6694232-1962_51_13.jpg
Digital In Arbeit

WAS IST FÜR MICH DER MENSCH?

Werbung
Werbung
Werbung

Drei unveröffentlichte Briefe des Dichters

Die folgenden Briefe Boris Pasternaks sind an einen Wiener Journalisten gerichtet. Ihre ungekürzte Wiedergabe ist jetzt erst, nach dem Tod des großen russischen Erzählers, Lyrikers und Übersetzers, möglich. Wir drucken diese drei in deutscher Sprache abgefaßten Briefe wörtlich ab — ohne die Meinen stilistischen und grammatikalischen Unebenheiten des Originals zu glätten. Die Redaktion der „Furche“

Den 24. September 1959

Sehr geehrter Herr Doktor, ich habe kein Recht für den Ausland eigens beabsichtigte und hier noch unveröffentlichte Aufsätze dem auswärtigen Drucke anheimzustellen. Ich pflege aber den Personen, denen es daran liegt, einen Gedanken über etwas von mir zu haben, Privatbriefe zu schreiben, die den Gegenstand berühren und den gewünschten Gesichtspunkt enthalten, worüber dann die Empfänger als einen, dem Briefe entnommenen Zitat frei und beliebig verfügen.

Ich habe schon den Gedanken aufgegeben, Ihrer Bitte nachzukommen, wegen der Kürze der Frist und der vieler Verwicklungen meiner Lage, obwohl mir Ihr Vorschlag verlockend scheint (ich habe mir sogleich vorgestellt wieviele von den Befragten die Umfrage mit einer Gegenfrage erwidern werden: was ist der Mensch nicht?) — ich habe schon auf die Möglichkeit meiner Beteiligung verzichtet, als mich Ihre Drahtaufforderung traf. Das ist Gottes Fügung. Ich will irgendwas für sie entwerfen. Ich weide es zwar nicht morgen und nicht übermorgen tun, aber in den nächsten Tagen will ich es wagen und versuchen.

Die fatale Terminenge Mird also darüber entscheiden, ob es gehen wird oder nicht wird. Die Schrift aber werden Sie (wenn noch dazu die Post es will) von mir in einer absehbaren Nähe erhalten.

Ihr B. Pasternak

Den 1. Oktober 1959

Sehr geehrter Herr,

Ihre Frage: „Was ist der Mensch“, werde ich meinen Kräften und Bestrebungen gemäß, in eine bescheidenere und einseitigere verwandeln müssen, nämlich in die — was der Mensch für mich ist, was er für mich bedeutet.

Nun ich werde mich nicht vermessen zu behaupten, daß das Geheimnis der Natur für mich gleichgültig sei, daß ich das Schauspiel des Universums meiner Lebtage verpaßt habe, daß das Bild des Weltalls, den Sternhimmel der Nacht ich nie zu merken Gelegenheit gehabt hätte.

Aber Sein ist geschichtliches Sein für mich, Mensch ist nicht Fleckensiedler. Zeiten, Jahrhunderte sind Gegende, Länder. Räume für ihn. Er ist Zeitenbewohner.

Ich muß präzisieren. Möge man mich nicht als Menschenverehrer verstehen. Im Gegenteil. Ich bin Feind des Makroanthro-pismus. Das Hohle der Geistesleere steckt immer hinter diesen rhetorischen Stelzen, einerlei ob man den Mensch positiv besänge („Das Wort Mensch klingt stolz“) oder für die Mystik der Herrenmoral schwärme. In beiden Fällen führt die Menschenvergötterung zu totalitären Lebensverelendung, zur Unmenschlichkeit. Aber kehren wir zu unserem Gegenstand zurück.

