Martin Walser - © FOTO: APA/dpa/Patrick Seeger

"Die Verwaltung des Nichts" von Martin Walser: Weiße Schatten werfen

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Sprache, die Fülle des Lebens: Martin Walsers Aufsätze "Die Verwaltung des Nichts".

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Sprache, die Fülle des Lebens: Martin Walsers Aufsätze "Die Verwaltung des Nichts".

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Was wäre Günter Grass, wenn er nicht zugleich der begnadete Zeichner wäre? In welchem Maße vollständig wäre unser Bild von Martin Walser, wenn er nicht nebenbei auch der leidenschaftliche Leser, der Vermittler Hölderlins, der Verehrer Robert Walsers, der Verdeutlicher Nietzsches wäre? Nur nebenbei?

Es ist eines der Charakteristika des Essayisten Walser, dass es ein Nebenbei bei ihm nicht gibt, dass er aus jeder Nebensache zugleich eine Hauptsache macht, dass er seine Themen in gleichem Maße aus seinem Leben und das heißt: aus seiner gegenwärtigen Gemüts- und Geistesverfassung filtriert. So liest man denn auch diesen neuen Essayband nicht als für sich stehende Aufsätze über dieses und jenes, sondern als ein erkenntnisorientiertes Kompendium, als ein Tage- und Logbuch des eigenen Denkens, das in allem, worüber es Auskunft gibt, auch zugleich über seinen Verfasser Auskunft gibt.

Tage- und Logbuch

Nirgends wird diese Standortbestimmung in eigener Sache besser deutlich als in Walsers Rezension über den Briefwechsel zwischen Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder. Dass nicht der "besinnlich milde Dichterprotestant", der "ewig liedbereite Hanseat" Schröder im Vordergrund stehen wird, sondern der "seine Einsamkeitskraft" ausbildende, nie eine Autorität über sich duldende Borchardt, ist von vorneherein klar. Die Ähnlichkeiten liegen auf der Hand: Ebenso wie man zu seiner Zeit den streng konservativen und in seinen Urteilen doch wieder völlig unberechenbaren Borchardt meist missverstanden hat, entzieht sich Walser jedem Schubladen-Denken. Und auch darin spricht Walser pro domo: Wenn er Borchardts "Ästhetik der Notwendigkeit" hervorhebt, die Forderung, dass jedes Kunstwerk die Notwendigkeit ausdrücken müsse, aus der es entstanden ist. Dass Walser dennoch diese so grundverschiedenen Charaktere Schröder und Borchardt auf einen äußerst fruchtbaren Nenner bringen kann, in seiner kaum spürbaren Ironie doch wieder auf Distanz zu dem stets pathetisch hochfahrenden Borchardt geht und sich auf die Seite des im "Äußerungsfuror" des anderen fast untergehenden Schröder schlägt, auch dies ist typisch Walser oder besser gesagt: typisch Walsersches Harmoniebedürfnis.

Walser der polternde Querdenker, der alemannische Dickschädel, der "wütige Volkstümler", als den ihn der untadelige Ehrenmann Peter Glotz etikettiert hat? Man lernt hier einen Walser kennen, der Gegensätze nicht schafft, sondern sie aufzulösen versucht: Einen Elegiker, der seine Enttäuschungen über den Zeitgeist benennt und sein Glück in der Sprache und in der Dichtung sucht. Da ist die Liebeserklärung an seine Gegend und die "Zärtlichkeit" ihrer Hügel, an das Leben und Wohnen am Bodensee, dem "bedeutendsten aller Eiszeitgeschenke", an das Schwimmen als schwebende Bewegung und etwas "Nirgendwohingehöriges". Da ist dieses wunderbar ungeschützte Geständnis, dass er vielleicht mit der Gegenwart noch nie etwas habe anfangen können. "Sie hat immer erst Vergangenheit werden müssen." Da ist die Liebeserklärung an die Musik im Allgemeinen und an Richard Strauß, seine "Frauenstimmen-Vollendung" und den Textdichter Hugo von Hofmannsthal im Besonderen. Und auch dies klingt pro domo gesprochen: Das aufgegriffene Hofmannsthal-Wort "Wer leben will, der muß über sich hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß sich vergessen."

Bei Walser heißt dieses Verwandeln schreiben, die Wirklichkeit umschreiben, das Unsägliche erträglicher werden zu lassen, es so darstellen, dass es einen "weißen Schatten" wirft. Ob Autor oder Leser - jeder "hat nichts, was ihm so eigen ist wie seine Sprache. Die Bewußtseinsbewegung der Lebens, der Lebensandrang, die Stimmungsfülle, das Daseinsgefühl."

Daseinsgefühl

Man darf daran zweifeln, ob diese Spezifika, die Walser jedem Menschen in gleichem Maße zuspricht, tatsächlich noch vorhanden sind, ob das Diktat der Medien überhaupt noch eine individuelle Sprache zulässt. So spricht denn Walser auch hierin in erster Linie von sich selbst. Gerade das "Daseinsgefühl" ist es, was man in diesen Aufsätzen spürt, und jene "Verwaltung des Nichts", die Arbeit des Schriftstellers nämlich, offenbart sich aufs Schönste als die Fülle des Lebens.

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