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Welche Wirklichkeit stimmt?

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So nahe uns auch die Zeit Ferdinand Raimunds mit ihrem nicht einmal anderthalb Jahrhunderte großen Abstand sein mag: wir wissen nur sehr wenig von dem, was die Menschen damals wirklich geglaubt haben, wie sich in ihrem Bewußtsein die Wirklichkeit schichtete. Raimunds Realismus ist nicht einfach nur das derb-diesseitige Widerspiel zu einer übrigens jedes auch nur annähernd christlichen Symbols entbehrenden „Oberwelt“ der Feen, Genien und leibhaftig zitierten klassischen Götter. Die Einteilung des mittelalterlichen Theaters mit ihrer strengen Scheidung der Welten und Sphären würde diesem Kosmos kaum gerecht. Raimund ist Kind einer transzendentalen — also nur auf das eigene Bewußtsein reflektierenden — Zeit. Alles ist also in ihm selbst beschlossen und beheimatet. Seine „Gefesselte Phantasie“ ist, wie etwa auch der „Alpenkönig“, Dialog mit sich selbst, Klärungsversuch der eigenen dichterischen Existenz. Raimund ist Nachtigall, der Harfenist aus Wien mit dem Mutterwitz und der Vorstadtpoesie, aber er will zugleich immer ein anderer sein: Amphio, der arkadische Schäfer, mit seiner glatten Blumensprache. Schulze hieß der Mann, der im Biedermeier einen Roman über die süßliche Liebesgeschichte zwischen der Königin Hermione von Flora und ihrem Anbeter schrieb. Raimund bewunderte dieses billige Werk in rührender Weise.

Er war auf der Suche nach dem Schulze in sich selbst. So wurde das Werk eines der erschütterndsten Dokumente österreichischer Dichterexistenz: die unaufhörliche Setzung und Durchstreichung des eigenen Wesens, die selbstquälerische Sucht, das zu sein, was man nicht ist, und das zu verneinen, was man in Wirklichkeit darstellt. Das alles wäre in einer transparenten, keinesfalls nur historisierenden, aber dem Zeitstil getreuen und daher behaglich detailmalenden Inszenierung zum Ausdruck gekommen. Vom Burgtheater, das ja mit Recht diesen bühnenschwächeren Raimund in seinen Zyklus zu Ehren des Dichters aufnahm, hätten wir eine solche wohl vorbereitete, durchdachte und exemplarische Inszenierung erwartet. Sie kam nicht. Hans T h i m i g ist ein Schauspielerregisseur. Er sieht den jeweils einzelnen, nicht das Gesamtwerk. So standen die .Menschen beziehungslos in verschiedenen Stilarten nebeneinander. Raimundschen

GSÄridH:?« ™vl^to.Jarfe^J!ffi, Tri im ig als Nachtigall. Hugo Uotts c.h,l i ch und Hanns O b o n y a mühten sich mit Mitteln der hier etwas deplacierten Groteskkomik um die „Zauberschwestern“. Sonja S u 11 e r und Wolfgang Gasset bewahrten ihr Liebespaar aus der Feenwelt vor allzu süßlichem Kitsch. Johanna Matz blieb der Phantasiegestalt fast alles an Inspiration „von oben“ schuldig. Das, was die Aufführung zur künstlerischen Einheit hätte zusammenhalten sollen, wären die Bühnenbilder Oskar Kokoschkas gewesen. Gerade sie aber machten die Wirrnis völlig. In jedem Farbton (dem Rot vor allem), jedem Pinselstrich ist dieser vitale Expressionist ein Nein zu Raimund. Was hat man beiden Künstlern angetan, als man sie zusammenspannte!

Auch die Wirklichkeit, an die der Schlesier Gerhart Hauptmann glaubt, ist nicht nur die vordergründig-dreidimensionale des Naturalismus. In seinem „Fuhrmann Henschel“, den das Theater in der Josefstadt in einer sehr bemühten und gründlich vorbereiteten Aufführung als Gedenken zum 100. Geburtsjahr des Dichters präsentierte, sollen ja nicht nur die Dinge selbst, sondern auch die Dimensionen hinter den Menschen und Dingen sichtbar werden. Der oft gemachte Fehler liegt nun darin, diese Hintergrundwirklichkeit als „Symbolik“ zu deuten. Gerade das ist sie eben nicht. Das Symbol zielt auf die Allgemeingültigkeit, die Abstraktion. Hauptmann ist nicht gewillt, irgendeine Abr straktion, ein Prokrustesbett für seine Gestalten anzuerkennen. Für ihn gibt es nur den einzelnen, den „Ausgesetzten“, den von allem Anfang Verlorenen, weil ihm die „Schlinge“ gelegt ist, weil er die Hölle gegen sich weiß. Und die Hölle, das sind für jeden „die Anderen“. Von dieser individuellen Dimension, diesen Schattierungen der Hauptgestalten war in Franz Reicherts um Symbolwirkung bemühter Inszenierung wenig zu spüren. Eine Schauspielerin, wie Sigrid Marquardt, bringt eine Neigung und Disposition für diesen etwas zu verdichteten und konturierten Stil mit. Ihre Hanne Schäl paßte daher in das Konzept am besten. Jochen Brockmann war in den ersten Akten auf dem besten Wege, sich einen gewissen, von der Manier bedrohten Hang zum Monumentalen und Stilisieren abzugewöhnen und sehr persönlich zu charakterisieren. Aber zum Ende zu verleitete ihn die Inszenierung zu einem Rückfall. Sofort wurde alles blässer und uninteressanter. Der Schluß bedeutete keine Steigerung mehr. Der Fuhrmann Henschel präsentierte und erklärte sich selbst als ein Zeitschicksal. Das aber ist nicht Hauptmann, sondern bestenfalls Ibsen. Er hätte einen Menschen spielen sollen, der die Gespenster und Dämonen wirklich „sieht“, nicht nur über sie erklärende Vorträge hält. Wie man so etwas vollendet macht, zeigte Angelika H u r w i c z in der kleinen, tragenden Rolle der sterbenden Frau, Henschel. Von den Darstellern gefielen Uns die < am besten, die aus eigener Substanz schöpfen^ und'sich zumindest naturalistisch, wenn schon auch nicht immer ganz „Hauptmannisch“ auszuspielen vermochten: Emil Feldmar (Hauffe), Gertraud Jesse-r e r (Franziska), Sieghard R u p p (Georges). Über das Gewohnte hinausragend, der mit sparsamsten Mitteln ungemein präzis charakterisierte Siebenhaar (Robert D i e 11). Roman ,W e y I s Bühnenbild gehorchte der symbolistischen Auffassung der Regie.

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