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Digital In Arbeit

Weder Apologie noch Selbstanklage

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ÖSTERREICHS KATHOLIKEN UND DIE ARBEITERFRAGE. Von Gerhard Silber- bauer. Verla; Styria. 44S Selten und 2 Bilder. Preis 198 S.

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ÖSTERREICHS KATHOLIKEN UND DIE ARBEITERFRAGE. Von Gerhard Silber- bauer. Verla; Styria. 44S Selten und 2 Bilder. Preis 198 S.

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Das Wort Pius’ XI. ist bekannt. Nach ihm wird die Blindheit der Kirche im 19. Jahrhundert gegenüber der sozialen Frage, die damals auch konkret „Arbeiterfrage“ genannt wurde, klipp und klar als „der Skandal des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. Katholische Autoren, die über dieses ziemlich dunkle Kapitel arbeiten, zeichnen sich in der Regel nicht durch eine solche erfrischende Offenheit aus. Sie verfallen vielfach der Versuchung, Apologie um jeden Preis zu treiben und zu rechtfertigen, was einfach nicht zu rechtfertigen war und ist. Eine solche weitverbreitete Haltung fordert wieder andere katholische Historiker und Soziologen heraus. Aus einem aufgestörten Gewissen und provoziert durch beschwichtigende und beschönigende Darstellungen setzt diese Minderheit zu einer Selbstanklage an, die mitunter auch das richtige Maß sprengt und masochistische Züge annehmen kann.

Von beiden Fehlhaltungen weiß sich Dr. Gerhard Silberbauer (Jahrgang 1936) freizuhalten. Von seinem verstorbenen Lehrer, Universitätsprofessor Dr. August M. Knoll, hat er wohl die Liebe und das innere Engagement zum Gegenstand seiner Forschung übernommen, an die Stelle der — wie wir heute wissen — durch seine Todeskrankheit übersteigerten Sensibilität Prof. Knolls tritt aber die nüchterne, unpathetische Darstellung des Angehörigen einer Generation, der die Narben der hinter uns liegenden, innerhalb des österreichischen Katholizismus ausgetragenen Gefechte — und es ¡waren nicht nur „kalte Kriege“ — nicht mehr am eigenen Leibe brennen.

Der Mut zur Offenheit, die Vertrautheit mit der Materie und die Gewissenhaftigkeit, mit der diese yor den Lesern ausgebreitet wird, fielen schon wohltuend auf, als Sil- toerbauer seine von Prof. Knoll inspirierte Dissertation ursprünglich in der von August Zechmeisiter herausgegebenen Schriftenreihe vorlegte. Der Verlag Styria wurde mit Recht aufmerksam und bewog den Autor, s ng Fpiaröungeh, auszubauen .und auch Sie jüngste Vergangenheit und Gegenwart einzubeziehen. Das Ergebnis liegt nun vor. Es ist eine ernste, auf der Höhe der Zeit stehende. Gewissenserforschung,

Das Schwergewicht der Arbeit liegt nach wie vor im 19. Jahrhundert. Hier kann der Autor eine Reihe einschlägiger neuerer Forschungen vorlegen beziehungsweise dieselbe durch die Ergebnisse seiner eigenen Studien bereichern. Wer, von einem kleinen Zirkel von Kirchenhistorikern abgesehen, weiß etwas von Österreichs erstem „Arbeiterpriester“, dem Kaplan Johann Sed- lak ¡aus Mähren, der die Arbeiter beim Bau der Semmeringbahn seelsorglich betreute? (S. 39 ff.) Bezeichnenderweise ging die Initiative dazu nicht von den Bischöfen, sondern von der Mutter des jungen Kaisers Franz Joseph aus. Die Frage nach dem „Schweigen der Bischöfe“ zu den himmelschreienden sozialen Verhältnissen des vierten Standes be- schäftigt intensiv, ja man könnte beinahe sagen: quält den Autor. Der Joseflnismus wirkte lange nach. Bei seinen Anhängern (Milde) ebenso wie bei seinen Gegnern (Rauscher).

Wer hat auch den Namen Hans Beruth schon gehört? Dieser Wiener ; Journalist und Herausgeber der ‘ .Politischen Fragmente“ trat in den 1 neunziger Jahren nicht nur für ein 1 Bündnis zwischen Christlichsozialen . jnd Sozialdemokraten ein, sondern sagagierte sich sogar damals bereits für einen „Brückenschlag“ zwischen 1 Cirche und Sozialismus. Durch die Vermittlung dieses „Günther , lenning des 19. Jahrhunderts“ be- i suchte niemand anderer als Franz 1 Jchuihmeier den Katholikentag 1896 n Salzburg. Welch wenig christliche Aufnahme er dort fand, da ist eine mdere Sache (Seite 145 ff.).

