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Weder Tiger noch Hauskatze

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BISMARCK. Von Ludwig Reiners. I. Band: XI/467 Seiten, 29 Abbildungen auf Tafeln, 4 Abbildungen im Text. Preis 17.50 DM. — II. Band: XI/551 Seiten, 24 Abbildungen auf Tafeln, 10 Zeichnungen im Text. Preis 21.50 DM.

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BISMARCK. Von Ludwig Reiners. I. Band: XI/467 Seiten, 29 Abbildungen auf Tafeln, 4 Abbildungen im Text. Preis 17.50 DM. — II. Band: XI/551 Seiten, 24 Abbildungen auf Tafeln, 10 Zeichnungen im Text. Preis 21.50 DM.

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Als Heinrich von Sybel sein letztes Werk herausgab, „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.", schrieb ein französischer Kritiker zur Charakteristik Bismarcks durch Sybel, dieser habe aus einem Königstiger eine Hauskatze gemacht. Erich Mareks hat seinerseits die Sinnbilder eines Löwen und eines Fuchses in der Person des Kanzlers vereint gesehen.

Bismarck war weder Königstiger noch Hauskatze, war weder Löwe noch Fuchs, denn sie alle können nicht weinen, und ob sie an Rheuma leiden, wäre noch die Frage; Bier trinken sie bestimmt nicht. Bismarck war nicht der „Alte im Sachsenwalde“, bei dessen Namensnennung unweigerlich „der getreue Ekkehard", der „eiserne Kanzler“, die Fügung „Blut und Eisen“ mitklangen, untermalt vom Schargesang „Hast du dem Lied der alten Eichen, mein deutsches Volk, nicht oft gelauscht?“ Die Leute, die sich Jahr für

Jahr am 1. April, dem Geburtstag Bismarcks, am 2. September (Sedan) und am 18. Jänner (Versailler Proklamation) — auch bei uns, im Volksgarten, bis zum Beginn der zwanziger Jahre — zusammenfanden und die „Wacht am Rhein“ anstimmten, diese Leute haben von der vielschichtigen Persönlichkeit Bismarcks keine Ahnung gehabt. Wer heute Reiners, diesen feinsinnigen Stilisten, geschickten Bilderwähler, vielseitig gebildeten Mann, folgt, wer die Seiten liest, an denen offensichtlich viel Arbeit hängt (Literaturverzeichnis im zweiten Band mit 34! Nummern), den mag das Gefühl anwandeln, als sähe er in einen Garten, lange nach Sonnenuntergang. Die ersten Schatten verwischen die Umrisse. Niemand kann sagen, wo es blüht; niemand, wo es dorrt. Wege und Beete gleichen einander fast. Und doch war die Gründung Bismarcks so dauerhaft, daß sie das zweite Versailles überstand; daß sie die Gebietsverluste im Westen und Osten und Norden ertrug, mit den Revolten in München, in Thüringen, im Ruhrgebiet, in Berlin fertig wurde; daß sich bis 1929 Handel und Wirtschaft, vom Ausland kreditwürdig befunden, wieder entfalteten. Eine Gründung, die immerhin dreiund- vierzig Friedensjahre mit sich gebracht hat — gegenüber jener des „größten Staatsmannes aller Zeiten“, deren zwölf Jahre zur Hälfte ein Krieg einnahm, der Preußen als Staat auslöschte, Deutschland zerteilte.

Reiners war sich klar darüber, wie mit den klischierten Begriffen aufzuräumen ist. Da die vor 1930 erschienenen Bismarck-Biographien in vielen Punkten durch neue Quellen ergänzungsbedürftig geworden sind, hat dieses vorliegende Werk seinen Platz sicher. Es war schwierig, eine umstrittene Persönlichkeit wie Bismarck in jeder Hinsicht überzeugend dazustellen. Die einzige denkbare Lösung boten die Äußerungen schriftlicher und mündlicher Art; sie liefert der Autor aus allen Abständen: mehr zum Kern stehend, mehr peripherer Natur, dann die hellen Farben und das günstige Licht nützend, das ungünstige keineswegs verhängend und mit Kunstlicht arbeitend. Freilich bleibt die Wertung des geschriebenen Wortes schwer, viel davon hängt an den Flügeln der Zeit; schwerer noch ist die Bemessung des Gesprochenen: man weiß, wie sehr Bismarcks Stil bei all seiner Klarheit hintergründig war, wie geschickt er im Gespräch anderseits die Wahrheit so offen darlegte, daß jedermann glaubte, er höre Lügen.

