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WEIZEN FÜR 64 FELDER

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Die teuerste Erfindung der Welt war zweifellos das Schachspielt — das heißt, wenn wiir der Legende von Sissa Ibn Dahir und den Weizenkörnern trauen können. Der Name Sissa Ibn Dahir ist nur wenigen Menschen bekannt, und es ist auch mehr als zweifelhaft, ob dieser indische Weise wirklich gelebt hat oder nicht erst zugleich mit der Legende geboren wurde. Weit bekannter ist das verblüffende Rechenexempel mit den Weizenkörnern, das auf ihn zurückgeführt wird, und das die sogenannte „geometrische Progression“ veranschaulicht:

Man legt auf das erste Feld eines Schachbrettes ein Weizen- kom, auf das zweite zwei, auf das dritte vier, auf das vierte acht Körner und so weiter — jeweils die doppelte Körnerzahl des vorhergehenden Feldes. Wenn die Felder zu klein sind, kann man die Körner natürlich auch außerhalb des Brettes aufhäufen. Die Frage lautet: wie viele Körner benötigen wir, um alle 64 Felder des Schachbrettes auf diese Weise mit Weizen zu bedecken?

Die Antwort lautet: zwei hoch vierundsechziig minus eins — und das ergibt rund 18 Trillionen Körner (eine Trillion schreibt sich mit achtzehn Nullen). Die Weltweizenernte beträgt im Jahresdurchschnitt 250 Millionen Tonnen, das sind 250 Milliarden Kilogramm oder 250 Bil lionen Gramm. Es wären also rund zehntausend Welt- weizenemten erforderlich, um auf diese Weise die

Schachbrettfelder zu bezahlen — aber genau diese Forderung soll Sissa Ibn Dahir gestellt haben, als der König, für den er das Schachspiel erfand, ihm unbedingt ein Honorar aufdrängen wollte. Als Sissa dann seinen Wunsch vorbrachte, lachte der König zunächst spöttisch, rief seinen Getreideverwalter und gab ihm die Weisung, diesen bettlerhaften Wunsch zu erfüllen. Aber nach wenigen Minuten stand der Verwalter mit schreckgeweiteten Augen vor seinem Herrn und stammelte, alle Speicher wären leer, wenn man auch nur die erste Hälfte der Schachbrettfelder so honorieren wollte.

Das ist die bekannteste, aber keineswegs die einzige

Legende von der Erfindung des Schachspiels. Außer Sissa Ibn Dahir wurde diese Erfindung noch zahlreichen legendären oder auch historischen Gestalten, Männern wie Frauen, zugeschrieben. Wir finden darunter die Königin von Saba, den griechischen Weisen und Gesetzgeber Solon, den Perserkönig Xerxes, den chinesischen General Han Sing, den Helden Odysseus und den türkischen Räuberhauptmann Uskokes, ja sogar Moses, und selbst Zeus, den Herrscher über Götter und Menschen.

Wenn wir aber versuchen, uns durch die Vielfalt der Legenden und Anekdoten durchzukämpfen zur historischen Tatsache, dann ist das Resultat eher bescheiden. Sicher ist, daß das Spiel aus Persien und dem Nahen Osten zu uns kam, wo es um das Jahr 900 bereits bekannt war. Höchst wahrscheinlich ist, daß die eigentliche Heimat des Schachspiels Indien ist und einigermaßen wahrscheinlich ist, daß es aus einem Vier-Personen-Spiel namens Tschaturange hervorgegangen ist, bei dem je zwei Partner zusammen spielten — ähnlich wie etwa heute beim Bridge.

Aus dem Wort Tschaturange hat man auch das Wort „Schach“ abzuleiten versucht, alber dieser Versuch ist allzu gewaltsam, denn die etymologische Lösung liegt geradezu auf der Hand — und ist trotzdem richtig, denn häufig sind die naheliegenden Wortbeziehunigen besonders falsch. Schach ist praktisch das gleiche Wort wie Schah und Scheich — der König, der Anführer, der Häuptling. Das Schachspiel ist das Königsspiel, und so heißt es auch in der ersten ausführlichen Anleitung, die in deutscher Sprache erschienen ist und deren Autor sich hinter dem Pseudonym Gustavus Selenus verbirgt. Es war dies Herzog August der Jüngere von Braunschweig- Wolfenbüttel, einer der gebildetsten und belesensten Herrscher des frühen 17. Jahrhunderts.

