Was, wenn du kein Individuum bist?

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Ein Alptraum: nicht einzigartig zu sein. Der Literaturnobelpreisträger José Saramago hat ihn zu Literatur gemacht.

Bewundernswert, wie viele, auch umfangreiche Romane der 82-jährige Literaturnobelpreisträger José Saramago schreibt. Mit seinem Roman "Das Zentrum" (siehe Furche Nr. 31) hat er sich noch auf spannende, liebevolle und engagierte Weise mit den Lebensbedingungen des Menschen in einer mehr und mehr ökonomisierten Welt auseinander gesetzt, und schon ist wieder ein Roman auf Deutsch erhältlich, den man allerdings mit gemischten Gefühlen liest.

Dabei ist auch dieses Thema spannend. Und wieder kommt Saramago mit wenigen Figuren aus, spitzt er - trotz der ihn kennzeichnenden Erzählerreflexionen - die Dramaturgie seines Romans ähnlich der eines Dramas zu. Im Mittelpunkt der Handlung zunächst, aber nicht lange allein im Fokus des Geschehens, steht Tertuliano Máximo Afonso, ein 38-jähriger Geschichtslehrer, nicht gerade zufrieden mit seinem Leben und seinem Beruf, unglücklich über seinen Namen, geschieden und in ein Verhältnis mit Maria da Paz verflochten, das er eigentlich beenden will, was ihm aber nicht wirklich gelingt. Ein Durchschnittsmensch.

Genauso wie er

Ein Lehrerkollege gibt ihm den Tipp, sich zur Ablenkung einen Film anzuschauen. "Wer Streitet, Tötet, Jagt" führt zu einer vehementen Wende in des Lehrers Leben. Es bringt ihn tatsächlich auf andere Gedanken, aber in einem existenzbedrohenden Sinn. In diesem Film nämlich findet er sich selbst: in einem Nebendarsteller, der bis hin zu Leberflecken sozusagen haargenau aussieht wie er.

Saramago wäre nicht Saramago, wenn er nicht im Folgenden alle Schreibmühe darauf verwenden würde, Tertuliano auf die Finger zu schauen, wie dieser umständlichst versucht, auf den Namen des Nebendarstellers zu kommen. Er besorgt sich Video um Video von derselben Produktionsfirma, sieht sie durch und streicht, falls der Schauspieler nicht auftaucht, die Namen von seiner Liste. Umständlicher geht es kaum. Bis er eines Tages vor dem Ergebnis steht: Daniel Santa-Clara heißt der gesuchte Schauspieler, der sein Doppelgänger zu sein scheint.

Tertuliano ist seine Entdeckung so unheimlich, dass er zunächst niemanden einweiht, auch Maria nicht, in deren Namen er einen Brief schreibt und um Autogramm und Adresse des Schauspielers bittet. Die Kontaktaufnahme mit António Claro, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, gelingt, das Schicksal nimmt seinen Lauf...

Ins Schleudern

Wer sich als Leser eine Erklärung des Phänomens "Doppelgänger" erwartet, wird enttäuscht werden. Viel mehr interessant Saramago zu sehen, wie diese Figuren, die feststellen, dass sie keine einzigartigen Individuen sind, auf diese Tatsache reagieren. Da kommt schon so einiges ins Wanken... Saramagos Spezialität sind die Ironie, die feinen Dialoge und die Skizzierung der Figuren, etwa auch des "gesunden Menschenverstandes", der ab und zu - viel zu selten, wie im Leben? - auftaucht und sich in die Geschichte mischen will. Oft ohne Erfolg.

Alle Register seines Könnens hat Saramago in diesem Werk aber nicht gezogen. An den zuletzt erschienenen Roman "Das Zentrum", vor allem an dessen überzeugende Lebendigkeit und Engagiertheit, reicht der "Doppelgänger" nicht heran. Die Figuren sind blasser. Oder ist das gewollt? Gespannt gilt es auf den nächsten Roman zu warten.

Der Doppelgänger

Roman von José Saramago

Dt. v. Marianne Gareis

Rowohlt Verlag, Reinbek b. H. 2004

381 Seiten, geb., e 23,60

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