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WAS SAGT „DAS SCHWEIGEN“ ?

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Die lange Laufzeit von Bergmans umstrittenen Film „Das Schweigen zunächst im Premierenkino, dann in den Nachspielhäusern ließe — gemessen an der Tatsache, daß Filmkunst sich nur schwer verkauft — auf außerkünstlerische Zugkräfte schließen. Die Reaktionen des Publikums — Schweigen während der Vorstellung, kaum anzügliche Bemerkungen, kein Gelächter; Schweigen oder Debatten nach Verlassen des Kinos — drücken dieser Annahme den Stempel der Oberflächlichkeit auf. Man hat diesen Film interpretiert und gegen ihn polemisiert, die Intimitätsverletzung abgelehnt, die Ehrlichkeit Bergmans bezweifelt, im Anschluß an andere Bergman-Filme erotische Monomanie gerügt oder alles als symbolisch gewürdigt und die Hölle des gottlosen Menschen als Konsequenz einer metaphysischen Abhandlung gefunden. In der Verwirrung der Perspektiven von Standpunkten aus, die sehr abhängig von der Eigenart und Lebenshaltung des Betrachters sind, kann eine Analyse, unabhängig auch von Bergmans eigenen Erklärungen und vom Bemühen um Einordnung des Filmes in das Gesamtwerk seines Schöpfers, vielleicht Klarheit schaffen. Für die Wirkung eines Filmes ist nicht die Absicht des Filmschöpfers, sondern der fertige Film maßgebend. Was sagt „Das Schweigen wirklich?

Der Film beginnt und endet mit einer Bahnfahrt. Von ihrem Ausgangspunkt wird nicht gesprochen, von ihrem Ziel wohl, doch deutet nichts auf die Ankunft hin. Der Aufenthalt in einer fremden Stadt, in der eine fremde Sprache gesprochen wird, hat nicht den Charakter einer stabileren Reiseunterbrechung oder gar einer längeren Erholungspause. Die örtliche Situation ist nicht umrissen. Die Straßen sind gedrängt voll oder — auch das schafft Unruhe — leer, wie ausgestorben. Lärm dringt ins Innere des Hotelzimmers, das fast ständig von Bewegung erfüllt ist; oder lange, stille Hotelgänge kreuzen einander und verlaufen, ohne daß der Zuschauer eine Orientierungsmöglichkeit hätte.

Ist diese Welt real? Bergman hat alles getan, um das annehmen zu lassen. Die Innenarchitektur ist normal, es gibt fast nur realistische Geräusche, nur Musik aus erkennbaren Quellen. Da ist allerdings dieses Ticken zu Beginn, das sich später wiederholt — einmal freilich ausdrücklich mit der Uhr des Zimmerkellners und der vergehenden Zeit in Beziehung gesetzt; es hat also zeitmessenden Charakter, ebenso wie das metallische Tönen in zwei Szenen (erklärbar als das Pochen von Esters Blut in ihren eigenen Ohren), das im letzten Krankheitsanfall Esters zu einem Posaunenstößen ähnlichen Geräusch überhöht wird, während Esters Kopf in Überbelichtung erbleicht. Wo der Film solcherart aus der Realität herauszutreten scheint, ohne sie aufzuheben, wird deutlich, daß sie auch in den objektiv wirkenden Bildfolgen nicht den Charakter eines Gegebenen hat, sondern dem je subjektiven Bereich der Personen der Handlung zugehört. Hier liegt wahrscheinlich der unbewußte Ansatzpunkt für die symbolische Deutung von Bildern, dem manchmal — wohl etwas voreilig — der Vorzug vor nüchterner Beobachtung gegeben wird.

Erstes Bild des Filmes: ein schlafendes Kind (Johan) — letztes Bild: Johan, der sich mit ernstem Gesicht und formenden Lippen über ein beschriebenes Blatt Papier neigt. Diese beiden rahmenden Bilder lassen zunächst einmal darauf schließen, daß dem Kind in diesem Film eine wichtige Rolle zufällt. Memoriert man die Stellung Johans im Filmganzen, wird man ihm noch wesentlich mehr Bedeutung zumessen. Ihm gehört nicht nur szenisch ein recht großer Teil des Filmes, er steht auch mit einigen anderen Teilen in direktem Zusammenhang. Die ihm zugeordneten Motive liegen auf einer klar erkennbaren Linie.