Wer aber Schach sagt, sagt auch gern matt — und hier haben wir nun den Fall, daß die naheliegende Folgerung, matt könnte etwas mit ermattet, erschöpft, zu tun haben, absolut falsch ist. Näher kommen wir der Wahrheit mit dem spanischen Matador, der ja wörtlich der Töter, der Schlächter ist, denn „matar“ heißt schlachten, umbringen. Vielleicht haben wir es hier mit einem arabischen Einfluß zu tun — sicher ist, daß unser „matt“, unser Schach-Matt nämlich, ebenso' wie das Wort Schach selbst, sich direkt aus dem Arabischen ableitet: „mat“ heißt „tot“ — „esch-schach mat“

— „der König ist tot“.

Das Arabische hat aber auch noch eine große Überraschung für uns bereit. Wenn wir nämlich im Wörterbuch nachblättern, wie die Dame auf arabisch heißt, dann finden wir „Uässir“, und wenn wir dann ein wenig nachdenken, kommen wir darauf, daß wir es ja mit dem Wesir, dem Vertrauten und höchsten Beamten des Schah zu tun haben — einer sehr bedeutenden Persönlichkeit, zweifellos, aber doch unweigerlich mit einem Mann. Tatsächlich war diese Figur im Orient stets ein Mann und erst im Abendland, als das Schachspiel durch Kreuzfahrer und Botschafter hier bekannt geworden war, fand die Geschlechtsumwandlung des Wesirs zur „Dame“ statt.

Hand in Hand mit diesem Ges chlechtsw andel ging aber auch ein enormer Machtzuwachs. Der morgenländische Wesir war nämlich in seiner Machtvollkommenheit sehr beengt. Er genoß nur die Hälfte dier Rechte des Königs und war daher eine der schwächsten Figuren auf dem Brett. In Europa aber wurden kurz nach der Einführung des Schachspiels die orientalischen Regeln abgeändert und das Spiel dynamischer gestaltet — und dabei kam es zu einem Machtzuwachs für die Läufer, vor allem aber für den Ex-Wesir, die nsuge- Echaffene Dame.

Dynamischer wurde das Schachspiel im Abendland auch in anderem Sinne. Wenn wir nämlich mittelalterliche Schilderungen lesen, dann sind wir fast versucht zu denken, Schach sei so etwas Ähnliches gewesen wie Säbelfechten oder ein Turnier. Immer wieder ist von Mord und Totschlag die Rede: In einem kürzlich erschienenen Büchlein über die Kulturgeschichte des Schaches lesen wir unter anderem:

Ein bayerischer Prinz namens Qtkar soll von einem Sohn Pippins erschlagen worden sein — die Historiker freilich (haben diesen Otokar niemals nachweisen können.

Der Dänenkönig Knut der Große, gestorben im Jahre 1035, soll — so berichtet Snorri Sturlusons „Heimskringlasaga“ — mit seinem Schwager Ulf Schach gespielt und verloren haben; aus Grimm ließ er wenige Wochen darnach, seinen Schwager in einer Kirche erschlagen. — Auch die Figuren selbst waren groß und schwer genug, um als Waffen dienen zu können: Richard Ohnefurcht, Herzog von der Normandie, erschlug zwei Soldaten des Königs, die ihn während einer Schachpartie verhaften sollten, mit Hilfe eines Turms und einer Dame.

Trotzdem — oder vielleicht gerade deshalb — war das Schachspiel eine beliebte höfische Vergnügung, und etwa vom zwölften bis zum fünfzehnten Jahrhundert mußte jeder Ritter auch ein guter Schachspieler sein — um so mehr, als ihm dieses Spiel zuweilen eine günstige Gelegenheit bot, mit der Angebeteten allein zu sein. Denn damals spielten Damen viel häufiger Schach als heute und unterrięhteten oft sogar die Männer in diesem Spiel. In der Manessischen Liederhandschrift finden wir eine oft reproduzierte Darstellung „Arabei lehrt Willehalm das Schachspiel“, ein französisches Vers- epos heißt: „Das Schachspiel der Liebenden“ und ein Wandteppich in einem Basler Museum zeigt eine Liebeslaube mit schachspielendem Pärchen.

