6579755-1951_10_10.jpg
Digital In Arbeit

Was liest man heute?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Leihbüchereien haben nach dem letzten Kriege eine erheblich gesteigerte Bedeutung erlangt. Es gibt zwei Gründe dafür. Einmal vernichteten Bombenkrieg und Plünderung großen Privatbesitz an Büchern; und dann lenkten der materielle Notstand sowie das Mißverhältnis zwischen Einkommen und Buchpreisen den geistig Regsamen zum Leihbuch.

Die großen öffentlichen Büchereien Wiens, voran die Städtischen Büchereien und der Verein Zentralbibliothek, haben natürlich auch ihrerseits Schäden zu verzeichnen. In den Zweigstellen gingen durch Ausbombung Bücher verloren, viele Stücke auch bei jenen Lesern, die ihr Heim einbüßten; schließlich hat die Beschlagnahmepraxis von 1938 erhebliche Lücken in die Buchbestände gerissen — verlor doch allein die Zentralbibliothek dadurch rund 100.000 Werke,

Als der Krieg beendet war, stand man vor schwierigen Aufgaben. Hier ist eine stille, oft wenig beachtete, selbstlose Aufbauarbeit geleistet worden. Wieder erstanden, als Nachfolgerinnen der Arbeiterbüchereien, die Städtischen Büchereien, die es 1949 bis auf 46 Zweigstellen brachten; wieder der 1897 von Univ.-Prof. Dr. Reyer gegründete Verein Zentralbibliothek mit der Hauptstelle und vierzehn Zweigstellen. Die Städtischen Büchereien haben nach der zuletzt vorliegenden Statistik für 1949 — jene für 1950 steht noch aus — 1,081.966 Bände an 25.453 aktive Jahresleser verliehen.

Diese gliederten sich (nach der noch heute brauchbaren Systematik Walter Hofmanns) in:

Arbeiterfrauen ... . 5.155 Arbeiter ....... . . 4.107

Beamte und Angestellte .... 3.659

Frauen der Beamten und Akademikerinnen .......4.672

Jugendliche ....2.902

Kinder .......... 2.080

Berufstätige Frauen (außer der Arbeiterin, aber einschließlich dr Akademikerin); Ehefrauen, sofern sie bruftätig sind . . . 1.256 Akademiker........1.423

Der Buchbestand belief sich auf:

Unterhaltlingswerke.....311.896

Sachgebiete (Wissenschaft) . . . 69.382

Kinderbücher........16.197

Fremdsprachige Literatur .... 3.032

Die beherrschende Rolle der Unterhaltungsbücher ist daraus zu ersehen, daß von ihnen 839.690 entliehen wurden-, auf die Sachgebiete entfielen 163.566, auf das Kinderbuch über 76.000.

De-r Verein Zentralbibliothek verzeichnete im gleichen Jahre 15.442 Leser, von denen Belletristik mit 1,068.815 und Wissenschaftliches mit 131.964 Bänden entliehen wurden.

Wohl die erste Frage bei der Gesamtzahl der in Rede stehenden 2,282.745 Bücher heißt: „Was wird gelesen?“ Das Hauptinteresse gilt der Belletristik und hier wieder dem Roman. Novellen bleiben seit je wenig gefragt, ganz zu schweigen, leider, von der höchsten Wortkunst, der Lyrik.

Die allgemeine Tendenz weist auf den angloamerikanischen Roman hin. Immer wieder taucht der Name des ehemaligen Arztes A. J. C r o n i n, des gebürtigen Schotten, auf. Seine früheren Werke werden andauernd begehrt — vor allem Die Zitadelle“. Daneben .Der Tyrann“ und dar einzige, während des Krieges .zugelassene“ Roman .Die Sterne blicken herab“. Ärztliches Milieu ist überhaupt gefragt. Neben Cronin nennen die Bibliothekare immer noch als weit hinaus vorgemerkt Margaret Mitchells „Gone with the Wind“ (Vom Winde verweht). Im Vordergrunde stehen weiter: Dreiser, Mason, Pearl S. Buck, Warwing Deeping, Somerset Maugham und Sinclair Lewis. Es mag mitunter bedauerlich scheinen, daß über Caldwell und Douglas ein Geist wie Thomas Wolfe, vielleicht die dichterischeste Persönlichkeit der neuen amerikanischen Literatur, zur Nebenrolle verurteilt bleibt.