Besonders gelungen sind die Kapitel über die Jugend und über die Ausbildung; ferner jene Teile, welche von den innerpolitischen Vorgängen in Preußen handeln. Hier wirkt — dank der reichen Ernte aus Gesprächen und Zeitungsstimmen — eine ebenso dramatische Tönung wie bei den Vorgängen im Bundestag und vor den großen kriegerischen Konflikten. Auf wichtige Punkte — beispielsweise die

Heeresreform in Preußen — wird der gebührende Akzent gelegt.

Für iie kommenden neuen Auflagen wären einige Richtigstellungen und Ergänzungen zu berücksichtigen. Im I. Band, Seite 102, heißt es: „Als Napoleons Weltherrschaftspläne in den Freiheitskriegen an dem Widerstand der Russen und Preußen zerbrachen ...“ Frage; Und Österreich? Bis zum 12. August 1813 ist es um die preußischrussische Koalition, der sich Schweden und England angeschlossen hatten, nicht gut gestanden (Schlachten von Großgör- schen und Bautzen). Der Beitritt Österreichs zur Koalition, nachdem Metternichs Vermittlung gescheitert war, entschied 1813. Bei der böhmischen Armee (Schwarzenberg, Generalstabschef Radetzky) befanden sich die drei Monarchen; sie war stärker als die schlesische und die Nordarmee zusammen. Die auf Kaiser Ferdinand verwendeten Wortprägungen sind grob. Erzherzog Johann erscheint in recht ungünstigem Lichte. „Seine begrenzte Begabung“ (Seite 115 des I. Bandes) hat immerhin ausgereicht, Land- und Bergbau, Kunst und Wissenschaft der Steiermark zu fördern und ein Institut von' so hervorragendem Range wie das Joanneum in Graz zu gründen.

Als „Feldherr“ werden Johann die Niederlagen von Hohenlinden und Wagram angelastet. Bei Hohenlinden war der Erzherzog 18 Jahre alt und hatte einen Stabschef neben sich; bei Wagram führte bekanntlich Erzherzog Karl den Oberbefehl und Johanns Schuld lag nur (in dem allerdings schwerwiegenden) zu späten Erscheinen mit seinem aus Preßburg kommenden Korps. Es wäre aber gerecht gewesen, hätte der geschlagene Moreau am Inn, hätte der Erfolg bei Sacile gegen Eugen Beauharnais und hätte die Einnahme von Hüningen, wofür Johann den begeisterten Dank der Schweizer empfing, auch in dem Buch Platz gefunden. Theodor Graf Baillet von Latour war nicht ungarischer Kriegsminister, sondern im Kabinett Wessenberg österreichischer Kriegsminister, dem erst im Zuge der ungarischen Herbstereignisse 1848 in Meszaros vorübergehend ein ungarischer Kriegsminister gegenübergestellt wurde. Die bekannten Verse Grillparzers lauten nicht:

Wohlan, mein Feldherr, führe den Streich Und nicht um Ruhmes Schimmer, ln deinem Lager ist Österreich,

Wir ändern sind rauchende Trümmer, sondern diese erste Strophe des Gedichts „Feldmarschall Radetzky" lautet richtig:

Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer, ln deinem Lager ist Österreich,

Wir ändern sind einzelne Trümmer.

Nur noch eine Stelle, die sich mit Be- nedek befaßt (II. Band, Seite 181). Es heißt dort, daß er „bei Solferino zu unverdientem Ruhm gelangt ist: er hätte bei dem Kampf gegen die französisch-italienische Armee zahlenmäßig unterlegene Italiener vor sich gehabt und geworfen.“

Eine zahlenmäßige Unterlegenheit behauptet nicht einmal das italienische Generalstabswerk, das großzügig mit Einrechnung des Gesamtverpflegsstandes auf 22.000 Italiener gegen 20.000 Österreicher kommt. In Wirklichkeit hatte Bene- dek mit seinem 8. Korps bei San Martino (sieben Kilometer nordnordöstlich von Solferino) am Vormittag des 24. Juni 1859 mindestens gegen eine Übermacht von 8000 Mann zu ringen. Benedek erhielt für San Martino das Kommandeurkreuz des Militärischen Maria-Theresien- Ordens verliehen; unverdient ist dies in Österreich nie geschehen.

Als Benedek gestorben war, kondolierte Bismarck der Witwe. Aus diesem scheinbar konventionellen Zuge ist viel abzulesen: die gute Einschätzung eines einstigen Gegners, das Stehen über den Dingen des Tages, und die Wandlung des menschlichen Umgangs seither. Wann hätte nach dem zweiten Weltkrieg ein Staatsmann der Witwe eines gegnerischen Militärs das Beileid ausgesprochen?

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