Zu Beginn sitzt er zwischen zwei Frauen, seiner Mutter Anna und seiner Tante Ester, erwacht, steht auf, sieht zum Zugfenster hinaus, erblickt im Abteil eine Inschrift in einer fremden Sprache und fragt nach ihrer Bedeutung. Ester ist es, die antwortet, sie wisse es nicht. Ein zweites Mal noch wird der Bub schlafen, in embryonaler Lager an der Seite seiner Mutter, und sich erwachend an die Schlafende wenden; sie aber wird ärgerlich über die Störung sein, und er wird fortgehen und seine Entdeckungsreise im Hotel antreten.

Wenn Johan nicht unterwegs ist, setzen doch seine fragenden Augen das Bemühen um Verständnis fort. Die Einfahrt in den Bahnhof der Zwischenstation, die für den Buben zum Ort wesentlicher Veränderung wird, spiegelt sich in Licht- und Schattenreflexen auf seinem Gesicht. Die Panzer des vorüberollenden Zuges und der Panzer in der Nacht: die Bedrohung durch das Dunkle gilt ihm — sie ist durch Gegenschnitt zu ihm in Beziehung gesetzt.

Das Unbekannte hat manch Schreckhaftes für den Buben und verliert es nur dort, wo es ihm spielend begegnet. Vor dem verständnislosen Mann mit der Leiter, den er mit der Spielzeugpistole bedroht, weicht er zurück, mit der Zwergengruppe gewinnt er sofort Kontakt. Vor dem etwas unheimlich erscheinenden Zimmerkellner flieht er zuerst, doch sobald dieser zu einem Spiel ansetzt, kommt er näher, läßt sich Schokolade schenken und betrachtet auch aufmerksam die gezeigten Bilder. Spiel ist für den Buben ohne Zweifel eine Art der Verständigung.

Zwei Elemente bestimmen die Erfahrung Johans: Hingabe = Liebe und Auseinandersetzung = Tod. Er sucht Zärtlichkeit bei seiner Mutter während der ersten Bahnfahrt und in der Badeszene. Er spielt das Töten einer Fliege oder das Abschießen eines Flugzeuges, läßt Kasperl die weibliche Puppe erschlagen. In diesem Handpuppenspiel, das plötzlich abbricht, äußert sich die Beunruhigung über alles, was Johan noch nicht verstehen kann und doch verstehen lernen muß. Kasperl-Johan spricht unverständliche Worte; „Was sagt Kaspar?“ , fragt Ester. „Ich weiß auch nicht (man erinnert sich an Esters Antwort im Zug). „Er redet heute so komisch, weil er Angst hat. Hier dann sucht Johan Zärtlichkeit und Schutz bei Ester. Seine Mutter schließt ihn mitunter aus. Ester, von Beruf Übersetzerin, gibt ihm eine Anleitung: Worte in der fremden Sprache, eben die, welche er im Schlußbild so ernst zu erfassen sucht. Der Zuschauer weiß, daß sie nichts erklären; denn auch für ihn ist die Sprache fremd. Im Bemühen um Verständnis ist das Erwachen des Wesens zum selbständigen Menschen zu sehen.

Es sei hier festgehalten, daß in einer der eröffnenden Szenen im fahrenden Zug die zwischen kahlen Bergen aufgehende Sonne im Gegenschnitt als Spiegelung über dem Kopf des Knaben sichtbar wird, der dann nach neuerlichem Schnitt von der Sonne beschienen gezeigt wird. Sollte das nicht eine gnädige Alternative zur Bedrohung des Kindes sein? 1

Zweites Bild des Filmes: Anna, fächelt sich Kühlung zu — vorletztes Bild: Anna steht am geöffneten Zugfenster, Regen sprüht herein und näßt ihr Gesicht. Zwei Bilder, die Annas Körperlichkeit betonen, wie auch die drei Bade- beziehungsweise Waschszenen und die wiederholte Körperpflege. Anna zeigt in Anfangsszenen mit Johan natürliche, körperlich betonte Zärtlichkeit, doch zuletzt ist spürbar Distanz zwischen ihnen. Der Bub hat erkannt, daß ihre Zärtlichkeit nicht auf ihn (nicht du-) bezogen ist (zu Ester: „Warum will Mama nicht mit uns Zusammensein?“ ). Sie hilft Ester bei dem Hustenanfall im Zug, aus sich heraus, wie sie sich auf der Straße, teils auch im Umgang mit der Schwester, herausfordernd verhält. Esters Zärtlichkeit weist sie zurück. Das liebende Paar im Zuschauerraum des Theaters erweckt ihren Ekel, steigert aber ihre begehrliche Unruhe.

