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WAS IST DIE FREUDE?

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Es war damals, als ich meinem Vater noch keine besonderen Schwierigkeiten bereitete, wenn er mir auf einem Ausflug erklärte, wir müßten zu Fuß nach Hause zurückkehren. Nicht, daß wir keinen Zug mehr gehabt hätten oder sonst eine Fahrgelegenheit, es mangelte uns einfach an dem Fahrgeld, das notwendig war. Vater sagte freilich, der Fahrer des Lastautos, der ihm versprochen hatte, uns unentgeltlich mitzunehmen, habe sein Wort nicht gehalten, denn wir konnten ihn nicht versäumt haben. Aber ich weiß nicht, ob es je einen Fahrer gegeben hat, der mit meinem Vater ausgemacht hatte, daß er uns nach Hause mitnehmen würde. Wir waren auf Beeren- und Schwammertsuche gewesen, eine ziemliche Strecke von der nächsten Eisenbahnstation entfernt, und hatten zirka zehn bis zwölf Kilometer zurückzulegen. Ich war vier oder fünf Jahre alt und bereits den ganzen Tag auf den Beinen gewesen.

Nun weiß ich heute nicht mehr zu sagen, wie sich die Wanderung damals abspielte, ob wir ein Gespräch führten oder nicht. Vater grübelte wohl über seine beengte Situation. Er wäre ja lieber in einer Kalesche gefahren und hätte ruhig einen Bauern anspannen lassen, wenn er gewußt hätte, in absehbarer Zeit wenigstens den Fahrpreis bezahlen zu können. Aber das wagte er nicht zu denken. Ich zockelte neben ihm her, grübelte vielleicht ebenso über eine Zurechtweisung, die ich erhalten hatte und die mich quälte. Ich war wie ein Blinder unter den Bäumen des Waldes gegangen, hatte da einen Herrenpilz niedergetreten, dort ein Stämmlein Erdbeeren. Wie kam es, daß ich so wenig wachsam war, während Vater von weitem schon roch, wo es etwas zu finden gab. Dann drehte er sich gleich den Pilz fürsorglich und fachmännisch aus seinem Myzelium, er rief mich vorerst zu sich heran und sagte: „Da schau dir das an. So sieht das aus, was einem Freude macht! Ist das nicht ein prächtiger Bursch, so kräftig und noch von Schnecken unberührt.“ Ich sah auf den schönen Hut des Pilzes, er war schwarzbraun wie Bitterschokolade. „Ja“, entgegnete ich kleinlaut und war betrübt, daß ich ihn nicht gefunden hatte, diesen Gegenstand der Freude. Bei solchen Gedanken mußte ich alle Müdigkeit vergessen haben, denn wir kamen noch knapp vor Einbruch der Nacht nach Hause. Der Marsch war eine fast unglaubliche Leistung gewesen und mein Vater äußerte seine besondere Zufriedenheit über meine Tüchtigkeit, genauso wie er mich vorhin wegen meiner Ungeschicklichkeit getadelt hatte. Ich habe diese Szene während meines bisherigen Lebens nicht vergessen. Mehr als fünfzig Jahre sind seither vergangen. Dieses Lob und dieser Tadel haben mich vielleicht sogar bestimmt, des öfteren darüber nachzudenken, bis ich zur Erkenntnis gelangte, daß mein Vater gar nicht recht gehabt haben mochte. Umsichtigkeit und Wachsamkeit warfen nicht alles, und die Freude, die er meinte, schien mir zu materialistisch. Nur, daß er sie roch, die Freude, bewunderte ich, und was die Ausdauer betraf, die er lobte, so versuchte ich später, sie noch zu steigern. Was blieb mir übrig? Das Leben verschenkte nichts auf kurzen Wegen. Ich fand immer häufiger am Ende der langen staubigen Straße die Freude, meine Freude, die nur wenig mit einem realen, nützlichen Gegenstand gemein hatte und nicht einmal symbolisch mit einem strammen Burschen von Herrenpilz zu vergleichen war. Ohne die weiten Strecken überwindende Ausdauer hätte ich sie nicht gefunden.

Aber wie soll ich dies meinem Vater erklären, an dessen Krankenbett ich jetzt sitze und versuche, gemeinsame Stunden wachzurufen, um ihn in seiner trostlosen Lage zu erheitern. Er ist verzweifelt, obwohl er nicht verzweifeln müßte, wenn er nicht bei seiner Freude stehengeblieben wäre und sich um die verborgene seines Sohnes bemüht hätte. Er sieht nur den Tod näherkommen, Tag um Tag, obwohl er sich sagen müßte, auch er habe einen langen Weg hinter sich und werde noch etwas Ausdauer brauchen, ihm zu begegnen.

Was gibt man einem Menschen, der nicht gelernt hat, an Ungreifbarem und Unwägbarem sich zu freuen, vor dem Ende? Ist es möglich, daß er am Ende einer Lebensreise kaum die Eisenbahn oder die Kutsche bezahlen kann, die ihn nach Hause bringt? Und er ist unsäglich müde. Und ich, durch seinen einstigen Unterricht gleichsam, durch Lob und Tadel erfahren, gewandelt, nehme ihn auf, von der Straße weg in meine Kutsche, die Narrenkutsche, und versuche, ihn mit den Scherzen meiner mir verbliebenen Phantasie zu erheitern, so lange, bis wir ankommen. Aber er hat nur selten noch die Kraft zu lächeln und verkennt meine Absicht.

„Du lachst mich aus“, sagt er. „Nein“, antworte ich, „ich gebe dir nur zurück, was du mich einst gelehrt hast, ohne daß du es beabsichtigtest, damals, als wir von St. Egyden nach Wiener Neustadt marschierten und es schon fast Nacht war. Aber die Sterne brannten. Jetzt erinnere ich mich, daß ich sie gesehen habe. Aber du hattest kein Auge dafür. Und als ich dich aufmerksam machte, warst du ungeduldig, weil du schon ankommen wolltest. Und nun versuche ich, dich die Freude zu lehren, eine andere als du mir gezeigt hast in dem Föhrenwald von St. Egyden, daß du noch ein Gutes mitbringen mögest, ein Lächeln, das Leuchten eines Sterns in deinen Augen, bevor du, von tausend Ängsten und zugleich verhaltener Ungeduld gequält, ankommst an dem Ort himmlischer Gelassenheit. Traurig werde ich dir die Augen küssen, weil sie sich nicht bemühen, mehr zu sehen, als sie je gesehen haben, wachsam zu sein nach innen.

Aber ich bete für dich — und sei’s drum, jemand könnte wetten, nach den ersten zaghaften Schritten in der neuen Welt werden deine müden Beine wieder laufen können, weil so viel .stramme Burschen“ dastehen werden mit schokoladebraunen, breiten Hüten, und du wirst sicher sein, daß sie doch die richtige Freude waren.“

Was aber werden wir dereinst erblicken, die wir Zurückbleiben? Wessen Lächeln wird uns begleiten, bevor wir ankommen?

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