"... was Lieder bedeuten"

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Das deutsche Lied im 20. Jahrhundert ist ohne ihn undenkbar, als Opernsänger ist er unvergesslich und als Dirigent noch immer tätig: Dietrich Fischer-Dieskau. Im furche-Gespräch geht es um die Zukunft der Lied- Tradition, das moderne Regietheater und gravierende Veränderungen im Musikbetrieb.

Die Furche: Worin bestehen Faszination und Mühe eines Sängers?

Dietrich Fischer-Dieskau: Die Mühe jedes Interpreten beginnt damit, dass er es auf sich nimmt, täglich aufs neue die Konzentration herzustellen, die ihn in die Lage versetzt, sich ein Kunstwerk zu eigen zu machen. Das geht Hand und Hand mit dem Lernvorgang, einer weiteren Konzentrationsübung, bei der sich, wenn man Glück hat, bereits herausstellt, in welcher stilistischen Richtung man arbeiten wird. Abenteuerlich wird es, wenn man eine Partie wie Aribert Reimanns Lear lernt und noch keine Ahnung hat, wie das klingen wird, und nicht hören kann, wie das Orchester in Vierteltönen begleitet, um nur ein Beispiel zu sagen, man also praktisch häufig genau neben dem erwarteten Ton singt, dann ist das schon eine Zumutung, die erst einmal bewältigt werden will. Aber alle Mühe ist wie weggewischt, wenn sich das Gefühl einstellt, die Aufgabe erfüllt zu haben. Es ist so etwas wie der Kampf mit dem Engel. Gelingt es, den Engel zu besiegen, kann man einen Moment lang glauben, selbst der Engel zu sein.

Die Furche: Sie kamen 1947 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in das zerstörte Berlin zurück, und noch im selben Jahr sendete rias Berlin die ersten Lied-Aufnahmen - darunter schon Schuberts "Winterreise" - und 1948 standen Sie als Marquis Posa in Verdis "Don Carlos" auf der Bühne der Städtischen Oper Berlin: Ein kometenhafter Aufstieg, kann man sagen, hatte begonnen. Wie haben Sie das als 22-Jähriger empfunden?

Fischer-Dieskau: Ich habe überhaupt nicht an Einstieg, Aufstieg, Karriere oder so etwas gedacht. Ich war nur mit der Sache beschäftigt, und wenn es klappte, war es wunderbar, wenn nicht, musste weiter daran gearbeitet werden. Natürlich hatte ich riesengroßes Glück. Denn ich kam in die abgesperrte Stadt Berlin, die vom Westen getrennt war. Während der Blockade durch die Russen habe ich an der Städtischen Oper angefangen, und es war überhaupt nur ein winziger Bruchteil des Publikums in Deutschland, der uns damals in der "Carlos"-Aufführung und vielen anderen Opernproduktionen gehört und gesehen hat. Ich glaube, auch Ferenc Fricsays Erfolg hatte sehr viel damit zu tun, dass er damals nicht gleich international Karriere gemacht hat als Dirigent, sondern konzentriert auf diesen Punkt Berlin angefangen hat. Mir ging es ähnlich.

Die Furche: Was hat sich seit damals im Musikbetrieb verändert?

Fischer-Dieskau: Eine Menge! Wenn ich nur daran denke, wie es wäre, wenn ich heute anfinge! Dann hätte ich die Konkurrenz von, sagen wir mal, 100 Sängern mehr zu bestehen als damals. Ich war ja, etwas pointiert ausgedrückt, allein auf weiter Flur. Vier Jahre nach mir kam Hermann Prey, in Frankreich gab es Gérard Souzay und Charles Panzéra und in England gar keinen, in meinem Stimmfach jedenfalls nicht oder ich wusste es nicht. Jedenfalls kam ich in eine Ausnahmesituation. Wenn aber rechts drei und links drei weitere Anwärter stehen, hat man es natürlich schwerer. Das ist die Situation, die junge Sänger heute antreffen.

Die Furche: Was hat Ihren Weg geprägt? Gab es Zeitströmungen, denen Sie sich widersetzt haben?

Fischer-Dieskau: Eine Widersetzungstendenz schälte sich eigentlich erst in den letzten Jahren meiner Bühnentätigkeit heraus, als die Inszenierungen anfingen, wirklich selbstherrlich zu werden und die Stücke nicht mehr im Vordergrund standen. Die Musik hat sich daneben zwar behaupten können, aber die musikalische Wiedergabe leidet, wenn die Bühne nicht mitzieht, wenn die Musik für die Bühne keinen Rolle spielt.