Aus dem Dialog erfahren wir von einem Abhängigkeitsgefühl gegenüber Ester, der einzigen nichtkörperlichen Beziehung, die ihr zugeschrieben ist. Die Beziehung zu dem fremden Mann nennt sie schön, weil sie ohne jede Möglichkeit sprachlicher Verständigung vor sich geht. Tatsächlich erfolgt schon die Annäherung stumm, mit Blicken und, von seiten des Mannes, mit tänzelndem Gehaben. Die Vereinigung ist der Dunkelheit zugewiesen, kaum absichtslos, denn es wird damit sogar der optische Kontakt der Partner verhindert. Aber die Szene nach der Auseinandersetzung mit der Schwester unterstreicht die Sinnlosigkeit solcher Kon-taktnahme.

Ester fragt Anna, nachdem diese ihr von ihrem Beisammensein mit dem fremden Mann im Theater erzählt hat: „Ist das wahr? „Weshalb sollte ich lügen?“ , entgegnet Anna. „Warum solltest du lügen...“ , und dann erzählt Anna eine andere Version, und es bleibt offen, welche von beiden den Tatsachen entspricht. In der großen Auseinandersetzung mit Ester antwortet Anna der Schwester auf deren „Ich liebe dich“ : „Du redest zuviel von der Liebe. Zum Zimmerkellner hat Anna keine Beziehung, sie hat keine Sprachprobleme und sucht daher keinen Partner zur Verständigung. Im Kaffeehaus blättert Anna nur in der Zeitung, ohne zu lesen. Anna hält nichts von der Sprache. Aber ihre sprach- und wortlose Aktivität kann nicht einmal die eigene Unruhe stillen, geschweige denn Einverständnis mit anderen herstellen. Das Unbefriedigtsein Annas — in Fortsetzung der i Unruhe auf der Straße, wo sie Gestalt unter Gestalten, dur h-< dunkle Brillen gesichtsloser Kopf unter anderen, war, .die Lossagung von der Schwester und der Verlust des kindlichen Vertrauens machen die Ich-Beschlossenheit ihres Weges kenntlich. Sie würde sich nichts schenken lassen und hat nichts zu geben.

Drittes Bild des Filmes: Ester, ausdruckslos fast, so auf Haltung bedacht, das heißt auf sich konzentriert, und doch bereit, eine Frage zu hören und nach Möglichkeit zu beantworten. Dann ihr Hustenanfall. Später: in Gedanken bei der Schwester (Schnitt von dem dem Zuschauer zugewandten Gesicht Esters auf Anna). Zuletzt: in Gedanken bei Johan, der ihren Brief zu verstehen versucht (markanter Schnitt in genauer Entsprechung zum eben Erwähnten).

Ester ist ein kranker Mensch, eine introvertierte Intellektuelle, die ihr körperliches Leben im eigenen Unbefriedigtsein und Leiden erlebt, die ihre Lebenserfahrung aus zweiter Hand gewinnt, sich mit Ersatzanregung (Alkohol, Zigarette, Selbstbefriedigung) begnügen muß. Ester ist bemüht, allem einen Sinn zu geben. Zu Ester in Beziehung gesetzt ist das zweimal eingefügte Straßenbild mit dem klapprigen Gaul, der einen mit Gerumpel beladenen Wagen zieht — aus dem Hotelfenster des Appartments, das sie nicht mehr verläßt gesehen. Das Leben ordnet sich zum Motiv, ohne einen Sinn zu offenbaren.

Ester ist bereit, zu empfangen. Sie will das Hotelfenster geöffnet, sie möchte Annas Zärtlichkeit, sie fragt den Zimmerkellner nach der Bedeutung von Worten in seiner Sprache, sie sucht sein bestätigendes Einverständnis in der Verehrung Johann Sebastian Bachs. Unbefriedigt, mit sich beschäftigt, hat sie ihn bei seinem ersten Auftritt überhaupt nicht sprechen gehört, geschweige denn etwas verstanden (wir sahen die Lippen des Kellners fast lautlos sich bewegen); doch sie erfaßt schnell seine Hilfsbereitschaft, und die etwas irreale Erscheinung gewinnt nun auch für den Zuschauer menschliches Leben.