Eine der rührendsten Schachanekdoten hat gleichfalls eine Frau als Hauptperson und Schachmedsterin. Es handelt sich dabei um die edle und kluge und überdies noch märchenhaft schöne Dilaram, die Lieblingsfrau des persischen Fürsten Dilruiba. Dilruba war ein leidenschaftlicher, aber nicht allzu guter Schachspieler, und eines Tages setzte er starrköpfig immer wieder gewaltige Summen als Spieleinsatz — denn im Orient und im mittelalterlichen Europa pflegte man beim Schach hohe Einsätze zu riskieren — und als all sein Vermögen dahin war, setzte er bei der allerletzten Partie seine geliebte Dilaram aufs Spiel. Doch auch diese Partie neigte sich einem bösen Ende zu, und schon sah Dilruba mit Entsetzen, daß er nun auch noch Dilaram verloren hatte. Doch Dilaram hatte das Spiel beobachtet, und nun rief sie ihrem leichtfertigen Ehemann zu: „O, mein Fürst! Opfere deine beiden Türme und rette Dilaram! Zieh vorwärts mit dem Pil (Läufer) und dem Bauern und dann setz’ ihn mit dem Springer matt!“

Im frühen sechzehnten Jahrhundert aber begann ein meues Zeitalter des Schachspiels. Was einst eine höfische und galante Kunst und dann ein erbauliches Symbol gewesen war, wurde nun zur wissenschaftlichen Theorie, und Hand in Hand mit dieser Systematisierung des Spiels ging auch seine Modernisierung: das Spiel wurde dynamischer, Läufer und Dame vergrößerten ihren Aktionsradius. Gleichzeitig wurden die Regeln verbindlich festgelegt und jene Auswüchse abge stellt, die im dreizehnten Jahrhundert sichtbar wurden, als der König von Kastilien, Alfons der Zehnte, der Weise, unter anderem ein Super-Schach beschrieb, daß außer den uns geläufigen Figuren noch einige exotische Tiere einführte, darunter das Krokodil.

Die iberische Halbinsel war aber auch im sechzehnten Jahrhundert wieder führend im Schachspiel. Der Portugiese

Damiano de Odemira konstruierte die ersten modernen Schachprableme, und am Hofe Philipps des Zweiten, jenes Philipps, den wir aus Schillers „Don Carlos“ kennen, wirkte Ruy Lopez de Segura, der erste große Schachtheoretiker, und bemühte sich mit sehr bescheidenem Erfolg, seinem königlichen Herrn das Spiel der Könige beizubringen. An diesen ehemaligen Dorfpfarrer aus Estremadura erinnert übrigens bis auf den heutigen Tag der Name einer der bekanntesten Eröffnungen des Schachspiels, die sogenannte „spanische Partie“, die in England sogar „Gambit des Ruy Lopez“ heißt.

Im siebzehnten Jahnhundert war vor allem Italien die Hochburg des Schachspiels. Hatte hier einst der Mönch Jacopo de Cessolis seine Schachpredigten verfaßt und später Girolamo Vida sein Hexameter-Epos vom schachspielenden Zeus und der Nymphe Scacohis gedichtet, so war es nun der Bauernsohn Giacchino Greco aus Kalabrien, der von sich reden machte. Er hatte keine Schuleraiehung genossen, alber das Schachspiel gelernt, das er bald bis zur Meisterschaft beherrschte — und diese Kunst brachte ihm nicht nur das Wohlwollen von Kardinalen und Herzogen ein, sondern machte ihn in Kürze zum reichen Mann. Er reiste ins Ausland, verdiente in Paris am Hofe des Herzogs von Nemours binnen kurzem 5000 Goldstücke, die ihm freilich bald darnach die Räuber abnahmen, als er nach London weiterreiste. Aber in London setzte sich Greco eben wieder ans Schachbrett und hatte bald das geraubte Geld wieder beisammen.

Im achtzehnten Jahrhundert löste Frankreich Italien in der Vormachtstellung ab und der Ruhm Philidors strahlte in ganz Europa. Zu seinem Nimbus trug auch die Tatsache bei, daß er gelegentlich drei Partien blind spielen konnte — eine damals sensationelle Leistung, die freilich später immer mehr überboten wurde: der langjährige Weltmeister Aljechin hat bis zu 32 Sdmultan-Partien blind gespielt, Miguel Najdorf sogar noch mehr.

