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Welche Wirklichkeit ist gemeint?

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Johann A. 6 o e c k nennt sein Zeitstück „Das Nest“ eine Tragödie. In dieser Titelwahl schon liegt der entscheidende Fehler seines Vorhabens. Er wahrt wohl die klassischen drei Einheiten der Zeit, des Orte und der Handlung, aber zwischen den gegebenen Möglichkeiten, seinen „halben Helden“, einen zum KZ-Kommandanten ernannten Mitläufer des NS-Regi-mes, zum über die Zeit hinaus gültigen Exemplarfall zu machen oder ihn ganz tinfach aus dem Milieu heraus zu erklären und sein Tun dadurch zu relativieren, bleibt der Autor in der Mitte stehen. Das nimmt dem Bühnengeschehen wie den Figuren ihre Wirklichkeit, die das Geheimnis jed^r Bühnenwirksamkeit ist. Der Abend der Aufführung ist zwar nicht eben lang. Aber man schwankt ununterbrochen in seiner Empfindung: Ist das nun eine in Einzelbeobachtung und Einzelerkenntnis bemerkenswert sichere Zeitdeutung der NS-Herrschaft, der nicht nur der Kommandant samt seiner Familie, der sich neben dem Grauen eines Todeslagers ein familienidyllisches „Nest“ bauen will, zugehört, sondern ebenso der willfährige Henker und SS-Arzt, der sich vor dem sicheren Ende in eine bereitstehende Versenkung verflüchtigt, wie auch die verschieden nuancierten Tretenden und Getretenen unter den Häftlingen? Oder ist das ein „besonderer“ Fall (wie Ibsen von einer „besonderen“ Wildente spricht), an dem Halbheit und gesinnungsschwache Selbsteinmauerung, sträfliche Illusion und Karrieredenken abgehandelt werden sollen? Am Ende bleibt selbst in der Schlußszene alles unentschieden. Hat die reichlich pathetische, der drängenden Bühnensituation nicht achtende Gerichtsrede des zwielichtigen Häftlingskapos mit dem symbolträchtigen Namen Hermes das letzte Wort oder doch der kolportagehafte Schluß mit zu früh eingetroffenem Liquidierungskommando, dem auch der Held, halb den Tod suchend, zum Opfer fällt?

Ob der Autor selbst die Antwort auf diese den Wert des Stückes entscheidende Frage wußte, bleibt unbekannt. Ganz sicher wußte sie der Regisseur der Aufführung des Volkstheaters, Georg L h o t z k y, ebensowenig wie der Bühnenbildner Rudolf Schneider-Manns-Au. Sonst hätte der Spielleiter nicht jeden im Dialog zwar spärlich, aber doch vorhandenen Ansatz zur psychologischen Vertiefung sofort überdeutlich gemacht und damit karrikiert, der Bühnenbildner wenigstens versucht, die eigentliche Welt des Nswf s. .jfl^glaubhaft-zu-machen- daß- man die Kulisse des Todes wirklich als ein konsequentes Draußen empfinden kann. Joseph Hendrichs konnte in der Hauptrolle seine große Fähigkeit, innere Spannung glaubhaft darzustellen, zu sehr wirksamer Geltung bringen. Die Schauspieler versuchten, so ihnen die Regie dazu Zeit ließ, manches Eigenpersönliche hinzuzufügen. Überzeugend gelang die nur Hans R ü d g e r s in der Episodenrolle des jüdischen Arzthäftlings.

Martin Walser, der deutsche Romancier, dessen erste dramatische Dichtung das Kleine Theater der Josefstadt an den Beginn seiner Spielzeit setzte, hat zwar auch noch nicht bewiesen, daß er den Atem für ein abendfüllendes Werk besitzt. (Man wird das nach einer bevorstehenden Aufführung von „Eiche und Angora“ beurteilen können.) Aber er hat sich bei diesem seinem wohlgelungenen Gesellenstück wenigstens von Anfang an für eine bestimmte Form der Wirklichkeit entschieden. Sein wirtschaftswunderlicher Direktor Huber, den der „Abstecher“ zu einer alten Geliebten und auf diesem Umweg statt in ein erotisches in ein lebensgefährliches Abenteuer führt, gehört in die gleiche Wirklichkeitsdimension wie sein Brechtscher Ahnherr Puntila. Und der Lokomotivführer Erich, Ehemann besagter Freundin, ist der Klassengenosse des Knechtes Matti. Nur, daß die beiden „Sauberen“ die Verbrüderung der opportunistischen Jämmerlichkeit hier schon vor dem gemeinsamen Alkoholrausch beschließen. Auf der Strecke bleibt der Mensch, der mit seiner Substanz und Selbstachtung die Zeche der Wohlstandsfreundschaft zu bezahlen hat. Sigrid Mar-q u a r t gab dieser Figur ihre faszinierende, von keiner anderen Wiener Schauspielerin erreichte Eigenart, im Angedeuteten, Nebenhergesagten eine ganze Innenwelt kenntlich zu machen. Auch Rudolf R ö s n e r und Klaus L ö w i t s c h (dieser besonders echt als später Woyzeck-Nach-fahr in der Chauffeurmontur) erfaßten diese Ebene doppelbödiger Wirklichkeit mit richtigem Instinkt. Carl Bosse war hier weniger zu Hause. Sein „Direktor“ bewegte sich vom Schwank höchstens zum Kabarett. Ob es Heinrich Schnitzler, dem rührend-demütigen Liebhaber der nicht verfremdeten Wirklichkeit, viel Freude gemacht hat, dieses Stück zu inszenieren? Da war er schon eher bei der kleinen Groteske „Das Photo“ des Spaniers Ramon J. Sender in seinem eigentlichen Element. Allzusehr im Schnitzlerischen übrigens. Denn hier wurde entschieden zuviel getupft und nuanciert. Dei makabre Schlußeffekt dieses schwarz-humorigen Stücks von der Selbsthilfe einei um ihre Lebenserfüllung betrogenen Spanierin, die in - Ehebruch samt }Aq?d besteht, ging1 solcherart fast verloren. Interessant Alfred Böhm als schwacher'Gatte, in allen Facetten wirkungssicher, überaus und unheimlich sicher Helly S e r v i.

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