Und was die Einflüsse angeht, die sind massenhaft. Ich habe ja auch immer auf das Dirigieren hingearbeitet, und da flossen mir die Erfahrungen geradenwegs zu, zumal als Sänger, da ich mit den größten Dirigenten der Zeit zusammenarbeiten durfte. Ich habe gleich bei meinem ersten Englandbesuch Sir Thomas Beecham mir gegenüber gehabt und gesehen, wie er probierte und arbeitete, wie er am Klavier saß und spielte und so weiter. Auch Furtwängler begegnete ich früh und lernte von ihm. Mit ihm als Begleiter am Klavier habe ich in Salzburg angefangen.

Die Furche: Die musikalische Moderne hat Ihren künstlerischen Lebensweg begleitet. Mat hat den Eindruck, Sie haben die zeitgenössische Musik geradezu gesucht.

Fischer-Dieskau: Selbst bei großem Repertoire dessen, was man kennt und kann und singt, besteht ein Bedürfnis danach, etwas aufzuführen, was man noch nicht kennt, was man noch nicht gemacht hat. Ich verspürte bei solchen echten Premieren immer ein angenehmes Prickeln: Ist das nun möglich im Klang oder nicht? Wie wird es das Publikum aufnehmen, wird es mitgehen oder protestiert es? Denn das ist ja immer möglich, ist mir auch passiert, etwa bei Kreneks Spätlese kam es zu dem einzigen großen Buhkonzert, das ich erlebt habe. Mit diesem Stück Musik waren die Leute nicht einverstanden. Das wollten sie von mir nicht hören und wollten es von Krenek nicht hören.

Die Furche: Apropos Komponisten. Wenn ein Komponist, was ja oft genug vorkam, etwas für Sie geschrieben hat, konnten Sie Einfluss nehmen auf die Komposition?

Fischer-Dieskau: Gar nicht. Wollte ich auch gar nicht. Arthur Schnabel hat einmal so schön gesagt: "Ich spiele nur Musik, die ich nicht kann. Ich hangele mich gern empor an Dingen, die zu schwer für mich sind. Das spiele ich besonders gerne." So ging es mir beim Singen auch. Und es hat sich in jedem neuen Stück ergeben, dass es Stellen gab, die scheinbar außerhalb meiner Möglichkeiten lagen. Danach zu streben, diese Dinge irgendwie in den Griff zu kriegen, sei es durch Tricks, sei es durch wirkliches Training der Stimme, das gefiel mir.

Die Furche: Seit den 80er Jahren leiten Sie regelmäßig Meisterkurse für junge Sänger, nachdem Sie lange gedrängt wurden zu unterrichten.

Fischer-Dieskau: Meisterkurse sind eigentlich etwas anderes als Gesangsunterricht. Die öffentlichen Meisterkurse haben mehr oder weniger den Sinn, zu bewahren, was bewahrenswert ist, dass die Menschen im Bewusstsein behalten, wie Lieder gesungen werden, wie man sie sich erarbeitet und was sie eigentlich bedeuten. Es scheint mir das Wichtigste überhaupt zu sein, dass die jungen Leute weitermachen. Sonst sind wir ja am Ende.

Das Gespräch führte Hans Neunzig.

"the greatest living liedersaenger" ("Time")

Für seinen Vorfahren, den sächsischen Kammerherrn von Dieskau, schrieb Bach 1742 seine "Bauernkantate", er selbst erhielt früh Klavier- und Gesangsunterricht in seiner Heimatstadt Berlin: Dietrich Fischer-Dieskau, der 1947 seinen ersten Liederabend gab und jahrzehntelang alle großen Konzertsäle der Welt füllte sowie an allen bedeutenden Opernhäusern auftrat (oft auch mit seiner Frau Julia Varady) - regelmäßig bei den Salzburger Festspielen, sehr oft an der Wiener Staatsoper, wo er u. a. 1954 die Titelpartie in der legendären "Falstaff"-Aufführung unter der Regie von Lucchino Visconti sang. An zahlreichen Uraufführungen, u. a. von Hans-Werner Henze, Gottfried von Einem oder Aribert Reiman war er beteiligt. Ende 1992 verabschiedete sich Fischer-Dieskau von der Bühne, als Dirigent ist er weiterhin tätig, 2005 u. a. in Berlin und Salzburg. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören "Texte deutscher Lieder" sowie Monografien über Hugo Wolf, Schuberts Lieder oder Nietzsche als Komponist. Seit den 1960er Jahren widmet er sich intensiv der Malerei. Am 28. Mai feiert er seinen 80. Geburtstag.

DieTrich Fischer-Dieskau

Ein Leben in Bildern. Von Hans Neunzig.

Henschel Verlag Berlin 2005,

208 Seiten mit 300 Abb., geb., e 35,90

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