Das achtzehnte Jahrhundert aber bescherte der Schachwelt und darüber hinaus der gesamten zivilisierten Welt noch eine Überraschung ganz besonderer Art: die erste Schachmaschine. Ihr Konstrukteur war ein österreichischer Hofbeamter namens Wolfgang Kempelen, — ein vielseitig begabter Mann, der unter anderem auch eine der ersten Sprechmaschinen schuf: ein Gerät, mit dem sich die menschliche Stimme nachahmen ließ — die Reste davon sind heute in der Musikabteilung des Deutschen Museums zu sehen.

Die Schachmaschine war, wie ihr Erfinder bereitwillig zugab, keineswegs eine wirklich denkende Maschine, sondern ein Trickautomat — aber der Trick war so glänzend erdacht, daß jahrzehntelang niemand nachweisen konnte, wie die Maschine funktionierte. Der Automat bestand aus einem Kasten mit Schachbrett und einem dahinter sitzenden Türken mit langer Pfeife — und dieser Automat spielte gegen jeden beliebigen lebenden Spieler und siegte fast immer. Bin Zeitgenosse schilderte seine Eindrücke folgendermaßen:

„Als ich zum ersten Male sah, wie der Erfinder seinen Türken aus einer Alkove hervorschob, und ich den großen Kasten, an dem er sitzt, erblickte, dachte ich gleich: groß genug, einen Knaben darin zu verbergen. Als der Herr von Kempelen aber gleich darauf die Türen dieses Kastens öffnete und sogar die Kleider der Figur am Rücken hinaufschlug und der ganzen Gesellschaft erlaubte, alles genau zu besehen, und ich keinen verborgenen Ort fand, der auch nur einen Hut beiherbergen könnte, so stand ich ganz beschämt und verwirrt da.“

Grund zur Beschämung bestand keiner — jahrzehntelang zerbrach sich halb Europa den Kopf und schließlich auch noch halb Amerika, als um 1830 der Regensburger Mechanikermeister Maelzel, der Erfinder des Metronoms, den Schachtürken in Amerika zeigte. Kein Geringerer als Edgar Allan Poe schrieb damals eine brillante Analyse, in der er mit feinstem kriminologischem Spürsinn nachwies, daß ent gegen allem äußeren Anschein doch ein Mensch in der Maschine verborgen sein müsse — was wohl auch tatsächlich der Fall war. Maelzel starb dann völlig mittellos in Amerika, der Schachtürke wurde von einem Gläubiger erworben und ging schließlich beim Brand eines Museums zugrunde.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat man sich allen Ernstes gefragt, ob nicht die modernen Datenverarbeiter als Schachpartner programmiert werden könnten, aber die Avissichten dafür sind nicht sehr günstig, denn die Variationsmöglichkeiten dieses Spieles sind selbst für einen elektronischen Datenverarbeiter zu vielfältig. Dagegen könnte ein solches Gerät sehr wohl Hunderte und Tausende von Meisterpartien archivieren und in Bruchteilen von Sekunden mitteilen, wie in dieser oder jener Situation einer der großen Meister reagierte.

Schach ist, zumindest vorläufig, zweifellos kein Spiel für Maschinen. Es ist aber auch keineswegs nur noch ein Spiel der Könige, wenn es auch diesen Namen weiterbehält. Wir haben schon von dem Predigtmönch Cessolis gehört und von dem Bauembuben Giacchino Greco, von dem Dorfpfarrer Lopez de Segura und dem Ex-Sängerknalben Phili- dor. Wir könnten noch viele andere Berufsstände hinzufügen

— etwa den Gymnasiallehrer Adolf Anderssen aus Breslau oder den plumpen Landedelmann Labourdonnais, den Elektroingenieur Botwinnik oder den Shakespeare-Forscher Staunton. Capabianca und Reshevsky waren Wunderkinder, Morphy und Steinitz starben in geistiger Umnachtung. Alle Berufe, alle Stände, alle Temperamente sind vertreten — wie einst auf dem symbolischen Schachbrett des Jacopo de Cessolis und seines deutschsprachigen Nachdichters, des Konrad von Ammenhausen.

Im Werner-Clasen-Verlag, Zürich, ist ein schön ausgestattetes Buch mit dem Titel „Schachkuriosa“ erschienen. Der kulturhistorisch wohlfundierte, aber trotzdem unterhaltsame Text ist von Helmut Swoboda, unseren Lesern unter dem Schriftstellernamen Helmut S. Helmar bekannt. Die Zeichnungen schuf Elisabeth Liechti. Allen Schachfreunden und solchen, die’s werden wollen, bestens zu empfehlen!

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