Esters Umweltbeziehung ist in nuce in ihrer letzten großen Passage des Filmes ausgeführt. Sie beginnt an Johan zu schreiben. Sie denkt an Anna. Sie beginnt sich zu ver-krampfen. „Ich meinte, wir seien frei. Sie entspannt sich. „Jetzt ist alles so schön einsam“ , sagt sie knapp vor dem Anfall. Die von Ester selbst als Euphorie bezeichnete Stim.-mung, in der sie neuerlich an Johan zu schreiben versucht, schlägt um: „Soll ich sterben, ganz allein...“ . „Ich hab* solche Angst. Sie zieht sich zuletzt die Decke über das Gesicht. Der zurückgekehrte Johan zieht sie wieder weg. Und sie, nun ruhig, findet zu der neuen Du-Beziehung: „Hab keine Angst — und zu der durch nichts gestützten, folglich nicht real zu wertenden Aussage: „Ich werde nicht sterben. Und Johan bestätigt die neue Beziehung, als er auf ihr „Ich muß mich nur beruhigen (man denke an die Worte der Puppenspielszene) anwortet: „Ich verstehe.

Man kann hier anführen, daß Ester in ihrem letzten Anfall alles in Frage stellt. Aber sie gibt doch Johan den versprochenen Brief mit den Worten: „Er ist wichtig, du wirst es noch verstehen. Es könnte das Mitleid des Erwachsenen sein, der ohne eigene Uberzeugung sein Versprechen hält; vielleicht wäre gerade darin die Wichtigkeit des Mühens, unbekümmert um die Erfolgsaussicht, ausgedrückt. Doch scheint mir vielmehr das gerettete Bewußtsein um den Wert der Sprache dokumentiert. Mit den Worten Esters „Ich muß mit dir reden hatte die große Auseinandersetzung der Schwestern begonnen, die zum Bruch und Zusammenbruch führte, auf den Gang des Geschehens und die Entwicklung der Charaktere aber keinen Einfluß nehmen konnte. Und doch vertraut Ester ihre Botschaft an Johan der Sprache an.

Wir haben versucht, in Bergmans „Schweigen zu lesen. Wir haben die Wirklichkeit der Hölle — nicht in der Gottferne, sondern in der Vereinzelung des Menschen — an einigen Stellen erlebt. Ich habe hier einiges von meiner Lektüre mitgeteilt und mich vor allzu weitgehenden Schlußfolgerungen gehütet. Sollte dem Leser dieser Zeilen nicht aus manchen Parallelen und Kontrasten, die ich angeführt habe, von selbst klar werden, daß weder die Reduktion auf pornographische Äußerlichkeiten, noch die Transzendierung in religiöse oder philosophische Fragestellungen „Das Schweigen im Zuschauerraum beendet? M Ich'äari: abschließend meine Meinung zusammenfassen'.'Die-• innere“ ,“ 'Könseq>uen^zr, des - Filmes gibt als sein praktischesi, 9 Thema preis: das Schweigen zwischen den Menschen, seine Ursachen und seine Überwindung. Die sinnlose sexuelle Beziehung ist eine der Arten des Schweigens, die Verirrung im Ich eine andere. Nicht nur von der Frage nach Gott, sondern auch von der hier dargelegten Verständigung- und Verständnisproblematik her ergibt sich der thematische Zusammenhang der sogenannten Triologie Bergmans. „Wie in einem Spiegel kann der Mensch Gott in der Liebe der Menschen erkennen und verstehen; „Licht im Winter soll der Priester sein, der als Mittler jenen helfen muß, die am Unvermögen, diese Sprache Gottes zu sprechen, und dem Unverständnis für die Probleme des Nächsten leidet. Kann er es nicht, sind die „Abendmahlsgäste nicht mehr geladen, bleiben ohne Gemeinschaft im „Schweigen“ . Vergeblich läuten die Kirchenglocken. Aber das ist nicht das Ende. Gegen jede Vernunft des gewählten Vorwurfs und gegen die Trostlosigkeit der ausgeführten Handlung läßt Bergman eine Botschaft weitergeben, vom Vater zum Sohn („Wie in einem Spiegel“ ), im Credo des Pastors („Licht im Winter“ ), im Brief Esters an Johan. Dieses Paradox hat seine formale, künstlerische Entsprechung darin, daß in einem optischen Medium um Sprache und Mitteilung gerungen wird.

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