In den Städtischen Büchereien war es ein heimischer Autor, Bienek, der mit seinen Romanen historischer Prägung (.Nacht in Olmütz“, .Das Wasserzeichen“) und dem Wiener sozialen Zeitroman .Die Rabengasse“ die stärkste Nachfrage erzielte. Gleich dahinter steht wieder ein Österreicher, Brunngraber, mit seinen technokratischen Ideen, vor allem mit dem Roman „Zucker aus Cuba“. Diesen Lebenden schließt sich Stefan Z w e i g an, der ja 1938 bei uns aus den Leihbüchereien verschwand; seine Historien — immer noch dauert das Zeitalter des historischbiographischen Romans — werden immer wieder verlangt. Hier kann auch Ellert genannt werden.

Einen bedeutenden Einflußaufdie Nachfrage üben, der Bedeutung nach gereiht, drei Faktoren aus: die jetzt üblichen Vorlesungen in Fortsetzungen durch das Radio (was einen Sturm auf Du Moriers „Rebecca“ entfachte); die Verfilmung eines Stoffes; die Schaustellung in den Buchhandlungen. So kann es sich, der allgemeinen Tendenz widersprechend, ereignen, daß Conrad Ferdinand Meyer, Rosegger, Ebner-Eschenbach öfter als gewohnt verlangt werden, ja selbst ein so entlegenes Werk wie der „Kirbisch“ von Wildgans ist nach dem Film „Cordula“ ungeachtet der Hexameter gelesen worden.

Eine Umfrage in den privaten Leihbüchereien ergibt freilich noch die betrübliche Tatsache, daß rund 70 Prozent der Kunden nach Kriminalromanen, Wildwest, nach Utopien in der Art Dominiks — von Karl May abgesehen — und sogenannten „Frauenromanen“, die „leicht“ sein sollen, fragen. Die „erotische“ Literatur — von dem Falle Van de Velde abgesehen — findet hingegen, von den öffentlichen Ständen verdrängt, keine Nachfrage. Die lesebegierige Jugend der Leihbibliotheken ist weitgehend „unerotisch“. Zielbewußte Ausgabe vermag Werke wie „Kon Tiki“ von Heyerdal oder die Bücher von Hass so wirksam einzusetzen, daß der vielberufene Mord auf der ersten Seite und ein paar Dutzend Seiten voll Pulver-rauch in den Hintergrund treten — vorausgesetzt, daß überall in den privaten Leihstellen mehr bildnerische und weniger kommerzielle Erwägungen Platz finden. Bemerkenswert ist übrigens, namentlich bei der studierenden Jugend, eine langsam zunehmende Teilnahme an neuerer Lyrik (Trakl, Waldinger, Wildgans, Carossa). Wieviel davon freilich auf die Anregung der Schule geht, wäre noch zu untersuchen.

Zuletzt: was fehlt uns noch? Wir leiden an mitunter handelspolitisch, dann aber auch weltanschaulich bedingter Rationierung. Oft muß auf die Frage nach neuer italienischer, südslawischer, ungarischer, tschechischer, polnischer, reichsdeutscher und russischer Dichtung mit Kopfschütteln geantwortet werden. Denn das ist sicher: solange die Staaten Europas ihre Kunst mit anderen Maßstäben als den ihr allein gemäßen verschicken oder verschicken dürfen, solange kann es keinen objektiven und gerechten Vergleich geben. Uns fehlen weiter für manche Altersklassen, besonders jene der Mädchen, kitschlose Bücher, und es ist bezeichnend, daß die „Trotzkopf“-Serien nachgedruckt werden müssen. Und es fehlen die zeitnahen, aber nicht mit Problemen überladenen, flüssig geschriebenen Frauenbücher. Noch immer geistern die Rothberg, Lehne, Wothe, Birkner, Schneider herum. Und es fehlt schließlich der Humor, der reine, nicht ätzende, aus der Tiefe eines Gemütes kommende. Hier liegt noch ein weites Feld vor uns. Denn nichts fällt den Bibliothekaren schwerer als die „Fehlanzeige“. Das ist oft der Weg von der Suche nach einer geistigen Heimat weg zu den, „Naschmarktständen“ auf der Straße. Und diesen Weg verlegen möchte jeder, dem um die geistige Kultur unserer Heimat mehr zu tun ist als um das Geld, die paar Zehngroschenstücke, die gestern, heute und morgen vieltausendfach über die Ladentische der öffentlichen Bibliotheken gleiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung