Sachverhalt zu exemplifizieren: nicht der sich gegenwärtig unter der Last der Uebersollerfül- Iung abschindende Arbeiter entspricht dem Menschenbild des „sozialistischen Realismus”, sondern der kraftstrotzende, energisch und zielbewußt in eine bessere Zeit blickende, die Partei und ihre Führung hingebungsvoll liebende Aktivist. Ihn gibt es praktisch nicht, aber es wird ihn nach bolschewistischer Ueberzeugung in dem neuen Sozialwesen als den vorherrschenden Typ geben. Die Kunst und damit auch der Film ist beauftragt, ihn als einen idealen Typus zu propagieren.

UNTER DEM KRITISCHEN, BESSER ANKLAGERISCHEN REALISMUS - er wandte’ sich gegen das zaristische Feudalsystem, die westlichen „Interventionisten” usw. — wurde viel Ueberzeugendes zum Ausdruck gebracht; nunmehr, im Zeichen des „sozialistischen Realismus”, erlahmte der Sowjetfilm auffallend, wurde müde, farblos und, das Schlimmste vielleicht, lebensunwahr. Der Ton, das Danaergeschenk der Technik an das Lichtspiel, vollendete die künstlerische Katastrophe; das bildfeindliche Wort dominierte in Form der Parole, der Parteiphrase; zu dem primitiven Leitartikelstil trat weiterhin abwertend eine simplifizierende Schwarzweiß-Zeichnung der Charaktere und der Handlung.

Immerhin begegnen in den dreißiger Jahren vereinzelt außergewöhnliche Werke — zumeist von jüngeren Regisseuren, die nach und nach die „alte Garde” ablösten, so etwa Friedrich Ermler, Sergej Gerassimow, Mikhail Romm, Jossif Heifitz, Alexander Ptuschko, Ursprünglich ein qualifizierter Puppen- und Märchenfilmer, sodann Grigorij Alexandrow, der Gestalter von Komödien und „Musicals” ä la sovietique, Mark Donskoj, der Gorkis Autobiographie verfilmte, Wassilij Petrow, von dem der zweiteilige „Peter der Große” stammt, und die beiden Wassiljew, die den für die behandelte Zeit bedeutendsten Film schufen: „Tschapajew” (1934) um einen legendären Revolutionsgeneral, wohl „sozialistisch-realistisch”, aber doch auch ,’,romantisch”, photographisch hervorragend, vorzüglich interpretiert.

ES FOLGT DIE DRITTE PERIODE des sowjetischen Films im „Großen vaterländischen Krieg” von 1941 bis 1945, der Zeit des „herrlichen Sowjetpatriotismus”, der sich auch in jedem Meter Zelluloid dokumentiert, forciert, hektisch — mag nun die Front oder das partisanenerfüllte Hinterland behandelt sein. Auch die Geschichte wird bemüht (Petrow dreht beispielsweise einen Film „Kutusow” über den Feldherrn, der 1812 Napoleon besiegte). Was beispielhaft ist für Pflichtbewußtsein, Opferbereitschaft, Tapferkeit, Treue usw., erscheint jetzt auf der Leinwand. Berstend vor nationalistischer Aufwallung soll der Film den Kampfgeist stärken, der Niederwerfung des faschistischen Gegners dienen.

NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG tritt der Sowjetfilm, zunächst unter den Anforderungen des IV. Fünfjahrplanes (1946 bis 1950), in die vierte Phase, die etwa mit dem Tod Stalins endet. Trotz der Waffenruhe schießt es in, den Ateliers noch eine geraume Zeit weiter. Bei den politischen Sujets vollzieht sich freilich eine Wendung: war zuvor der Faschismus Gegenstand aller Angriffe, so ist es nunmehr die „imperialistische Reaktion” vorzugsweise der Amerikaner. Romms „Russische Frage” (über Machenschaften der US-Presse) oder Alexan- drows „Begegnung an der Elbe” (über Praktiken der US-Besatzung) sind hierfür exemplarisch.

Daneben gibt es in der gewohnten Weise Historisches und Biographisches. Dowsehenko etwa dreht einen Film „Die Welt soll blühen” über den sowjetischen Biologen Mitschurin, Pudowkin einen „Admiral Nachimow”, Eisen- steiÄ einen zweiten Teil von „Iwan der Schreckliche” (Teil I von 1944). Die beiden letzten mißfallen mit ihren Arbeiten wieder einmal und werden vom Zentralkomitee der KPdSU gerüffelt.. Nun, Pudowkin modelt sein Admiralsporträt um; Eisenstein aber rührt keinen Finger an „Iwan” — erst in unseren Tagen läuft der zweite Teil in Rußland und im Ausland — als Torso …

Die Gegenwart erscheint in dieser Aera aufbaufreudig wie schon nach dem ersten Weltkrieg, doch nicht mehr so ganz unproblematisch, so grenzenlos optimistisch: gegen Ende treten sogar schwierige Ehefragen in Erscheinung (zum Beispiel in Pudowkins „Rückkehr des Wassilij Bortnikow” oder in Pyrjews „Beweis der Treue”). Viele Jugendthemen werden behandelt. Komödiantisch geben sich die „Tigerdompteuse” und „Treue Freunde” — diese überraschen durch feine Ironie und herzhafte Selbstkritik. Musik und Musiker, Opern und Ballett haben von jetzt an bis in diese Tage eine große Zeit. Mussorgskij, Rimskij-Körssakow, Glinka werden auf der Leinwand lebendig; ihre Opern „Sadko” und „Boris Godunow” erklingen von dort herab. Grigorj Rappoport dreht abendfüllend die „Meister des russischen Balletts”, Lew Arn- schtam „Romeo und Julia” nach Shakespeare mit der Musik von Prokofieff.

EINE KRITISCHE WÜRDIGUNG DES GEGENWÄRTIGEN SOWJETFILMS ist kaum möglich; man kennt zuwenig davon. Auf internationalen Festivals allerdings ließ in den letzten Jahren einiges aufhorchen.

Formal bieten diese Filme nichts Ungewöhnliches. Technisch einwandfrei, farblich durchweg gediegen, indessen optisch und dem Schnitt nach weniger bemüht, erscheint die Behandlung der Stoffe dramatischer von innen her, „psychologischer”. Der Mensch, nicht als Massenprodukt, als ökonomischer Faktor, vielmehr als Individuum, als einzelner, der „reprivatisiert” (wie er das auch im sowjetischen Leben von heute tut), rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt des filmischen Geschehens, wobei das Kollektiv als Folie im Hintergrund bleibt. Ob die Abkehr vom Stalinismus auf dem XX. Parteitag weitere Nachwirkungen hat, etwa die Herausbildung eines „menschlichen Sozialismus” ermöglicht — die seit langen) wieder einmal künstlerisch relevanten Streifen „Wenn die Kraniche ziehen” und, „Das Haus, in dem ich wohne” deuten in diese Richtung —, das bleibt abzuwarten.

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