Silberbauer räumt auch mit r nanch liebgewordenen Vorstellungen i uff und korrigiert Klischees, die 1 lurch Jahrzehnte weitergereicht ¡ wurden. So nennt er die vieJgerühm- c ben sozialpolitischen Initiativen der 1 Cathalisch-Konservativen einfach i ds das, was sie in Wirklichkeit waren: Nicht nur das Ergebnis eines wach gewordenen sozialen Gewis- j ;ens, sondern auch eine Waffe im | harten Kampf der agrarisch orten- _ lierten Konservativen gegen ihre iberalen Gegner in Industrie und ( Handel (Seite 94). ¡

Das Bild Leopold Kunschaks ist I lern Parteienstreit heute längst ent- s nickt. Es ist gut, daß der Autor einer r ;em zur Mythenbildung neigenden c Nachwelt in Erinnerung ruft, daß lieser christliche Demokrat und j ¡eine christlich-sozialen Arbeiter s licht mit offenen Armen .von den r

„Bürgerlichen“ der großen, von Lueger formierten Sammelpartei aufgenommen wurden, sondern „von Anfang an immer wieder Ziel versteckter und sogar offener Feindseligkeiten innerhalb des eigenen weltanschaulichen Lagers gewesen waren“ (Seite 167). Dies nur jenen zum „Trost“, denen man heute in Österreich die Etikette „Linkskatholiken“ gerne an den Rock heften möchte, weil unbequeme Mahner zu keiner Zeit willkommen waren.

In der Zeit zwischen 1918 und 1934 findet der überhitzte Streit zwischen den verschiedenen sozialen Schulen in Österreich einen breiten Niederschlag in der vorliegenden Darstellung. Auch Michael Pflieglers Pioniertat in der „Sozialistenseelsorge“ findet die ihr gebührende Würdigung.

Silberbauer scheut sich auch nicht, ein Kapitel der „Zweiten Republik“ zu widmen. Hier dürfte er — was naheliegend ist — Widersprüche von verschiedenen Seiten zu hören bekommen. Der Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Katholiken“ hat die Toterklärung dieser Gemeinschaft durch den Autor bereits öffentlich widerrufen (Ing. Spitaler im „Forum“ von Juni-Juli 1966), und auch aus den Reihen der Katholischen Arbeiterjugend, die nach Meinung des Verfassers nach einem steilen Aufstieg und einer kurzen Blüte in einer großen Krise steckt, sind „Gegendarstellungen“ zu erwarten. Wenn alles im Fluß ist, tut sich der Chronist eben schwer mit seinem Urteil, dem immer etwas Abschließendes und Endgültiges innewohnt. Daß aber vieles im österreichischen Katholizismus in Fluß gekommen ist, daß heute die Botschaft des Evangeliums keine Parteischranken mehr kennt und in der Gegenwart — vielleicht noch mehr in der Zukunft — in die zwar nicht mehr kirchenfeindlichen, aber — wie Silberbauer mit Recht feststellt — immer noch „kirchenscheuen“ Arbeitermassen zu dringen vermag, das ist nicht zuletzt jener Geisteshaltung zu verdanken, für die der Name Kardinal König eine Chiffre ist.

Es ist dies freilich noch nicht so sehr eine Sache der Fakten, die heute schon für den Wissenschaftler errechenbar, beziehungsweise nachweisbar sind. Es ist dies vielmehr eine Änderung dies Klimas, das Früchte in Geduld erhoffen läßt.

Silberbauers Rapport ist — wie wir eingangs festgesteiit haben — in gleicher Weise nüchtern und engagiert. Er spart nicht mit Kritik und Selbstkritik. Er ist aber niemals maßlos. Die Diebe behält das letzte Wort. Die Liebe zur Kirche genauso wie die Liebe zu jenen arbeitenden Menschen, die ihre Wärme so lange entbehren mußten und denen über den platten Kansumikonformismus hinaus der Blick auf die letzte Sinngebung ihres Lebens so oft noch versperrt ist.

PS. Wenn im kommenden Frühjahr das Kuratorium der Leopold- Kunschak-Stiftung über die Leopold- Kunschak-Preise 1967 befindet, empfehlen wir das vorliegende Buch den Juroren zur kritischen Prüfung.

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