Der Mensch ist dramatisch. Er ist Held der Handlung, die „Geschichte“, düe „historische Existenz“ heißt. Was ist Kultur (ich mag das dünkelhaft klingende intelligente Wort nicht), fragte mich ein schwedischer Besucher, das Gespräch ging englisch vor sich. Kultur ist fruchtbare Existenz. Die Bestimmung genügt. Lassen Sie den Menschen sich fruchtbar in den Jahrhunderten verändern, Städte, Staatswesen, Kunstwerke werden als natürliche Folgen von sich selbst kommen, ebenso wie Obst auf einem Obstbaume reift. Man kann weitergehen. Was ist Geschichtsbeschreibung? Sie ist Ernteinventur, Folgenverzeichnis, Eintragung der Lebensergebnisse.

Der Mensch ist wahr und wirklich wenn er tüchtig ist, wenn er Handwerker, Bauer oder ein großer, unvergeßlich großer Künstler ist oder ein schöpferischer Gelehrter, ein Wahrheitenentdecker ...

Manche Führer der Sozialdemokratie einerseits, Nietzsche anderseits wollten Dichter oder Musiker, Komponisten werden und litten am Mißerfolg. Da wurden sie kritisch, weltenstürme-risch, wütend. In ihnen polarisiert sich sozusagen der unfruchtbare Teil der intellektuellen europäischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende. Diese meinten, nahmen an, beanspruchten. Alles ist hier Schein und Mutmaßung. Welcher Gegensatz zu Goethe und Wagner, zum Beispiel, um deutsche Fälle anzuführen, die selbst verkörperte riesige Tatsachen waren, voll von Dasein und Sieg, deren jede Spur offenbar und greifbar bleibt und zu leben fortfährt.'

Ist es nicht zu dumm und frech? Wollen Sie was daraus machen?

Vielleicht lassen wir den Absatz über dlie Soz-dem. weg? Ist es nicht zu leichtsinnig und grob? Und enttäuscht und empört nicht das Ganze durch seine Unzulänglichkeit im Vergleich mit der Größe der Frage: Was ist der Mensch?

Ihr

B. Pasternak

Lieber Herr,

Den 2. Oktober 1959 gestern habe ich Ihnen den versprochenen Brief abgesandt. Da Sie die Güte hatten, mir zweimal zu drahten, wollen Sie nicht so liebenswürdig sein und mich wieder telegraphisch benachrichtigen, ob der Brief angelangt und ob er, ohne mich dadurch blamieren zu lassen, überhaupt für Ihre Ziele brauchbar sei und zur Veröffentlichung tauge?

Was ich hier noch hinzufügen will, wird unsere privat philosophische Plauderei bleiben. Es ist unratsam das gestrige Strittige und Leichtfertige durch immer neue Komplikationen zu erschweren.

Sonst möchte ich das Gesagte solchergestalt ergänzen. Der Mensch erreicht sein Größtes, wenn er, sein leibliches Selbst, sein Leben, seine Betätigung Musterbegriff, Symbol wird. Gäbe es auch nicht andere Gründe für den unbedineten Wert des Einzelnen, der Persönlichkeit, hätte es des Gesagten genügt (über das symbolische Wesen des Helden und des Heldenideals) um diesen höchsten Wert zu begründen. Jeder Mensch, jeder Einzelne ist eine Seltenheit und eine Einzigkeit. Weil sein Gewissen eine Welt bildet. Weil diese Welt in der Einheit der Idee, im Symbol sich vollendet und zum Abschluß bringt.

Das wußten die Griechen, das verstand das Alte Testament. Daß aber das ein Mysterium der Selbstaufopferung ist, hat das Neue verstärkt.

Als ich den ersten Blick auf den Gegenstand ihrer Frage warf, hoffte ich in dieser Beziehung Nietzsches und seiner Gedankenwelt würdigend gedenken zu können. Aber wieder hat mich das alte Mißverständnis abgestoßen. Sein Antichristentum ist doch Evangelienausbeutung. Sieht er denn nicht, woher er seinen Übermenschen schöpft? So blind kann nur ein völliges Dilettantentum, ein Dilettantentum in allem, sein. Und warum verstand das alles der ärmere, der weniger belesene und gebildete Sören Kierkegaard?

Schließlich können Sie auch diesem Briefe entlehnen, , was Ihnen beliebt und paßt.

Ihr

B. Pasternak

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung