7083300-1994_07_06.jpg
Digital In Arbeit

Weitaus mehr Menschen könnte man heute zu Hause betreuen

19451960198020002020

1994 - Jahr der Familie: Ein Anlaß zu bedenken, daß der Umgang mit alten, manchmal hilfsbedürftigen Menschen Prüfstein der Familienkultur ist.

19451960198020002020

1994 - Jahr der Familie: Ein Anlaß zu bedenken, daß der Umgang mit alten, manchmal hilfsbedürftigen Menschen Prüfstein der Familienkultur ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Es kann nicht oft genug betont werden, daß das Alter an sich J ein vöüig normaler Lebensabschnitt ist und daß ein gesunder Senior weder „automatisch" dement („senil"), verwirrt, gebrechlich, ausgezehrt, behindert, noch „schwach" oder siech ist; solche Menschen sind selbständig und oft auch noch sehr aktiv und lebensbejahend, sie benötigen an sich keinen Pflegeplatz und kaum fremde Hilfe.

Allfällige famihäre Spannungen beruhen hierbei meist auf psychologischen Faktoren, wie zum Beispiel mangelnder Respektierung von ge-nerationsbeding^en Auffassungsunterschieden. Die Situation ändert sich jedoch schlagartig, sobald Krankheiten im Alter auftreten.

Es ist allerdings ein Paradoxon, daß die Normalität die Ausnahme von der Regel der hohen Erkrankungswahrscheinlichkeit und -häu-figkeit im Alter darstellt: hieraus ist ja der fundamentale und fatale Irrtum der Gleichsetzung von Alter und Krankheit erwachsen! Akute und chronische Erkrankungen, die leider meist mehrere Organsysteme gleichzeitig betreffen (Multimorbidität), können bei Senioren sehr oft zu schweren körperlichen Behinderungen (zum Beispiel durch Herz-, Kreislauf- und Stoffwechsel-Leiden, Läsionen des Bewegungsapparats...) und geistig-psychischen Störungen (vor allem durch Hirn- und Himge-fäßaffektionen)' führen; auch die Sturz- und Unfallanfälligkeit mit folgenschweren Verletzungen nimmt zu. Fälschlich als „senil' apostrophierte Symptome sind also krankheits- und nicht altersbedingt.

Die inhärente seelische Kränkimg über diesen Zustand bewirkt eine weitere Verschlechterung. Der Senior wird zum geriatri-schen Patienten oder gar zum „Pflegefall" (welch' abschreckende amtliche Bezeichnung!), zum eigentlichen Prüfstein für die Familie. Eine allenfalls nötige Hospitalisierung kann nur Akutprobleme abdecken, nicht aber die Erfordernisse einer längerdauernden oder ständigen Pflege- und Behandlungs-bedürftigkeit. Jetzt wird die Familie hautnah mit der unausweichlichen Frage der wahren Einsatzbereitschaft konfrontiert. Und hier scheiden sich nur allzuoft die Geister:

Ein leider immer häufiger anzutreffendes Reaktionsmuster ist die panikartige „Abschiebung" in Pflegeinstitutionen. Die Triebfeder hier-ftir hegt oft nicht im Unvermögen zur Betreuung, sondern in der Sorge, etwcis von den eigenen Bequemlichkeiten, vom gewohnten Lebensstandard, von der kostbaren Freizeit einzubüßen. Man will sich nicht belasten, selbst wenn eine häusliche Pflege möglich wäre. Aber auch rein materielle Motive wie das Spekulieren auf Sparbücher, Wohnung und sonstiges Besitztum können in demaskierender Weise zutagetreten.

Das schlimmste jedoch, was man einem alten und hilflosen Familienmitglied antun kann, ist die Reduktion oder völlige Einstellung aller Besuche: Das ist seelische Grausamkeit! Von seinen vermeintlich hebenden Angehörigen, von Kindern, Ehegatten im Stich gelassen, geht gerade der am meisten trostbedürftige Mensch durch eine Hölle der Verlassenheit, der Vereinsamung und Verzweiflung; manche bekommen überhaupt keine Besuche mehr. An dieser psychischen Verelendung, welche die körperlichen Leiden übersteigt, zerbrechen viele endgültig. Noch nie waren hingebende Pflege, ärztliches Gespräch, „Seel-Sorge", so sehr gefragt wie jetzt. Keine noch so gute medizinische Betreuung kann das psychosoziale Manko ausgleichen.

Gott sei Dank gibt es viele Familien, die genügend Verständnis, Verantwortungsgefühl, Geduld und Opferbereitschaft aufbringen, um ihren behandlungs-, hilfs- und pflegebedürftigen alten Angehörigen ein derartiges Schicksal zu ersparen, um sie nicht zum „Ausländer" werden zu lassen; Familien, die willens und in der Lage sind, zu teilen, auf manche Annehmlichkeiten zu verzichten, Belasttmgen auf sich zu nehmen und sich persönlich zu engagieren; Kinder, die sich auf ihre Pflichten gegenüber den Eltern besirmen und das Gute vergelten, das sie von ihnen erfahren haben; Ehegatten, die ihre Liebe wirklich unter Beweis stellen; Angehörige, die diesem Namen alle Ehre machen.

Sie werden die Bedürfnisse der kranken Senioren zu erfüllen trachten, sie in die Familie zu integrieren suchen, sie zu Hause pflegen und ärztlich versorgen lassen, solange dies möghch und medizinisch vertretbar ist. Und wenn eine stationäre Aufnahme in einer Pflegeeinrichtung unvermeidlich geworden ist, werden sie sie dort durch persönliche Gegenwart und Zuspruch weiter umsorgen, tröstliche und hoffnunggebende Liebe bis zum Lebensende ans Krankenbett herantragen. Im übrigen muß ein Pflegeheim-Aufenthalt gar nicht unbegrenzt sein; dank der Erfolge der modernen Altersheilkunde nimmt die Zahl der in häusliche Pflege entlassungsfähigen Patienten zu, besonders in Wien. Das soziale Netzwerk ist gut geknüpft, wenn dann nur die Familie mitmacht!

NORMALER LEBENSABSCHNIH

Die menschhche Gesellschaft darf keinen der drei elementaren Teile ihres Lebensbaums - Kindheit und Jugend, Erwachsenenalter und Alter - vernachlässigen, will sie nicht als Einheit Schaden erleiden und moralisch verkommen. Die durch medizinische und soziale Maßnahmen und vor allem durch die Kraft der intakten Familien erreichbaren Ziele für geriatrische Patienten sind realistisch: Chancenwahrung auf Besserung oder möghchst lange Erhaltung einer erträglichen Lebens- und Pflegequalität und vor allem die Sicherung des seelischen Beistands.

Diese Situation bietet für die Familie und jedes einzelne ihrer Mitglieder die einmalige Gelegenheit, eine große Herausforderung anzunehmen, die Liebe als „Tat-Sache" auszuüben und ganz konkret jenes Maß anzulegen, an dem wir alle gemessen werden: am Verhalten gegenüber dem Nächsten, ob wir ihn gepflegt und besucht haben, wenn er alt und krank war, ob wir ihm geholfen haben, wenn er hilflos war, ob wir ihm Trost gegeben haben, wenn er ihn am notwendigsten gebraucht hat. Es ist eine urmiittelbare Begegnung mit der ganzen Wucht des Evangeliums! Und an dieser Frage werden die Familien, die Gesellschaft und jeder einzelne Mensch scheitern oder auferstehen.

Der Autor ist

Universitätsprofessor für Innere Medizin und Geriater in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung